EWR 6 (2007), Nr. 2 (März/April 2007)

Andreas Wernet
Hermeneutik – Kasuistik – Fallverstehen
Eine Einführung
(Grundriss der Pädagogik / Erziehungswissenschaft Bd. 24)
Stuttgart: Kohlhammer 2006
(207 S.; ISBN 3-17-018058-4; 18,00 EUR)
Hermeneutik –  Kasuistik – Fallverstehen Die Einführung von Andreas Wernet gehört als Band 24 zu der Reihe „Grundriss der Pädagogik/Erziehungswissenschaft“, die von Werner Helsper, Jochen Kade, Christian Lüders und Frank-Olaf Radtke herausgegeben wird. Zu erwarten ist ein auch für Anfänger verständlicher Überblick über die erziehungswissenschaftliche Bedeutung der Hermeneutik unter besonderer Berücksichtigung kasuistischer Zugänge. Dieser sich durch Titel und Verlagsreihe eröffnende Horizont wird nur bedingt erfüllt. Die Darstellung ist wissenschaftssystematisch und durch eine Reihe von Fallbeispielen sehr verständlich, aber sie gibt insofern keinen Überblick als ihr Zugang ein stark programmatischer ist. Der Autor vertritt den Ansatz einer rekonstruktiven Kasuistik, die in der Tradition der Objektiven Hermeneutik nach Ulrich Oevermann steht und als Wirklichkeitswissenschaft den Ausführungen Max Webers folgt. Daraus ergibt sich ein recht enger hermeneutischer Zirkel, der allerdings konsequent durchgehalten wird.

Der Prolog konstituiert den Zugang zur „Hermeneutik im Zeichen einer zweiten ‚realistischen Wende’“. Bekanntlich hat Heinrich Roth 1962 die erste realistische Wende verkündet, worauf Andreas Wernet kurz eingeht. Schwerpunktmäßig bezieht er sich aber auf Wolfgang Brezinkas Programmschrift: „Von der Pädagogik zur Erziehungswissenschaft“ von 1971, die sich jedoch viel stärker von einer geisteswissenschaftlichen Tradition ablöst, als dies Heinrich Roths Anliegen war. Wernet zeigt auf, dass Brezinkas wissenschaftlicher Positivismus zu einer „Gegenüberstellung empirischer und hermeneutischer Methoden und Verfahren“ (15) geführt hat. Die Hermeneutik habe ihren Teil zu dieser Gegenüberstellung beigetragen, insofern sie sich auf die interpretative Begleitfunktion quantitativer Forschung beschränkt habe. Durch die zweite realistische Wende aber wird die Hermeneutik selbst empirisch: „’Realistisch’ ist diejenige Forschung, die sich den Phänomenen der Wirklichkeit der Erziehungsprozesse in verstehender Absicht zuwendet“ (18). Die Lektüreempfehlungen zu diesem Prolog (die auch zu allen Kapiteln erfolgen) repräsentieren den methodologischen Diskurs der 1960er und 70er Jahre. Es wird zwar erwähnt, dass sich in den letzten 20 Jahren ein „interpretatives Forschungsverständnis auf der Basis eines wirklichkeitswissenschaftlichen Forschungsprogramms“ (8) entwickelt habe, doch bleiben hier die unterschiedlichen Strömungen unbenannt. Zusammen mit den historischen Lektüreempfehlungen könnte zumindest der unbedarfte Leser auf die Idee kommen, es würde jetzt erst das Programm einer Verbindung von Hermeneutik und Empirie entfaltet. Die weiteren Kapitel verstärken zudem den prologischen Eindruck, die Hermeneutik hätte erst mit dem Forschungszugriff einer rekonstruktiven Kasuistik zu einem erziehungswissenschaftlich sinnvollen Selbstverständnis gefunden.

Kapitel 1 gliedert sich in zwei Unterpunkte und ist „Methodologischen Verortungen“ gewidmet. Der erste Unterpunkt beschreibt das Konzept der Wirklichkeitswissenschaft und zwar in der erziehungswissenschaftlich notwendigen Spannung zwischen begrifflich Allgemeinem und individuell Besonderem. Dahingehend habe der Positivismus, vertreten durch Comte und Popper, den Empiriebegriff auf die mathematisch vermessende Ausrichtung auf allgemeine Gesetzmäßigkeiten verkürzt und das Individuelle zum bloßen Exemplar des Allgemeinen degradiert, was einen recht fragwürdigen Empiriebezug darstelle (vgl. 8): Dem stellt Wernet folgende andere Wissenschaftskonzepte gegenüber: Geisteswissenschaften (Dilthey), Kulturwissenschaft (Rickert), idiographische Wissenschaft (Windelband) und Wirklichkeitswissenschaft (Simmel/Weber). In diesem Unterpunkt geht der Autor hauptsächlich auf Rickert und Windelband ein, denen es nicht wirklich gelungen sei, zwischen dem Problem des Allgemeinen und Besonderen zu vermitteln – u. a. deshalb, weil sie das Allgemeine mit dem Erklärend-Nomologischen gleichsetzten. Max Weber hingegen gelänge es mit seinem Konzept des Idealtypus ein „begriffliches Instrument der ‚Vergleichung und Messung’“ (31) zu schaffen, das Wirklichkeit nicht einfach zum Exemplar schematisiere. Die Wirklichkeitswissenschaft ist also die idealste Lösung, begrifflich Allgemeines und individuell Besonderes zu verbinden: „Eine verstehende wirklichkeitswissenschaftliche Forschung nimmt diese Spannung auf. Sie vollzieht sich in einer oszillierenden Bewegung zwischen Allgemeinem und Besonderem“ (32). Von der Sache und der Formulierung her spricht aus diesem Zitat Friedrich Schleiermacher – dieser bleibt allerdings bis dato unerwähnt. Passte er nicht in einen wirklichkeitswissenschaftlichen Ansatz? Im nächsten Unterpunkt: „Hermeneutik: Verstehen als Textrekonstruktion“ wird dies u.a. geklärt. Schleiermacher wird als Klassiker moderner Hermeneutik und im Rückgriff auf Primärquellen verständlich rezipiert. Gefolgert wird schließlich, dass sich von Schleiermacher ausgehend „umstandslos ein genuin hermeneutisches Interesse an alltagsweltlicher Interaktion ableiten“ (44) ließe. Dilthey habe aber erst die Hermeneutik Schleiermachers vom Kopf auf die Füße gestellt, da er von der Sinnhaftigkeit der Lebensäußerungen ausgehe (vgl. 45). Dilthey habe es allerdings versäumt, das Problem des Ausdrucks methodologisch konsequent an die Sprache zu knüpfen, sonst wäre es ihm schon gelungen der „Hermeneutik eine empirisch wirklichkeitswissenschaftliche Stellung zu verleihen“ (49). Der sprachliche Ausdruck der Lebenswelt aber sei das Protokoll, d.h. Wernet bezieht Diltheys Begriff der Objektivationen des Lebens auf Protokolle von Lebenssituationen. Im Anschluss an Diltheys lebensphilosophische Ausführungen müssten kulturelle Objektivationen einerseits aber gar nicht auf Sprache im engeren Sinne begrenzt werden, sondern würden z.B. auch Kunstobjekte bzw. Bilder/Fotos allgemein implizieren, was ja auch eine rege Bildhermeneutik zur Folge hatte. Andererseits gründen solche Objektivationen auf Erlebnissen, deren bewusste Deutung und Selbstvergewisserung nach Dilthey [1] besonders gut in Biographien und Autobiographien zum Ausdruck kommt, woraus sich ebenfalls eine hermeneutische Tradition bis heute herausgebildet hat. Beide Aspekte finden bei Wernet keine Berücksichtigung. Das Kapitel endet mit der Erläuterung dessen, was ein Fall ist. Diesbezüglich wird die dialektische Systematik zwischen Allgemeinem und Besonderem wieder durchgehalten.

Kapitel 2 und 3 folgen der gleichen Systematik. In ihnen wird jeweils anhand zweier Beispiele eine Entwicklung aufgezeigt: in Kapitel 2 die Entwicklung „von der geistes- zur wirklichkeitswissenschaftlichen Hermeneutik“. Für die erste wird beispielhaft Klafkis Interpretation von Humboldts Text zum Litauischen Schulplan (Funk-Kolleg Erziehungswissenschaft 1971) ausgewählt; für die wirklichkeitswissenschaftliche Hermeneutik das Protokoll eines ersten Schultags, interpretiert von Arno Combe (1994). Die Auswahl Klafkis als geisteswissenschaftlicher Repräsentant kann zumindest insofern hinterfragt werden, als seine in diesem Interpretationsbeispiel herausgestellte ideologiekritische Perspektive sich gerade von Ansätzen traditioneller geisteswissenschaftlicher Sinninterpretation absetzen will. Doch dieser Diskurs wird bei Wernet nicht erwähnt. Klafki dient zur Veranschaulichung eines „antiquierten und forschungsfernen Hermeneutikverständnis(ses)“ (73). Zusammenfassend wird zwar betont, dass beide Beispiele „Möglichkeiten hermeneutischen Vorgehens“ (80) repräsentieren, doch im „Unterschied zu Klafkis Interpretation trägt die Combe’sche an ihren Gegenstand kein normatives Ideal heran“ (82). Combe zeige nur, dass der in der pädagogischen Praxis selbst enthaltene Anspruch an eine freundliche, einladende und ermunternde Begrüßung nicht eingelöst wird“ (83). Solche Ansprüche gehen aber aus dem zitierten Protokoll gar nicht hervor. Wer also setzt und interpretiert solche Ansprüche und wer bewertet ihr Nichtbefolgen?

In Kapitel 3 geht es um die Entwicklung „von der illustrativen zur rekonstruktiven Kasuistik“. Als Beispiel zur ersten wird „die Wirklichkeit des Hauptschülers“ nach Konrad Wünsche (1972) gewählt, zu einer rekonstruktiven Kasuistik dient ein Beispiel nach Werner Helsper von 1996, in dem im Unterschied zu Beispiel 1 u.a. die klare Trennung zwischen Protokoll- und Interpretationsebene herausgestellt wird. Im Fazit geht es auch hier darum, dass eine rekonstruktive Kasuistik nicht Normativität an den Fall herantrage, sondern aus der Immanenz des Falls heraus erst Normativität definiert und analysiert wird.

Kapitel 4 gibt Beispiele kasuistischer Erkundungen im schulischen Handlungsfeld mit der methodischen Orientierung an der Objektiven Hermeneutik. Die dargestellten Fälle werden nicht als repräsentativ wohl aber als typisch erachtet, da sich aus ihnen das „sinnlogisch Allgemeine der besonderen Erscheinungen“ (177) herauskonstruieren ließe. Dazu arbeitet Wernet an vier verschiedenen Beispielen der Interaktions- und Dokumentenanalyse heraus, dass die didaktisch-schulische Praxis selbst immanent Ansprüche formuliert, die sie nicht einlöst, bzw. zu denen sie faktisch querliegt. Dies können die Analysen insofern sehr eingängig zeigen, als die didaktische Aufarbeitung oftmals mehr verdunkelt als erhellt und dadurch falsche Lernpfade legt. Zum Gedicht „Ganymed“ von Goethe wird z.B. nur eine sehr verkürzte didaktische Einführung zum Ganymed-Mythos gegeben sowie ein Verweis, Goethe kümmere sich kaum um die mythologische Vorlage. Mit Recht fragt hier Andreas Wernet, anschließend an die Interpretation von Andreas Gruschka, warum Goethe dann sein Gedicht so benannt habe und mit welchem didaktischen Sinn überhaupt solche Hinweise gegeben werden? Die Interpretation schlägt aber schließlich eine weiten Bogen – auch von Goethe weg – zu Freud, Erikson bis zur Theorie der Halbbildung Adornos. Hingegen bleibt z.B. der Naturbegriff Goethes undiskutiert. Dies macht den methodologischen Anspruch das sinnlogisch Allgemeine aus der besonderen Erscheinung zu rekonstruieren nur schwer nachvollziehbar; denn es werden kontextuelle Bezüge mit der Analyse verbunden, die eine immanent rekonstruktive Dialektik zwischen Besonderem und Allgemeinem sprengen. Die Fallanalysen sollen und können aber in beispielhafter Weise zeigen, dass die Probleme im unterrichtlichen Praxisfeld nicht technischer Art sind und sich auch nicht durch Rezepte lösen lassen. Sie eröffnen eine an Geltungsfragen orientierte Verständigung sowohl mit Praktikern als auch mit Studierenden.

Im Epilog des Buches wird das professionstheoretische Interesse des Autors deutlich. Die bisherigen schulspezifischen Ausführungen erweiternd werden unterschiedliche pädagogische Praxisfelder beschrieben und nach einer akteursorientierten versus klientenorientierten Kasuistik hin systematisiert. Der rekonstruktive Rahmen zielt auf das Aufdecken von Widersprüchlichkeiten in pädagogischen Feldern. Auch in diesen Ausführungen ist die eigene Perspektive sehr dominant und es wird ein sehr spezifisches Bild der erziehungswissenschaftlichen Disziplin entworfen: „Wie keine andere Disziplin folgt der erziehungswissenschaftliche Diskurs dem berufswissenschaftlichen Interesse der Selbstthematisierung. Im kasuistischen Zugriff erscheint diese Selbstthematisierung als empirisch-wirklichkeitswissenschaftliche Selbstbeobachtung. Den theoretischen Rahmen dafür liefert die soziologische Professionalisierungstheorie“ (187) – an die das erziehungswissenschaftliche Interesse nahtlos anknüpfen könne (vgl. 189). Was ist z.B. mit einer disziplinorientierten Forschung, die sich bewusst von professionstheoretischen Fragestellungen abgrenzt [2].

Aber auch wenn es einsichtig ist, dass eine Einführung sich beschränken muss, so liegt doch Andreas Wernets Darlegungen ein positivistischer Wirklichkeitsbegriff zugrunde, der für einen hermeneutischen Kontext der Sinnerschließung einen allzu begrenzten Rahmen steckt. Wirklichkeit erscheint nur als das, was tatsächlich im Alltäglichen protokollier- und dokumentierbar ist. Das Verstehen gegenstandseröffnender Sinnstrukturen bedarf aber nicht notwendig dieser Art von Faktizität. Gerade die Verständigung über Fiktives macht Horizonte bewusst, die die Wirklichkeit als Wirklichkeit konstituieren. Sie werden über diese Verständigung erfahrbar, d.h. zu einem empirisch nachvollziehbaren Phänomen, wie dies Jürgen Henningsen einmal gezeigt hat [3].

[1] Vgl. Dilthey, W. (1968): Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. In: Gesammelte Schriften, Bd. VII, Stuttgart, S. 199-202; S. 246-251.
[2] Vgl. z.B. die „Beiträge zur Theorie und Geschichte der Erziehungswissenschaft“, hrsg. von der Kommission Wissenschaftsforschung der DGfE.
[3] Flitner, A./ Scheuerl, H. (1991): Einführung in pädagogisches Sehen und Denken. München: Piper.
Petra Reinhartz (Flensburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Petra Reinhartz: Rezension von: Wernet, Andreas: Hermeneutik - Kasuistik - Fallverstehen, Eine Einführung (Grundriss der Pädagogik / Erziehungswissenschaft Bd. 24). Stuttgart: Kohlhammer 2006. In: EWR 6 (2007), Nr. 2 (Veröffentlicht am 28.03.2007), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/17018058.html