EWR 11 (2012), Nr. 3 (Mai/Juni)

Carmen Große Siestrup
Unterrichtsstörungen aus der Sicht von Lehrenden und Lernenden: Ursachenzuschreibungen, emotionales Erleben und Konzepte zur Vermeidung
Frankfurt: Peter Lang 2010
(262 S.; ISBN 978-3631604021; 41,80 EUR)
Unterrichtsstörungen aus der Sicht von Lehrenden und Lernenden: Ursachenzuschreibungen, emotionales Erleben und Konzepte zur Vermeidung Ich plane eigentlich nicht im Rahmen dieser Buchbesprechung das Pferd von hinten aufzuzäumen, aber es macht meines Erachtens Sinn an dieser Stelle mit einem Zitat aus dem letzten Kapitel zu beginnen: „Wenn Lehrer/-innen noch mehr darüber wüssten, wieso den Schüler/-innen Unterrichtsstörungen manchmal Spaß machen und für Schüler/-innen z.B. Gruppenerlebnisse eine besondere Bedeutung haben, dann könnten Unterrichtsstörungen von den Lehrer/-innen besser verstanden werden. Mehr über die positive Bewertung von Unterrichtsstörungen seitens der Schülerinnen und Schüler zu erfahren und Lehrpersonen für diese Zusammenhänge zu sensibilisieren, könnte hilfreich sein.“ (228f)

Nur: Lehrkräfte werden dieses Buch kaum lesen. Oder es nach kurzem Anlesen im Buchladen oder in der Bibliothek wieder aus der Hand legen. Zu komplex, zu inhaltsschwer erscheinen die Ausführungen für eine den Berufsalltag mit all seinen Belastungen ergänzende Lektüre. Ich unterstelle, dass es auch nicht die Absicht Carmen Große Siestrups war, ein Buch für Lehrkräfte zu schreiben.

Ihre Beschreibungen von Ursachen für das Entstehen von Unterrichtsstörungen, die Gefühle der Betroffenen beim Erleben dieser Situationen sowie das Betrachten möglicher Vermeidungsstrategien und Erforschen von Zusammenhängen zwischen diesen Forschungsteilen dürften besonders (Schul-) Psychologen und Erziehungswissenschaftler sowie Weiterbildner ansprechen. Und für diesen Adressatenkreis und damit für den Einsatz in der Lehreraus- und Fortbildung ist diese Dissertation aus dem Jahre 2008 von Wert!

Von den insgesamt sechs Kapiteln des Buches stellen die ersten beiden eine Art Bestandsaufnahme dar. Von Paradigmen der Lehr-Lernforschung, subjektiven Theorien, Ursachenzuschreibungen bis zu Forschungen über Unterrichtsstörungen wird an dieser Stelle eine überaus gründliche Beschreibung der wissenschaftlichen Befunde zum Thema vorgestellt. Diese gut 60 Seiten bilden damit nicht nur die Grundlage für die eigenen Forschungen (Kapitel 3-5) und deren Reflexion (Kapitel 6 Zusammenfassung und Diskussion), sondern können dem Leser auch als eine Art Kompendium dienen, mit dessen Hilfe er sich einen raschen Überblick über z.B. Untersuchungen zur Klassenführung, über den engen Zusammenhang zwischen Klassenführung und Disziplin (8ff), über Ergebnisse der Ursachenforschung für die Entstehung von Unterrichtsstörungen (41ff) oder über Ansätze zum Reagieren auf Disziplinprobleme (52ff) verschaffen kann – kompakt, gut lesbar und mit Querverweisen zu ergänzenden Ausführungen in anderen Kapiteln und Literaturangaben. Und grundlegend wichtig.
Ziel der ab Kapitel 3 folgenden eigentlichen Studie (entstanden von November 2004 bis Februar 2005) ist es, über das bisher Beschriebene hinaus vertiefende Einblicke in Störungen des Unterrichts zu gewinnen und daraus Möglichkeiten abzuleiten angemessen und erfolgreich damit umzugehen (1f).

Ausführlich stellt die Verfasserin zunächst die Fragestellungen der Arbeit vor und gelangt über die Beschreibung allgemeiner methodischer (Forschungs-) Aspekte dann zur Darstellung ihres eigenen Vorgehens (Stichprobe, Leitfrageninterviews, Fragebögen). Die Stichprobe basiert auf je 16 ausgewählten Schülerinnen und Schülern sowie Lehrerinnen und Lehrern aus vier integrierten Frankfurter Gesamtschulen. Die Wahl fiel auf diese Schulform um Einflüsse von Schulformeffekten zu vermeiden. Des Weiteren wurde auf gleiche Geschlechterverhältnisse geachtet und Gesamtschulen mit durchschnittlicher Größe aus „Gebieten mit mittleren Verhältnissen“ (97) ausgewählt. Bedingt durch die geforderte Reflexionsfähigkeit der befragten Schülerinnen und Schüler fiel die Wahl auf Neuntklässler (acht davon mit Migrationshintergrund) und auf diese Personengruppe unterrichtende Lehrkräfte unterschiedlichen Alters bzw. unterschiedlicher Dienstzeit. Auch Freiwilligkeit, Fach- und Klassenlehrerschaften wurden berücksichtigt.

Anschließend erläutert Große Siestrup das Design ihrer Untersuchung. Sie beschreibt den Aufbau des Leitfrageninterviews, stellt die Unterrichtssituationen der Fallvignetten und die dazu gehörenden Fragen vor, informiert über die qualitative Auswertung der Interviews und erläutert die Skalen zur Erfassung der Selbstwirksamkeit.

Es folgt der umfangreiche Ergebnisteil in Kapitel 5 gegliedert in drei Abschnitte. Als erstes werden Resultate zur Ursachenbeschreibung und zu Konzepten zur Störungsvermeidung bzw. Intervention bei Störverhalten präsentiert. Die anhand von Schlüsselproblemen in fiktiven Fallbeschreibungen gewonnenen Erkenntnisse folgen danach, und „im dritten Teil werden die gebildeten Typen, geschlechtsspezifische Unterschiede in den Ursachenzuschreibungen und Konzepten sowie die Ergebnisse bezüglich der Selbstwirksamkeit dargestellt.“ (3)

Es soll an dieser Stelle keine detaillierte Darstellung der Ergebnisse aus Kapitel 6 erfolgen – aber es darf erwähnt werden, dass die Befunde dieser Studie hohe Korrelationen zu den Aussagen der in den ersten beiden Kapiteln vorgestellten Untersuchungen anderer Wissenschaftler (s.o.) aufweisen und diese zum Teil ergänzen, weil die Erkenntnisse durch die Einbeziehung der Sicht der Schülerinnen und Schüler erweitert werden. Auf diese Weise könne deutlich gemacht werden, dass Lehrende und Lernende Störsituationen im Unterricht sehr unterschiedlich beurteilen (227ff). Wird z.B. die Störung zum Freude bringenden Gruppenerlebnis für die Schüler, könne der Lehrer kaum noch intervenieren. Frühes Erkennen und Eingreifen seien also erforderlich, und auch der Mut zur Interpretation: Stelle der Lehrende ein hohes Interesse seiner Schüler an Interaktion fest, könne er durch Gruppenunterrichtsangebote den sozialen Austausch fördern und die Schüler fordern, indem er sie in Entscheidungsprozesse einbinde. Eine Sensibilisierung der Lehrerinnen und Lehrer müsse erfolgen, damit solch erfolgreiche Interventionen möglich würden. Carmen Große Siestrup resümiert daher u.a., dass Lehrerbildung und -fortbildung sich intensiver mit den Themen Klassenführung und Unterrichtsstörungen auseinandersetzen sollten. Sie regt an, dass Lehrkräfte angeleitet werden, ihr Handeln im Unterricht zu reflektieren, und nennt das Konstanzer Trainingsmodell sowie Supervision als Möglichkeiten. Im Umgang mit Schülern hebt die Autorin die Bedeutung von Regeln hervor. Diese würden die Voraussetzung für die Anleitung zum selbstregulierten Arbeiten in der Klasse bieten, das, durch Trainings begleitet, dabei helfe, Störungen zu vermeiden.

Auch bei der Formulierung dieser (hier als Auswahl) präsentierten Vorschläge verknüpft die Verfasserin die Ergebnisse ihrer Studie mit den im zweiten Kapitel vorgestellten Erkenntnissen anderer Wissenschaftler. So auch bezogen auf die Motivationslosigkeit der Schülerinnen und Schüler im Unterricht, welcher – bereits von Kounin untersucht und durch die eigenen Forschung bestätigt – durch Methodenvielfalt, Förderung und sinnvolle Tätigkeiten am Nachmittag begegnet werden könne. So führt die Autorin aus: „Da manche Eltern den Kindern dabei keine Unterstützung geben können oder wollen, wäre eine Unterstützung von schulischer Seite aus sehr sinnvoll.“ (232) Ein Plädoyer für die Schule mit einem durchdachten Ganztagsangebot. Nicht als Forderung formuliert, sondern vorausgesetzt. Aktuelle schulische Entwicklungen geben ihr diesbezüglich Recht.
Norbert Möhle (Braunschweig)
Zur Zitierweise der Rezension:
Norbert Möhle: Rezension von: Siestrup, Carmen Große: Unterrichtsstörungen aus der Sicht von Lehrenden und Lernenden: Ursachenzuschreibungen, emotionales Erleben und Konzepte zur Vermeidung. Frankfurt: Peter Lang 2010. In: EWR 11 (2012), Nr. 3 (Veröffentlicht am 31.05.2012), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/3631604021.html