EWR 19 (2020), Nr. 3 (Juli / August)

Bernd HĂŒppauf
Eros, Wahrheit und Macht
Anatomie eines #me-too-Falles in der Wissenschaft
Basel: Schweizer Schwabe-Verlag 2018
(168 S.; ISBN 378-3-7965-4049-3; 21,25 EUR)
Eros, Wahrheit und Macht Die vorliegende Diskussion um die Krise des Wahrheitsbegriffs in den Geistes- und Sozialwissenschaften kann mit dem Halbsatz „los vom dekonstruktivistischen LebensgefĂŒhl!“ (152f.) auf den Punkt gebracht werden. Denn fĂŒr den Kulturhistoriker Bernd HĂŒppauf ist French Theory (78ff.), die amerikanische AusprĂ€gung des Paradigmas der Dekonstruktion, dafĂŒr verantwortlich, dass die UniversitĂ€t als Ort der Wahrheitssuche zu einer Neuausrichtung gezwungen werde. Dieser theoretische Rahmen wird am Beispiel eines #me-too-Falles an der New York University illustriert. Avital Ronell, von HĂŒppauf an die NYU berufen, habe „ihre Rolle als Betreuerin ihres Doktoranden fĂŒr unerwĂŒnschten Sexualkontakt ausgenutzt“ (21), so die Anklage ihres Studenten Nimrod Reitman in einem 2018 gefĂŒhrten „Title IX“-Verfahren (27ff).

Durch die verdrehten ZusammenhĂ€nge rund um diese „Causa Ronell“ (21) und den Brief der 51 UnterstĂŒtzer_innen der Beschuldigten (22ff.) wird der Blick auf die VerschrĂ€nkungen von Machthierarchien gelenkt, um universitĂ€re BĂŒndnisse in ihren Verfilzungen mit partikularen Interessen Einzelner sichtbar zu machen. FĂŒr die Analyse von personalisierter Macht an (amerikanischen) UniversitĂ€ten entkoppelt HĂŒppauf den Fall allerdings aus der medialen #me-too-Debatte und beleuchtet ihn auf wissenschaftstheoretischer Ebene. Seine Polemik gegen French Theory ist ein engagierter Bericht ĂŒber „den Zusammenprall von Wahrheit und Interessen, von der Macht der Institution und der Ohnmacht des Arguments und einer Verquickung mit ethischen Fragen der Bildung“ (17). Der Essay kann daher als Arbeit gelesen werden, „die, von einem Einzelfall als Symptom ausgehend, Probleme der UniversitĂ€t in Strukturen und mentalen Einstellungen verortet und in grĂ¶ĂŸere ZusammenhĂ€nge stellt“ (20), um diese erkenntnistheoretische Problematisierung (erneut) anzuregen. HĂŒppaufs wissenschaftstheoretische Reflexion geht von seinen persönlichen Erfahrungen aus: Als Chairman des Literatur- und Germanistikdepartments an der NYU erlebt er einen Bedeutungsverlust von ‚epistemischer RationalitĂ€t‘ (80), der sich darin Ă€ußere, dass die Suche nach Wahrheit „durch das Erfolgsprinzip ersetzt“ (75) und der „Logik des Marktes“ (76) unterworfen werde. Er interpretiert das Verschwinden „epistemologischer Rechtfertigung dessen, was wir fĂŒr wahr halten“ (81) im Kontext der Etablierung der French Theory zur universitĂ€ren Schule und folgert daraus, dass eine wichtige Aufgabe der gesellschaftlichen Institution UniversitĂ€t verloren gehe: „Engagement fĂŒr das Leben, das von der fortschreitenden Zivilisation bedroht wird“ (147).

Die Poststrukturalistin Avital Ronell, von der HĂŒppauf spĂ€ter als Leiter des Departments abgelöst wurde, arbeite der Destruktion von FaktizitĂ€t in die Arme und propagiere in ihren Texten eine hoffnungslose Orientierungslosigkeit (71). In ihrem dekonstruktivistischen WissenschaftsverstĂ€ndnis sei das „Ich [
] nicht mehr Quelle von Aussagen ĂŒber Wirklichkeit, sondern es ist das Produkt unfester Beziehungen in einer Welt aus Zeichen“ (78). Diese Auffassung öffne den Raum fĂŒr die „Technik der subjektiven Interpretation“ (137) und fĂŒhre dazu, dass die ethische Forderung nach Wahrheitssuche der „Dominanz von Ökonomie“ (ebd.) ĂŒbergeben werde. French Theory leiste somit keinen Beitrag zum Widerstand gegen neoliberale VerhĂ€ltnisse, sondern sei in einem „Verblendungszusammenhang“ (ebd.) verhaftet, der sich vielmehr in einer „Komplizenschaft“ (ebd.) mit der herrschenden Markt- und Medienlogik ausdrĂŒcke (76).

HĂŒppauf zieht pĂ€dagogische Überlegungen zur Kritik des poststrukturalistischen Denkens heran. Durch die VerknĂŒpfung mit pĂ€dagogischen Theorien könne dem gesellschaftlichen Auftrag der UniversitĂ€t „Raum fĂŒr kritische Theorie zu schaffen“ (147) wieder nachgekommen werden. In seinem Beitrag zur Rettung der UniversitĂ€t aus der Krise des Verfalls von Wahrheit greift er auf die Theorie des pĂ€dagogischen Eros (117) zurĂŒck, unterscheidet die „philosophisch-pĂ€dagogische[] Idee“ vom „Machtbissbrauch zum Zweck der SexualitĂ€t“ (122) und diskutiert davon ausgehend eine „spezifische Ethik der Lehre“ (153). Vor dem Hintergrund einer tendenziellen Anpassung an die neoliberalen Bedingungen, Kompetenzorientierung und Standardisierung in der PĂ€dagogik (155) betont er die besondere QualitĂ€t der Beziehungen zwischen Professor_innen und Studierenden. Soll die PĂ€dagogik nicht zu einer „Systembetreuungswissenschaft“ (156, zit. nach Luhmann,) verkĂŒmmern, mĂŒsse emotionale NĂ€he reflektiert und erhalten werden (156). Die Logik der Verrechtlichung, wie am Beispiel der „Anatomie eines #me-too-Falles in der Wissenschaft“ dargestellt wird, betrachtet HĂŒppauf als „ernsthafte Behinderung [
] fĂŒr ein partizipatorisches Ethos der Lehre“ (124), weil sie der PĂ€dagogik ihre relationale Kraft raube (116). Der RĂŒckgriff auf das Ideal des pĂ€dagogischen Eros wird der universitĂ€ren Lehre, die sich allmĂ€hlich einer anonymen AutoritĂ€t der Maschinen und Algorithmen angleiche, als Gegenentwurf zur rechtlichen Eindeutigkeit zur Seite gestellt, ohne hinter eine „berechtigte Skepsis am VerstĂ€ndnis von Wissenschaft“ (47) durch Poststrukturalismus und Dekonstruktion zurĂŒckzufallen. Auf dem Weg in Richtung einer Autonomie der Lehre von neoliberalen VerwertungszwĂ€ngen und Kommerzialisierung mĂŒssten neue Umgangsformen geschaffen werden. Ausgehend von der „Illusion“ (153) des pĂ€dagogischen Eros könnten „Formen der NĂ€he und EmotionalitĂ€t in der Lehre“ (ebd.) bedacht und erneuert werden.

Parallel zum pĂ€dagogischen Ziel einer solchen Autonomie der Lehre verweisen die wissenschaftstheoretischen Überlegungen auf das ethische Prinzip der Autonomie in Bezug auf die Institution UniversitĂ€t generell. Es bedĂŒrfe einer Debatte des pĂ€dagogischen Ethos, um (zumindest noch die deutschen) UniversitĂ€ten vor einer zunehmenden Anpassung an die Markt- und Medienlogik zu bewahren. Doch genau diese Diskussion sei ein Desiderat, so HĂŒppauf (113). Das Buch verweist daher aus kulturwissenschaftlicher Perspektive auf die essentielle Reflexion des SpannungsverhĂ€ltnisses von NĂ€he und Distanz und kann Anregungen zur Vertiefung dieser Auseinandersetzung in der PĂ€dagogik geben.

HĂŒppauf gelingt es, die ineinander verwobenen Ebenen von affektiven Beziehungsweisen, erkenntnistheoretischen Paradigmen und Machtstrukturen etwas zu lockern. Einige in der #me-too-Debatte ausgeschlossene Diskussionsebenen rund um Eros, Wahrheit und Macht werden beleuchtet und ermöglichen eine Vorstellung von einer Überwindung von partikularen Machtstrukturen. Durch die VerknĂŒpfung von „theoretischer Einsicht mit subjektiver Erfahrung“ (19) werde eine Theoriebildung jenseits von Anpassung und Normierung (154f) ermöglicht, „die den gesellschaftlichen Auftrag der UniversitĂ€t nicht verrĂ€t“ (147). Er plĂ€diert daher fĂŒr ein Ende der „VerrĂ€tselung von Welt durch Unentscheidbarkeit“ (139) und schlĂ€gt stattdessen eine „zeitgerechte[] Ethik der Lehre“ (154) im Anschluss an Wilhelm von Humboldt vor – mit dem Ziel der „EntrĂ€tselung [
], auch wenn wir inzwischen wissen, dass dieser Prozess kein Ende haben wird“ (139). Auf diesem „Weg zu einer Verantwortungsethik“ (151) bedarf es neuer Formen von Partizipation und Selbstbestimmung und eine verĂ€nderte Haltung, von der aus es möglich ist, verantwortungsvoll Beziehungen zu knĂŒpfen.

Somit kann ein breites emanzipatorisches Anliegen reflektiert werden, bei dem es vorrangig um Befreiung von statischen Machtsystemen geht; jedoch nur unter der Bedingung, dass der von HĂŒppauf einseitig vorgetragene Erosbegriff – „der dunkle[] Schatten“ (122) auf pĂ€dagogischen Beziehungen durch sexuelle MissbrauchsfĂ€lle und Grenzverletzungen wird nur am Rande erwĂ€hnt, zentral ist die Idee „emotionaler NĂ€her im Dienst der Erziehung“ (ebd.) – einer mehrseitigen (allgemeinpĂ€dagogischen) Analyse unterzogen wird.

Im Anschluss an die LektĂŒre stellt sich nun die Frage nach der Verantwortlichkeit von universitĂ€rer Erkenntnistheorie. Muss UniversitĂ€t – wie HĂŒppauf meint – als der „Ort der Anpassung“ (16) gefasst werden oder fĂŒhrt die neoliberale Verwertungslogik ohnehin und unausweichlich alle gesellschaftlichen und kulturellen Institutionen in einen „Zustand der Orientierungslosigkeit“ (17)? In jedem Fall darf man den „Gedanken der VerĂ€nderungsfĂ€higkeit von Welt nicht prinzipiell aufgeben und damit der Wissenschaft den ethischen Boden entziehen“ (138f). Das Ethos als Hoffnung auf VerĂ€nderbarkeit macht das Buch zu einem wissenschaftstheoretischen Eingriff, der als Anregung zur Bewusstwerdung von Strukturen und Einstellungen gewĂŒrdigt werden kann, um die Orientierungslosigkeit einem neuen Wahrheitsdiskurs zuzufĂŒhren.
Theresa Lechner (Salzburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Theresa Lechner: Rezension von: HĂŒppauf, Bernd: Eros, Wahrheit und Macht, Anatomie eines #me-too-Falles in der Wissenschaft. Basel: Schweizer Schwabe Verlag 2018. In: EWR 19 (2020), Nr. 3 (Veröffentlicht am 02.09.2020), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/378379654049.html