EWR 8 (2009), Nr. 3 (Mai/Juni)

Sabine Schmidt-Lauff
Zeit fĂĽr Bildung im Erwachsenenalter
Interdisziplinäre und empirische Zugänge
MĂĽnster: Waxmann 2008
(494 S.; ISBN 978-38309-2020-5; 39,90 EUR)
Zeit für Bildung im Erwachsenenalter Sabine Schmidt-Lauff legt mit ihrer Habilitationsschrift zu „Zeit und Bildung im Erwachsenenalter“ – allein schon mit Blick auf die Seitenzahl – ein facettenreiches Monumentalwerk vor, das sich als Beitrag zu einer noch zu schreibenden Theorie der Zeit in der Erwachsenenbildung versteht. Aufgrund der im Buch zusammengeführten Abhandlungen über philosophische, soziologische, zeitdiagnostische und pädagogische Zugänge zum Thema Zeit sowie den beiden vorgestellten empirischen Untersuchungen, dürfte die pädagogische Zeitforschung in Zukunft kaum an dieser Studie vorbeikommen. Dabei täuscht allerdings der allgemein gehaltene Titel des Buches darüber hinweg, dass sich die im Band enthaltenen theoretischen und empirischen Ausführungen vor allem auf das Themenfeld des beruflichen und betrieblichen Lernens beziehen. Der Bereich der allgemeinen Erwachsenenbildung wird im Band kaum thematisiert; nichtsdestotrotz dürften die Ergebnisse der Studie für Praxis und Theorie der Erwachsenenbildung auch generell von Interesse sein.

Ausgangspunkt des Buches ist der Befund, dass Zeit im erziehungswissenschaftlichen Diskurs bislang ein weitgehend ungeklärter Begriff sei. Zwar taucht Zeit als Thema fortlaufend in erziehungswissenschaftlichen Arbeiten auf, allerdings greifen bisherige Publikationen zumeist auf allgemeine oder zeitdiagnostisch inspirierte Konsensaussagen zur Zeit zurück, ohne im Weiteren zu klären, welche temporalen Implikationen im Rahmen des Lernens Erwachsener auf struktureller und individueller Ebene bedeutsam werden. Sabine Schmidt-Lauff zufolge steht eine grundbegriffliche Klärung von Zeit, als vergessener Größe der Erwachsenenbildung, somit noch aus.

Vor diesem Hintergrund möchte die Studie durch eine Verbindung verschiedener theoretischer und empirischer Zugänge dazu beitragen, Zeit als pädagogischen Grundbegriff zu klären. Zu diesem Zweck erweitert Sabine Schmidt-Lauff die bislang vor allem institutionell-pragmatisch geprägte Sicht der Pädagogik auf Zeit und Lernen um eine am subjektiven Erleben orientierte Sicht. Der so etablierte Fokus auf die individuell-biographischen Bedeutungsebenen von Zeit und Lernen bildet im Weiteren einen roten Faden, der sich kontinuierlich durch die vier Abschnitte der Studie zieht.

Die Studie teilt sich in 4 Abschnitte mit insgesamt 10 Kapiteln auf, die durchaus unabhängig voneinander gelesen werden können. Hilfreich wären – gerade aufgrund des Umfanges der Publikation – mehr Orientierungshilfen für die Leser/innen gewesen, die – etwa in Form tabellarischer Überblicksdarstellungen zentraler Punkte oder stichpunktartiger Zusammenfassungen am Ende der verschiedenen Kapitel – dem nur an spezifischen Punkten der Studie interessierten Leser auch ein Querlesen ermöglichen würden.

Im ersten Abschnitt – „Disziplinübergreifende Zugänge zur Zeit“ - werden verschiedene Sichtweisen auf Zeit dargestellt. Einen spezifischen Fokus legt Schmidt-Lauff dabei auf Überlegungen zur Zeit aus Philosophie, Soziologie und den Bildungswissenschaften, da diese Fachrichtungen Zeit als Hauptmerkmal menschlichen Erlebens und Handelns bislang am umfassendsten thematisiert hätten. Das Ziel dieser schrittweise aufgebauten Auseinandersetzung mit verschiedenen Zeittheorien ist dabei nicht, die Frage nach dem Wesen der Zeit im Allgemeinen zu beantworten, sondern einen Erkenntnishorizont für eine (empirische) Wirkungsanalyse der Zeit auf sozialer und individueller Ebene vorzubereiten. In diesem Zusammenhang verweist die Autorin auf die Psychologie als relevante Bezugswissenschaft für die Zeitforschung. Warum im folgenden Text aber nicht mehr auf psychologische Überlegungen zum Thema Zeit und Lernen eingegangen wird, wird nicht weiter erläutert. Im Zentrum der prägnant dargestellten philosophischen Ansätze (Kapitel I) stehen die Reflexionen zum Thema Zeit von Augustinus, Husserl und Arendt. Der Blick auf diese drei ausgewählten phänomenologischen Zeitphilosophien soll es ermöglichen, Zeit als subjektiv Erlebtes und Bedeutsames zu erschließen und für die folgende empirische Untersuchung fruchtbar zu machen. Anschließend arbeitet die Autorin auf Basis einer Auseinandersetzung mit den zeitsoziologischen Ansätzen (Kapitel II) von Elias, Dux und Nowotny eine genauere Unterscheidung von Zeit als kollektiv strukturierter, sozialer Ordnungsgröße und von Zeit als individuell strukturierter und subjektiv erlebter Eigenzeit heraus. Dabei wird die Bedeutung der dimensionalen Einteilung von Zeit in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft auf individueller und sozialer Ebene erläutert sowie ein kurzer Blick auf den historischen Wandel des Zeiterlebens geworfen. Die spezifische Auswahl der Zugänge begründet die Autorin damit, dass diese Zeit als dynamische Kategorie ins Zentrum stellen und die soziale wie individuelle Konstruktion von Zeit in den Blick nehmen. Gegen Ende des ersten Abschnitts werden zum einen verschiedene pädagogische Zugänge zum Thema Zeit und Lernen gesichtet (Kapitel III). Im Durchgang durch die Überlegungen von de Haan, Lüders sowie weiteren Pädagogen zum Thema Zeit arbeitet Sabine Schmidt-Lauff drei pädagogische Grundprobleme des Umgangs mit Zeit heraus: Das Problem zeitlicher Freiheit oder zeitlichen Zwanges durch Lernen, das Problem der Knappheit von Zeit für Lernen und das Problem des Gegensatzes zwischen subjektiver und objektiver Zeit für Lernen. Zum anderen werden in diesem Kapitel vorhandene Formen der Strukturierung von betrieblichen Lernzeiten auf der Ebene der Politik (Makroebene), der Organisationen - insbesondere Betriebe und Einrichtungen der Erwachsenenbildung - (Mesoebene) sowie auf der Ebene der Individuen und der Didaktik (Mikroebene) dargestellt. Der Zusammenhang von Zeit und Lernen stellt sich dabei als vielfältige Erscheinung dar. Das zentral zu lösende Problem, wenn es um die Verfügbarkeit von Zeit zum Lernen geht, ist dabei – mit Schäffter gesprochen – die Synchronisierung verschiedener gesellschaftlicher Teilzeiten.

Im zweiten Abschnitt der Arbeit „Aktuelle Zeittendenzen und die Verwendung von Zeit“ möchte die Autorin Tendenzen des gegenwärtigen Umgangs mit Zeit, vor allem bezogen auf die Arbeitswelt, aufzeigen. Dabei wird auf fünf gegenwärtige Zeittendenzen genauer eingegangen: Virtualisierung, Flexibilisierung, Entgrenzung, Zeitnotstand und Beschleunigung (Kapitel IV). Anschließend werden entlang verschiedener empirischer Erhebungen Grundzüge der Zeitverwendung für Arbeit (Kapitel V) und für Lernen (Kapitel VI) in der gegenwärtigen Gesellschaft herausgearbeitet. Kennzeichnend für beide Bereiche sind der Autorin zufolge die bereits benannten Zeittendenzen. Deren forcierte gesellschaftliche Durchsetzung führt zu einer zunehmenden Diffusität zwischen objektiven Zeitstrukturen und subjektiver Zeitverwertung, die eine von den Individuen zur Schaffung von Lernzeit zu leistende Synchronisierung verschiedener gesellschaftlicher Teilzeiten erschwert.

Im dritten Abschnitt der Arbeit – „Empirische Untersuchungen zu Bildungszeiten und Zeiten für Lernen im Erwachsenenalter“ – werden zwei von der Autorin durchgeführte empirische Studien dargestellt: Bei der quantitativen Studie handelt es sich um eine Fragebogenerhebung mit 117 Teilnehmer(inne)n aus insgesamt 15 Kleinbetrieben, die Teilnehmer/innen des Projektes „Kompetenzgewinn durch Lernzeitorganisation“ der Landesagentur für Struktur und Arbeit in Brandenburg waren. Die qualitative Studie umfasst 8 Gruppendiskussionen mit insgesamt 76 Teilnehmer(inne)n beruflich-orientierter Seminare. Nachdem auf die Konzeption beider Studien sowie die Eigenheiten einer komplementären Triangulation quantitativer und qualitativer Daten eingegangen wurde (Kapitel VII), werden die Analyseergebnisse beider Studien genauer vorgestellt. Dabei arbeitet Sabine Schmidt-Lauff einmal „Quantitative Ausprägungen von Bildungs- und Lernzeiten“ heraus (Kapitel VIII), um anschließend genauer auf „Qualitative Bewertungen von Bildungs- und Lernzeiten“ einzugehen (Kapitel IX).

Der Fokus der Auswertung beider Untersuchungen richtet sich neben der Analyse der sozialen Rahmungen von Zeiten für Lernen auch auf die Analyse implizit und explizit ausgewiesener Zeitanteile für Lernen, auf Zeit als Barriere und Ermöglichung von Lernen, auf die Bedeutung von Zeit und Lernen in verschiedenen Lebensphasen und auf die Analyse der Initiierung von Lernzeiten. Das Problem auftretender Zeitkonkurrenzen, wenn es um eine Synchronisierung verschiedener gesellschaftlicher Teilzeiten geht, um individuelle Zeiten für Lernen zu schaffen, steht über beide Untersuchungen hinweg im Mittelpunkt der Betrachtungen. Das Untersuchungsdesign greift dabei die in den ersten beiden Abschnitten erarbeitete Unterscheidung von Zeit als sozialer Ordnungsgröße und individuell erlebter Eigenzeit wieder auf: Während die quantitative Studie vor allem einen Blick auf die organisatorische Strukturierung von Zeit für Lernen eröffnet, ermöglichen die Ergebnisse der qualitativen Studie sodann die Analyse des individuellen Umgangs und der subjektiven Deutung betrieblicher Zeiten für Lernen. Dabei werden die qualitativen Deutungen herangezogen, um die quantitativ festgestellten Häufigkeitsverteilungen genauer zu beleuchten.

Als zentrales Problem der Akteure macht Sabine Schmidt-Lauff die Synchronisierung von Zeiten für Lernen mit Zeiten, die für Nicht-Lernen verwendet werden, aus. Die Abgrenzung von Zeiten für Lernen ist als Aushandlungsprozess unumgänglich mit temporalen Konflikten und Kompromissen verbunden, die im Text beschrieben werden. Um Zeiten für Lernen zu schaffen, sind daher Synchronisierungsleistungen auf struktureller und individueller Ebene nötig. Die Lernenden agieren, der Autorin zufolge, trotz dieser chronischen Zeitkonkurrenzen weitgehend zeitkompetent, wenn es um Lernen geht. Hinderlich ist allerdings die den Individuen fehlende Souveränität über zeitliche Strukturen, wie sie z.B. auf betrieblicher Ebene vorgegeben werden. Gerade das Verschwimmen von Arbeitszeiten mit Lernzeiten und anderen Zeiten und die damit verbundene hohe Coinvestition privater Zeit für berufliches Lernen führt zum negativen Erleben von Lernzeit. Für die Unterstützung beruflich-betrieblichen Lernens erscheint daher die Schaffung expliziter Lernzeiten mit dem Ziel einer „entlasteten Lernzeit“ (361) unumgänglich.

Im vierten und letzten Abschnitt – „Zeittheoretische Konsequenzen“ – führt die Autorin die Ergebnisse der vorangegangenen theoretischen und empirischen Beschäftigung mit dem Thema Zeit und Lernen zusammen und entwirft dabei ein Modell „zeittheoretischer Implikationen für das Lernen Erwachsener“ (Kapitel X). Dieses Modell soll die bisher herausgearbeiteten komplexen Zeitzusammenhänge des Lernens Erwachsener aufzeigen und ein mögliches Grundgerüst für eine noch weiter auszuarbeitende Zeittheorie der Bildungswissenschaften liefern. Im Modell unterscheidet Sabine Schmidt-Lauff zwischen 7 temporalen Grundbezügen und 8 Selbstverhältnissen zur Zeit. Die 7 temporalen Grundbezüge, die bei der Betrachtung von Zeit und Bildung zu beachten sind, resultieren aus Eigenheiten der Zeit selbst und ermöglichen es, Zeit als Grundbegriff der Pädagogik auf verschiedenen Ebenen zu verorten: Bildung hat eine historische Komponente (Geschichtlichkeit), Bildung findet als Verlaufsstruktur in der Zeit statt (Zeitverlauf), Bildung beansprucht als Prozess Zeit (Zeitverbrauch), Bildung ist gebunden an individuelle Lebensläufe (Biographizität), entlang von Bildung werden die Zeitdimensionen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zueinander ins Verhältnis gesetzt (Zeitdimensionalität), Bildung als zeitlicher Prozess ist flüchtig (Flüchtigkeit) und Bildung kann sich mit Zeit als Inhalt beschäftigen (Inhaltlichkeit). Die anschließend dargestellten 8 Selbstverhältnisse von Zeit bauen auf den temporalen Grundbezügen auf und drücken subjektive Bewertungen des Erfahrens dieser Grundbezüge aus. In der Zusammenschau eröffnen sowohl die 7 temporalen Grundbezüge als auch die 8 Selbstverhältnisse von Zeit Möglichkeiten einer „temporale(n) Erweiterung und Ergänzung“ (470) bisheriger erziehungswissenschaftlicher Theorien. Gerade die Grundbezüge, die auf die Zeitlichkeit von Pädagogik auf verschiedenen Ebenen verweisen, erscheinen dabei geeignet, Zeit als vielschichtigen und komplexen Grundbegriff in der weiteren erziehungswissenschaftlichen Theoriebildung zu verankern.

Am Ende des Bandes befinden sich ein Abbildungs- und Tabellenverzeichnis sowie ein Abdruck des in Untersuchungsphase II verwendeten Fragebogens.

Die Studie eröffnet entlang des Themenfeldes der beruflichen Bildung einen umfassenden Überblick über die verschiedenen Ebenen, auf denen Zeit für Bildung Relevanz erlangt. Mit dem abschließend von der Autorin entworfenen Modell temporaler Grundbezüge und Selbstverhältnisse scheint eine weitergehende Behandlung des Themas Zeit und Bildung nunmehr systematischer möglich zu sein als zuvor. Dabei ermöglicht gerade der Blick auf Zeitkonkurrenzen und mögliche zeitliche Synchronisierungsprobleme, mit denen das Lernen Erwachsener als ein gesellschaftliches Funktionssystem es zu tun bekommt, wenn Zeiten für Lernen okkupiert werden sollen, eine differenzierte Analyse von Bildung als Zeitphänomen. Auch die These, Bildung sei nie nur Kompensation oder Antizipation, sondern in jeder ihrer Erscheinungsformen das Ergebnis einer integrierenden Verknüpfung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sowie darauf aufbauend die Folgerung, dass Realisierungschancen für Lernen durch Verknüpfung der Zeitebenen steigen, wenn eine „Kontinuität der Lernbewegung aus einem früher in ein Jetzt und Morgen“ (441) entwickelt werden kann, verspricht für weitere Bildungsforschung spannende Perspektiven zu eröffnen.

Auffällig an der Studie ist, dass sie sich vor allem auf deutschsprachige Literatur zum Thema Zeit und Lernen stützt. Ein Blick auf internationale Zugänge zum Thema Zeit und Lernen wäre – gerade auch angeregt durch das Lesen der Studie – spannend. Neben der Ausblendung psychologischer Überlegungen zum Thema Zeit und Lernen spielen auch Überlegungen zum Begriff der Generation in der Studie keine Rolle. Zwar wird der Bedeutung von Lernen in verschiedenen Lebensphasen nachgegangen, auf die Bedeutung von Bildung im Verhältnis verschiedener Generationen zueinander wird jedoch nicht eingegangen, was dem Fokus auf betriebliches Lernen geschuldet sein kann. Hier könnte mitunter noch eine Erweiterung der 7 Grundbezüge Sinn machen.
Monika Fischer (Frankfurt)
Zur Zitierweise der Rezension:
Monika Fischer: Rezension von: Schmidt-Lauff, Sabine: Zeit fĂĽr Bildung im Erwachsenenalter, Interdisziplinäre und empirische Zugänge. MĂĽnster: Waxmann 2008. In: EWR 8 (2009), Nr. 3 (Veröffentlicht am 05.06.2009), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/383092020.html