EWR 9 (2010), Nr. 3 (Mai/Juni)

Ulrike Pilarczyk
Gemeinschaft in Bildern
JĂŒdische Jugendbewegung und zionistische Erziehungspraxis in Deutschland und PalĂ€stina/Israel
Unter Mitwirkung von Ulrike Mietzner, Juliane Jacobi und Ilka von Cossart
(Hamburger BeitrÀge zur Geschichte der deutschen Juden; XXXV)
Göttingen: Wallstein 2009
(277 S.; ISBN 978-3-83530439-0; 32,00 EUR)
Gemeinschaft in Bildern Mit der vorliegenden Untersuchung stellt sich die Autorin einer dezidiert interdisziplinĂ€ren Aufgabe im Spannungsfeld zwischen Gesellschafts- und Bildungsgeschichte. Sie erlĂ€utert die tiefgehenden EinflĂŒsse der deutsch-jĂŒdischen Jugendbewegung auf das Entstehen des zionistischen Siedlungsideals in der Gestalt des Kibbuz. Dabei liegt ihr besonderes Augenmerk darauf, Transformationen des in den verschiedenen pĂ€dagogischen, lebensreformerischen, kulturkritischen und zionistischen Bewegungen seit der Jahrhundertwende wurzelnden Gemeinschaftsideals nach zu verfolgen. Dieses Gemeinschaftsideal untersucht Pilarczyk in seiner Entwicklung einerseits als Ziel, andererseits als Mittel von Erziehungs- und Bildungsprozessen. Es verdichtete sich zunĂ€chst im gemeinsamen sozialen Raum der Jugendbewegung, bis es sich ĂŒber den wachsenden Antisemitismus in der BĂŒndischen Jugend und ĂŒber die Stufen der beginnenden Verfolgungen im Nazi-Regime hin zum Modell einer dezidierten jĂŒdischen IdentitĂ€t wandelte. Wesentlicher methodischer Ertrag der Arbeit ist der Aufweis der bisher nur rudimentĂ€r genutzten Möglichkeiten seriell-ikonografischer Verfahren fĂŒr die historische Forschung. Wesentlicher inhaltlicher Ertrag ist die Erkenntnis, in welchem Maße und in welcher Weise die Tradition der deutschen Jugendbewegung fĂŒr die Kibbuzim prĂ€gend war.

Die Abhandlung untersucht einen Zeitraum zwischen der Jahrhundertwende und dem Ende der 1950er Jahre. Ein Ausblick auf die Rezeption des fĂŒr diesen Zeitraum Zusammengetragenen bis hin zum ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends beschließt den Band. Geographisch ist die Darstellung in ihrem ersten Teil dem Territorium des Deutschen Reiches, im zweiten Teil dem britischen Protektorat PalĂ€stina bzw., ab 1948, dem Staat Israel gewidmet. Redaktionell folgt der Band einer chronologischen Darstellung. Er gliedert sich in 10 Hauptkapitel, innerhalb derer zum Komplex der deutsch-jĂŒdischen Jugendbewegung Ilka von Cossart, Juliane Jacobi und Ulrike Mietzner einzelne ErgĂ€nzungen, Vertiefungen und Exkurse beifĂŒgen. Die ikonografischen Interpretamente werden entlang von 206 beispielgebenden, in den Text eingefĂŒgten Bilddokumenten vorgelegt.

Die Argumentationsfigur des Bandes folgt einer großen Linie. Nach einer kurzen EinfĂŒhrung in das Aufkommen der zionistischen Bewegung und zum jĂŒdischen SelbstverstĂ€ndnis im Deutschen Reich zu Beginn des 20. Jahrhunderts werden die Erkenntnisse der historischen Erziehungswissenschaft zur Jugendbewegung zusammengefĂŒhrt. Die Autorin fokussiert diese auf ein bĂŒrgerliches GenerationenphĂ€nomen, welches ĂŒber Modelle wie ‚Jugend erzieht Jugend‘, strukturiert ĂŒber ‚Erlebnis‘ in ‚Gemeinschaft‘, verbunden war. Sie fĂŒhrt aus, dass und wie der wachsende Antisemitismus in den BĂŒnden fĂŒr die jĂŒdischen Jugendlichen seit den 1920er Jahren mehr und mehr zum Problem wurde. Dieses fĂŒhrte auf der Deutungsebene zu wachsenden Anstrengungen hinsichtlich einer zionistischen BegrĂŒndung eigenstĂ€ndiger bĂŒndischer Jugendarbeit. Die ikonografische Analyse aber verweist auf anderes: Mit Ausnahmen im Detail arrangieren selbsterstellte Fotografien und Fotoalben zum Fahrtenleben grosso modo noch analoge Lebenswelten von Heranwachsenden aus bĂŒrgerlichen Milieus. ZunĂ€chst nur unterschwellig schlich sich, so die Bildquellen, die antisemitische Bedrohung ein. Dieses Ă€nderte sich nach 1933 deutlich. Unter dem wachsenden Verfolgungsdruck der Nazis wurde die jĂŒdische Jugendbewegung mehr und mehr und notgedrungen zum Teil eines zionistischen Auswanderungsprojekts nach Erez Israel. Dementsprechend wurden Landwirtschaftsheime fĂŒr Jugendliche aufgebaut, welche fĂŒr die kĂŒnftige TĂ€tigkeit im Kibbuz vorbereiten sollten. ZunĂ€chst noch von dezidiert zionistisch ausgerichteten Jugendlichen besucht, wurden sie rasch von rettungsbedĂŒrftigen Jungerwachsenen bedrĂ€ngt. Die ausgewerteten Bilderwelten der Jugendlichen dokumentieren diesen Wandel deutlich. Die wachsende Bedrohung lĂ€sst auf den Fahrtenbildern den Lebensraum Stadt vergessen, Abenteuerlust und latente Erotik der Jugendbewegung verschwinden. Umgekehrt wirken die Bilder aus den Landwirtschaftsheimen wie der geradezu verzweifelte Versuch, der antisemitischen Propaganda den trotzigen Entwurf eines fleißigen, tĂŒchtigen, die Scholle bearbeitenden Judentums entgegenzusetzen.

Der zweite Teil des Buches ist der Situation junger Kibbuzniks in PalĂ€stina gewidmet. Die Bildanalysen ihrer Ankunftssituation in den 1930er Jahren ergeben tiefste Verunsicherung. Zwar gehörten noch hergebrachte Motive aus bĂŒndischer Tradition wie etwa der gemeinschaftliche Kreis zur ikonografischen Tradition der Ankömmlinge. Neben den an sich schon verunsichernden Motiven einer kargen WĂŒstenlandschaft, in welche die jungen Menschen sich als schicksalhaft geworfen erlebten, ist aber, so Pilarczyk, insbesondere die Analyse der Bildsprache aufschlussreich. Deren wichtigstes Ergebnis ist nĂ€mlich das PhĂ€nomen von vielerlei Auflösungserscheinungen der Perspektive. Übergeordnete Ordnungsperspektiven, welche fĂŒr das Weltbild der Jugendbewegung konstitutiv waren, lassen sich nicht mehr erkennen. Aus der erhofften Gemeinschaft war eine Notgemeinschaft geworden, welche oftmals, so die Autorin, als bedrĂ€ngend erlebt wurde.

Parallel dazu trat aber den Privatfotografien der Jungerwachsenen mit den Propagandafotografien fĂŒr die zionistische Erziehungsarbeit ein einflussreiches Pendant zur Seite, welches auf jene zurĂŒckwirkte. Die Bildsprache der Selbstbildung junger Menschen wurde ergĂ€nzt durch eine solche der Erziehung neuer Menschen. Diese offiziöse Fotografie modernisierte und internationalisierte die Bilderwelten der (Selbst-)Erziehung, die bisher noch in den ikonografischen Codes der Jugendbewegung befangen waren. Sie war an Stil und Sujets der Propagandafotografie der 1930er Jahre orientiert, welche auch im Nazismus, im Stalinismus, aber auch im New Deal, die Erschaffung eines ‚neuen Menschen‘ zum Gegenstand hatte.

Unter dem alles prĂ€genden Einfluss der Shoa wandelten sich die Bilderwelten aus den Kibbuzim nach 1948 nochmals grundlegend. Die deutsche jugendbewegte Tradition wurde endgĂŒltig abgestreift, ebenso der internationale erziehungsstaatliche Propagandastil. Aus der Selbstthematisierung von Jugend wurde die politische Zukunftsthematisierung. Es setzte sich, so sind Pilarcyzks Ergebnisse zusammenzufassen, ein Blick von oben entlang der Motive ‚Kindheit‘ und ‚Bildung‘ durch. FĂŒr diesen spielten SelbstthematisierungsansprĂŒche keine Rolle mehr. Kinder, unter alten ÖlbĂ€umen spielend und in modernen Schulen lernend, wurden zum Leitmotiv einer Darstellung des Kibbuz als dezidiert pĂ€dagogischer Keimzelle eines neuen Landes. Auch dieses ist inzwischen lange vergangen; der Band schließt mit einem kurzen Ausblick auf die ikonografische Vergangenheitspolitik, welche seither versucht, die Bedeutung der Kibbuzim fĂŒr die Geschichte Israels zu bestimmen.

Ulrike Pilarczyk steht, ebenso wie ihre BeitrĂ€gerin Ulrike Mietzner, fĂŒr die Nutzung seriell ikonografischer Methoden in der Historischen Bildungsforschung. Dementsprechend sind insbesondere die bildinterpretierenden Teile ihres Bandes als besonders gelungen hervorzuheben. In den Teilen, welche die jeweilige Literaturlage referieren, bleibt das Buch eher konventionell. Aus erziehungswissenschaftlicher Sicht ist zu monieren, dass dort Begriffe wie (Selbst-)Bildung, Erziehung, Gemeinschaft, ReformpĂ€dagogik, Jugendbewegung und BĂŒndische Jugend mit wenig problematisierender Tiefe behandelt werden. Dieses ist insofern zu bedauern, als die Perspektivenwechsel von der Selbstthematisierung von Jugend ĂŒber die Fremdthematisierung von Erwachsenheit hin zur Fremdthematisierung von Kindheit, damit analog diejenigen von (Selbst-)Bildung ĂŒber Erschaffung hin zu Erziehung und Schulbildung, den impliziten Dreischritt ihrer Darstellung abgeben.

In diesem Zusammenhang wirkt bei heutiger LektĂŒre verstörend, dass und wie selbst im zionistischen Projekt erziehungsstaatliche Phantasien der Erschaffung eines ‚Neuen Menschen‘ propagandistischen Platz hatten. Die Bildsprache, welche Pilarcyzk analysiert, ist deutlich. Gerade in diesem Abschnitt berĂŒhrt der Band grundsĂ€tzliche und historiographisch sensibel zu bearbeitende Fragen nach der Einmaligkeit nationalsozialistischer Verbrechen und Ideologie in einer Periode totalitĂ€rer Allmachtsphantasien des Zugriffs auf Menschen. Pilarczyk weist auf grundsĂ€tzliche Unterschiede etwa zur Bildsprache der Propaganda im nationalsozialistischen Deutschland hin, macht damit aber zugleich auch ein Forschungsdesiderat der international vergleichenden Bildungs- und Gesellschafts-, aber auch der Foto- und Propagandageschichte deutlich. Detaillierte vergleichende Betrachtungen von Visualisierungen erziehungsstaatlicher Erschaffungspropaganda der 1930er und frĂŒhen 1940er Jahre sind noch zu leisten.

Immer dort aber, wo Pilarczyk den Stand von an Textquellen orientierter Forschung mit ihren eigenen Interpretationen von selbst zusammengefĂŒhrten Bildsequenzen kontrastiert, gelingen ihr ErlĂ€uterungen von hoher PrĂ€gnanz und PlausibilitĂ€t. Deutlich wird, dass und wie sie Untersuchungskorpora aus einer großen FĂŒlle erhobenen Archivmaterials zusammengefĂŒhrt und induktiv kategorisiert hat. Als besonders gelungen ist dabei hervorzuheben, dass Pilarczyk nicht nur Bilder als Einzeldokumente, sondern auch Fotostrecken und Fotoalben als Metadokumente der Inszenierung von Bildern auswertet; dieser Zugriff erlaubt ihr tiefgehende Einblicke insbesondere in die Selbstkonzepte der Jugendlichen in den jĂŒdischen BĂŒnden.

Bei der ersten LektĂŒre des Bandes wirken die vorgestellten Bildinterpretationen beinahe traditionell hermeneutisch angelegt. Dieses liegt daran, dass die Autorin, wohl mit dem Ziel einer besseren Lesbarkeit des Bandes fĂŒr ein breiteres Publikum, ihr Vorgehen nicht methodologisch expliziert. Aus der Perspektive fachwissenschaftlicher LektĂŒre wĂ€re zu wĂŒnschen gewesen, dass sie ihr methodologisches Vorgehen deutlicher als geschehen markiert hĂ€tte. Hilfreich wĂ€ren etwa Auflistungen von GrĂ¶ĂŸe und Art des Datengrundbestandes, die Dokumentation der Kategorienbildungen oder die Ergebnisse serieller Massendatenauswertungen, welche z.B. tatsĂ€chlich erlauben, die verwendeten Bilder als key-pictures zu klassifizieren oder die behaupteten langfristigen Trends auch quantitativ aus dem Datenmaterial zu belegen.

Der Autorin ist mit diesem Band eine dichte ErzĂ€hlung eines bisher nur unzureichend aufgearbeiteten Teilgebiets der deutsch-jĂŒdischen bzw. zionistisch-israelischen Bildungs- und Gesellschaftsgeschichte gelungen. Ihr Buch ist gut lesbar und, was nur mehr selten ist, auch von verlegerischer Seite Ă€sthetisch hoch anspruchsvoll aufbereitet. Es empfiehlt sich als Fachpublikation, welche auch fĂŒr ein breiteres Publikum geeignet ist.
Detlef Gaus (LĂŒneburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Detlef Gaus: Rezension von: Pilarczyk, Ulrike: Gemeinschaft in Bildern, JĂŒdische Jugendbewegung und zionistische Erziehungspraxis in Deutschland und PalĂ€stina/Israel Unter Mitwirkung von Ulrike Mietzner, Juliane Jacobi und Ilka von Cossart (Hamburger BeitrĂ€ge zur Geschichte der deutschen Juden; XXXV). Göttingen: Wallstein 2009. In: EWR 9 (2010), Nr. 3 (Veröffentlicht am 02.06.2010), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/383530439.html