EWR 3 (2004), Nr. 5 (September/Oktober 2004)

Gerd E. Schäfer (Hrsg.)
Bildung beginnt mit der Geburt
Förderung von Bildungsprozessen in den ersten sechs Lebensjahren
Weinheim, Basel, Berlin: Beltz Verlag 2003
(199 Seiten; ISBN 3-407-56226-8; 16,90 EUR)
Zusammen mit Angelika von der Beek, Ragnhild Fuchs und Rainer Strätz hat Gerd E. Schäfer, Professor für Frühpädagogik an der Universität in Köln, den vorliegenden Band erarbeitet. Die Autoren verstehen diesen als wissenschaftliche Basis für die Begründung eines offenen Bildungsplanes in Nordrhein-Westfalen. Doch bedeutet der lokale Bezug keine Einschränkung für den Gebrauch des Textes. Im Gegenteil, gerade die erste Hälfte des Buches erweist sich als lesenswerter Einführungstext zum Thema "Frühkindliche Bildung", beachtenswert für Studierende und Lehrende der Pädagogik ebenso wie für praktisch tätige Pädagogen und Eltern von drei bis sechsjährigen Kindern.

Der Text ist sehr verständlich verfasst, was durch zahlreiche Beispiele, Übersichten und Fotos noch unterstützt wird. Die vier Teile bilden eine ergänzende Einheit. Sie sind aber thematisch so stringent und interessant aufgebaut, dass man zum Weiterlesen aufgefordert wird. Die Stringenz äußert sich in erster Linie darin, dass sich die am Ende des Buches formulierten Bildungsaufgaben aus den vorangegangenen Überlegungen sinnvoll abgeleitet werden.

Im Teil 1 wird erklärt, was Bildung in der frühen Kindheit bedeuten könnte. In Auseinandersetzung mit älteren Überlegungen (z.B. von Piaget und Montessori) und aktuellen Ergebnissen der Säuglingsforschung werden 15 Thesen formuliert, deren Kernaussage folgendermaßen sinngemäß wiedergegeben werden kann: Der Elementarbereich wird als eigener Bildungsbereich begriffen, in dem die Orientierung am kindlichen Bildungsbedarf erfolgen muss. Frühkindliche Bildung wird als komplexer Prozess verstanden, der zunächst ästhetische Bildung und in erster Linie "Selbst-Bildung im sozialen Kontext" sei. Frühkindliche Bildung stütze sich auf die Selbstbildungs-Potenziale der Kinder, weshalb es gelte, Problemlösen zu fördern und nicht (Erwachsenen-)Kompetenzen zu vermitteln.

Schäfers Kritik an der (anderorts) oft beschworenen Kompetenzvermittlung und somit der Fehleinschätzung des kindlichen Bildungsprozessen wird nochmals in der letzten These wiederholt, die sich auf die Erwartungen von Gesellschaft und Kultur richtet. Als wichtigste Konsequenz für pädagogisches Handeln stellt der Autor heraus, "dass man nicht nur die Perspektiven der sozialen und gesellschaftlichen Erwartungen zum Ausgangspunkt von Bildungsprozessen macht, sondern ebenso die Einstellungen, Erwartungen, Vorstellungen und Fantasien, die die Kinder zu einer bestimmten Zeit, an einem bestimmten Ort, in einem bestimmten Umfeld mit der Welt verbinden, die sie umgibt. Das bedeutet nicht, dass man Kindern keine Ziele vorgeben oder von ihnen keine Leistungen erwarten kann, sondern dass man ihnen genügend Spielraum für ihre Eigenständigkeit einräumt" (42).

Teil 2 beschreibt frühkindliche Bildungsprozesse, wobei die Argumentation immer mit deutlich erkennbarem Bezug zu den im ersten Teil vorgebrachten Thesen erfolgt. Ästhetische Bildung, verstanden als Bildung der komplexen und stets individuellen Wahrnehmung bzw. Wahrnehmungserfahrung, stellt in diesem Konzept die Basis frühkindlicher Bildung dar. Schäfer rückt drei Formen der Wahrnehmung in den Blickpunkt: Wahrnehmung über die Fernsinne (Augen, Ohren, Nase), Körperwahrnehmung und emotionale Wahrnehmung. Bildung des sinnlichen Körpers sei die Bildung aller drei Sinne: "Die Fernsinne interpretieren die Wirklichkeit als Wirklichkeit außerhalb des Körpers. Die Wahrnehmungen über die Tast- und Körpersinne registrieren die Wirkungen, die eine Wirklichkeit auf den Körper selbst ausübt. Die Realität des Wahrgenommenen bleibt dabei relativ dunkel. Im Vordergrund steht die Antwort des Körpers. Die emotionale Wahrnehmung schließlich richtet sich auf ein Dazwischen, auf die Beziehungen zwischen einem Subjekt und etwas anderem. All diese Wahrnehmungsweisen wirken zusammen und entwerfen ein vielschichtiges Bild der menschlichen Wirklichkeit" (44).

Schäfer erörtert zudem die Bedeutung der Vorstellung (innere Bilder) und des Spiels für das ästhetische und das sprachliche Denken. Ästhetisches Denken wird als Prozess verstanden, "aus der Wahrnehmung ein Bild zu machen" (89). Ästhetische Bildung geht von der Bedeutung des Denkens in Bildern aus, weshalb Schäfer frühkindliche Bildung zuallererst als ästhetische Bildung deklariert. Die daraus resultierende Forderung lautet: "Lernen wir, besser wahrzunehmen" (95).

Im Teil 3 werden aus den vorangegangenen Überlegungen Schlussfolgerungen für die Gestaltung von Bildungsprozessen in Kindertagesstätten gezogen. Der Einsatz und die Weiterentwicklung von bei Kindern vorhandenen Selbstbildungspotenzialen (z.B. Forschendes Lernen) benötige sensibel wahrnehmende Bezugspersonen ebenso wie eine anregungsreiche und herausfordernde Umgebung. Zu den Voraussetzungen gelingender Bildungsarbeit zählt Schäfer hier dementsprechend die Rolle der Erzieher, der Raumgestaltung und des Tagesablaufs. Aber auch die Zusammenarbeit mit den Eltern wird als wesentliche Komponente für die bestmögliche Entwicklung und Förderung der Kindern hervorgehoben.

Abschließend schlagen die Autoren im Teil 4 Bildungsaufgaben für das Klientel der Kindertagesstätten vor, also für Kinder im Alter von drei bis sechs Jahren. Klar gegliedert werden verschiedene Selbstbildungskompetenzen auf vier wesentliche Elemente frühkindlicher Bildungsprozesse bezogen: Bewegung, Spielen und Gestalten, Sprache(n) sowie Natur und kulturelle Umwelt(en).

Tatsächlich werden die vorangehenden Überlegungen in konkrete pädagogische Aufgabenstellungen umgesetzt. Die Vorschläge der Autoren sind offenkundig anwendbar konkret formuliert. Eine kontinuierliche Weiterentwicklung der Vorschläge ist dennoch denkbar.

Hervorzuheben sind noch die Zusammenfassungen (teilweise gekoppelt an Thesen) am Ende der einzelnen Kapitel, in denen die wichtigsten Aussagen für die anschließende Erörterung gebündelt werden. So lässt sich eine positive Gesamteinschätzung des Buches abgeben, dessen Beschreibungen und Vorschläge zum frühkindlichen Bildungsprozess mit Sicherheit eine gute Anregung für Studierende und eine sehr brauchbare Anweisung für aufnahme- und umsetzungswillige Pädagogen und Eltern sind.


René Börrnert (Braunschweig)
Zur Zitierweise der Rezension:
René Börrnert: Rezension von: Schäfer, Gerd E. (Hg.): Bildung beginnt mit der Geburt, Förderung von Bildungsprozessen in den ersten sechs Lebensjahren, Weinheim, Basel, Berlin: Beltz Verlag 2003. In: EWR 3 (2004), Nr. 5 (Veröffentlicht am 05.10.2004), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/40756226.html