EWR 6 (2007), Nr. 2 (März/April 2007)

Edmund Hermsen
Faktor Religion
Geschichte der Kindheit vom Mittelalter bis zur Gegenwart
Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2006
(289 S.; ISBN 3-412-05906-4; 34,90 EUR)
Faktor Religion Die historische Kindheitsforschung hat sich heute disziplinär, methodisch und konzeptionell ausdifferenziert. Ihr Spektrum reicht von der Erschließung und Auswertung bislang unbekannter Quellen bis zu Versuchen einer konzeptionellen Neuinterpretation schon bekannter Befunde. Beinahe in Vergessenheit geraten sind die dieses Forschungsgebiet begründenden „großen Meistererzählungen“ über die Geschichte der Kindheit – z.B. Philippe Ariès’ Verfallsgeschichte des ursprünglich noch nicht scholarisierten und verhäuslichten, gemeinschaftsbetonten alteuropäischen Kinderlebens, die psychogenetische Fortschrittsgeschichte von Lloyd deMause über die sich von anfänglicher Feindseligkeit über Formen autoritärer Disziplinierung in Richtung auf Empathie und Unterstützung wandelnden Eltern-Kind-Beziehungen und die tiefenpsychologische Theorie von Norbert Elias über den vom Fremdzwang der physischen Gewalt zum Selbstzwang des Gewissens voranschreitenden Prozess der Zivilisierung des abendländischen Menschen.

In Anbetracht der zunehmenden Spezialisierung und Empirisierung der historischen Kindheitsforschung wirkt die Publikation einer Habilitationsschrift mit dem Untertitel „Geschichte der Kindheit vom Mittelalter bis zur Gegenwart“ eher irritierend und fragwürdig: Warum befasst sich der Autor noch mit der Untersuchung eines solch langen geschichtlichen Zeitraums? Welche neuen Aufschlüsse will er darüber überhaupt noch gewinnen? Und welche noch unbekannten Sachverhalte kann er zu ihrer Fundierung eigentlich präsentieren?

Der Religionswissenschaftler Edmund Hermsen nimmt Anstoß daran, dass in der historischen Kindheits- und Sozialisationsforschung die Bedeutung der Religion für die ideelle Konzeptualisierung und die institutionelle Ordnung der Kindheit sowie für die Ausgestaltung der Eltern-Kind-Beziehungen bisher noch nicht bearbeitet worden ist. Deshalb möchte er in seiner Studie rekonstruieren, wie Kindheit durch religiöse Konzeptionen und Praktiken geformt wird und wie Kindheitserfahrungen ihrerseits religiöse Auffassungen mitgestalten. Dabei geht er 1.) von dem anthropologischen Grundtatbestand der besonderen Bedeutung der Kindheit für die Überlieferung und Entwicklung aller Merkmale einer Kultur – auch ihrer spezifischen Religion – aus und spricht in diesem Transmissionsprozess den Praktiken des Umgangs der Erwachsenen mit den Kindern einen zentralen Stellenwert zu. Hermsen vertritt 2.) einen psycho-historischen Ansatz, um den Wandel der Eltern-Kind-Beziehungen innerhalb ihres spezifischen kulturellen Kontextes und ihrer religiösen Landschaft verstehen zu können. Grundlegend ist für ihn schließlich 3.) die religionssoziologische These von der Schlüsselbedeutung der Religion für die Herausbildung der „geistigen Grundstruktur“ der modernen Welt und damit auch der modernen Kindheit.

In einem stark ideen- und mentalitätsgeschichtlich geprägten Durchgang durch die Kindheitsformationen des Mittelalters, der Frühen Neuzeit, des bürgerlichen Zeitalters und der Moderne unternimmt es Hermsen, die Gestalten und Wirkungen des „Faktors Religion“ zu rekonstruieren. Hier können nur die zentralen Befunde grob skizziert werden. Im religiösen Diskurs des Mittelalters entsteht u. a. durch die Einführung der persönlichen Beichte sowie durch den Marienkult und die Verehrung des Jesuskindes eine neue Sicht auf die Kindheit, die aber angesichts der elenden Lebensbedingungen der allermeisten Kinder in der ständischen Gesellschaft (z.B. hohe Sterblichkeit, Weggabe an Ammen, schwere körperliche Arbeit) im Alltag nicht wirksam wird. Die zentralen Inhalte und Normen der Kultur und die Grundlagen christlicher Erziehung werden von den illiteraten Eltern durch Disziplin, Zwang und Körperstrafen an ihre Kinder weitergegeben.

Durch die konfessionelle Aufspaltung der christlichen Religion, die Wirkungen des Buchdrucks und die beginnende Scholarisierung wird in der Frühen Neuzeit die religiöse Sozialisation der Kinder sogar noch intensiviert. Sowohl die reformatorischen als auch die gegenreformatorischen Glaubensgemeinschaften prägen durch verstärkte Predigt- und Belehrungstätigkeit und mit ihrem spezifischen kultischen Instrumentarium den Kindern die christliche Kirchenzucht ein. Die Prediger in den Kirchen und die Hausväter im „Ganzen Haus“ verlangen von ihnen die Verinnerlichung der Gebote und Vorschriften sowie die Beichte ihrer Sünden. Zusätzlich soll die Angst vor Hexen und dem Teufel zum rechten Glauben und zum gottgefälligen Leben motivieren. Insgesamt wird durch diese religiösen Formen der Sozialdisziplinierung in den Kindern die „Domestikation und Durchrationalisierung des Spontanen“ (208) entscheidend vorangetrieben.

Im bürgerlichen Zeitalter der Aufklärung setzt sich der Individualisierungsprozess weiter fort. Die Kinder erfahren vor allem in der privaten Sphäre der bürgerlichen Kernfamilie eine zunehmende Wertschätzung und werden immer mehr zu Klienten professioneller Erzieher. Diese „Pädagogisierung“ der Kindheit wird noch von theologischen Reformern eingeleitet, die an der Erbsündenlehre festhalten. Mit der Emanzipation der aufgeklärten Pädagogik von der Theologie wird das Verhältnis zu den Kindern dann aber stärker von einer optimistischen Anthropologie bestimmt. Kindheit wird als eine natürliche Ressource entdeckt, von deren planmäßiger Disziplinierung, Kultivierung und Moralisierung die Zukunft der Gesellschaft entscheidend abhängig ist. In den Erziehungslehren der Aufklärungspädagogen des 18. Jahrhunderts werden allerdings in der religionspsychologischen Perspektive Hermsens die Normen und Formen der christlichen „Sozialdisziplinierungspraxis“ mutatis mutandis fortgeschrieben.

Mit der beginnenden methodischen Beobachtung der Entwicklung der (eigenen!) Kinder setzt nun die „Psychologisierung“ der Kindheit ein, welche zur Herausbildung der wissenschaftlichen Psychologie im 19. Jahrhundert zu Beginn der Moderne führt. In der ontogenetischen Entwicklung der Kinder sehen die Psychologen – von Spencer über Wundt bis zu Piaget – die zeitlich verkürzte Rekapitulation der phylogenetischen Entwicklung der menschlichen Gattung. Für Hermsen verbirgt sich auch noch hinter dieser einflussreichen, post-hegelianisch säkularisierten Evolutionslogik ein religiöses Zeitmodell – die auf Augustinus zurückführende linear-irreversible Zeitauffassung der christlichen Heilsgeschichte mit ihren verschiedenen Weltaltern. Die Parallelisierung von kindlicher Ontogenese und menschheitlicher Phylogenese verspricht auch einen pädagogischen Gewinn, denn die Psychologie beschreibt mit ihren Konzepten und Ergebnissen nicht nur die Entwicklung der Kinder, sie normiert damit zugleich deren Erziehung. Weil ihr Entwicklungsbegriff selber normativ und einseitig auf die kognitiven Leistungen der Kinder ausgerichtet ist, kann sie in der pädagogischen Praxis disziplinierend wirken. Obwohl die Beziehung zur Religion vordergründig unsichtbar geworden ist, wird hier „erneut die lange – und bleibende – Tradition christlicher Glaubensdisziplinierung ersichtlich, die in die innerhalb der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft geforderte kognitive Entwicklung eingeflossen ist“ (174).

Erst Sigmund Freud vollzieht am Beginn des „Jahrhundert des Kindes“ durch die Erforschung des Unbewussten, der kindlichen Sexualität und der biographischen Schlüsselstellung der frühen Kindheit einen Bruch mit dem bürgerlichen Kindheitskonzept und seiner kognitiven Entwicklungspsychologie. Gleichwohl hält er – wie auch z.B. sein interkulturell versierter Nachfolger Erik Erikson – letztendlich an dem „Stufenmodell der westlichen Moderne“ mit seiner Zentralstellung des rationalen Ich fest.

Im Lichte der historischen Religionspsychologie stellt die Geschichte der Kindheit in der Moderne und ihre wissenschaftliche Erforschung für Hermsen „eine konsequente Weiterentwicklung der jüdisch-christlichen Tradition“ (210) dar. Denn das Christentum hat ein ambivalentes, zwischen Erbsünde, Demut und Gottesebenbildlichkeit ausgespanntes Kindheitsmodell generiert, welches seit dem Mittelalter die Individualisierung, Pädagogisierung und psychologische Erforschung der Kinder ermöglicht hat. Dieser psychohistorische Transformationsprozess ist auch heute noch nicht abgeschlossen. Seine Eigentümlichkeit würde erst vollends deutlich, wenn man ihn mit den Geschichten der Kindheit in anderen Religionen, Kulturen und Zeiträumen vergleichen könnte.

Insgesamt gesehen hat Edmund Hermsen in seiner primär ideengeschichtlich angelegten Studie die Bedeutung des „Faktors Religion“ in der westeuropäischen Kindheitsgeschichte durchaus nachweisen können und damit die älteren Gesamtdarstellungen von Ariès, deMause und Elias um eine wichtige Dimension ergänzt. Der pädagogische Leser hätte sich dazu allerdings noch eine Erläuterung über den hier verwendeten Religionsbegriff gewünscht. Die von Hermsen postulierte Zentralstellung der christlich-jüdischen Tradition in der Geschichte der Kindheit kann er überzeugend bis zum Zeitalter der Aufklärung belegen, ohne hierzu allerdings neue Sachverhalte zu präsentieren. Die Behauptung von der gleichsam unterschwelligen weiteren Präsenz der christlichen Religion auch noch in den modernen Eltern-Kind-Beziehungen und in den Konzepten der psychologischen Kindheitsforschung wirkt indes eher spekulativ. Mit seiner religionspsychologischen Schlüsselattitüde läuft der Autor Gefahr, den historischen Gegebenheiten und Abläufen ein Zuviel an Homogenität und Kontinuität zu unterstellen. So übersieht er in seiner Rede von dem christlichen Kindheitsmodell auch dessen Heterogenität, z.B. die unterschiedlichen Einflüsse der gnostisch-häretischen und antik-heidnischen Vorstellungen auf den abendländischen Diskurs über das Kind, wie sie in der Literatur bereits behandelt wurden [1]. Wenn man manche der vorschnellen religionspsychologischen „Erklärungen“ Hermsens in den Status von Hypothesen zurückstuft, können sie evtl. produktive Anstöße für neue historische oder kulturell vergleichende Einzelstudien geben. Hierfür allein hätte sich die Lektüre dieses intellektuell anregenden Werkes schon gelohnt.

[1] Baader, Meike Sophia (2005): Erziehung als Erlösung. Transformationen des Religiösen in der Reformpädagogik. Weinheim, München: Juventa.
Ullrich, Heiner (1999): Das Kind als schöpferischer Ursprung. Studien zur Genese des romantischen Kindbildes und zu seiner Wirkung auf das pädagogische Denken. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.
Heiner Ullrich (Mainz)
Zur Zitierweise der Rezension:
Heiner Ullrich: Rezension von: Hermsen, Edmund: Faktor Religion, Geschichte der Kindheit vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2006. In: EWR 6 (2007), Nr. 2 (Veröffentlicht am 28.03.2007), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/41205906.html