EWR 3 (2004), Nr. 4 (Juli/August 2004)

Wladimir SĂŒss
Das Schulwesen der deutschen Minderheit in Russland
Von den ersten Ansiedlungen bis zur Revolution 1917
Köln, Weimar, Wien: Böhlau Verlag 2004
(384 Seiten; ISBN 3-412-07003-3; 39,90 EUR)
Das Schulwesen der deutschen Minderheit in Russland Mit der vorliegenden Schrift hat sich der Autor das Ziel gesetzt, zunĂ€chst den "Entwicklungsprozess der deutschen Kolonistenschule als eine historische Erscheinung aufzudecken", dann die Spezifik dieses Prozesses herauszuarbeiten, eines Prozesses, der "einerseits durch die Stellung der deutschen Kolonisten als nationale Minderheit, andererseits durch die Eigenart der Beziehungen zwischen Deutschland und Russland in verschiedenen historischen Perioden bedingt ist", und schließlich "die Eigenart der Kolonistenschule als die einer Institution zu zeigen, die zur Erhaltung der MentalitĂ€t der deutschen Minderheit, ihrer Sitten, BrĂ€uche und Traditionen beitrug und die Integration in die Gesellschaft Russlands förderte." Die Darstellung der Errichtung und Entwicklung der Kolonistenschulen soll vor dem Hintergrund bestimmter soziokultureller Bedingungen erfolgen, wie sie der Autor in den sich wandelnden Beziehungen zwischen Russland und Deutschland, in dem sich verĂ€ndernden Verhalten der russischen Gesellschaft zu den fremdstĂ€mmigen Schulen, in der Bildungspolitik der Zarenregierung sowie im Verhalten der lokalen Bildungs(selbst)verwaltungen gegenĂŒber den Kolonistenschulen erkennt (21/22). Auf zwei wichtige EinschrĂ€nkungen weist der Autor gleich zu Beginn seiner Arbeit hin, nĂ€mlich auf den Betrachtungszeitraum (1764-1917) sowie, unter geografischem Aspekt, auf die Kolonistenschulen im Wolga- und Schwarzmeergebiet. Als Forschungsmethoden, so der Autor, sollen die kulturhistorische Analyse zur Feststellung von "Ursachen fĂŒr die Entstehung und Entwicklung der deutschen Schulen" sowie die vergleichende Analyse zur Darstellung der "qualitativen Eigenart der Schulen", des "Gemeinsamen und Besonderen auf verschiedenen Etappen ihrer Entwicklung" dominieren. Seine gesamte Betrachtungsweise bezeichnet der Autor als "kulturologisch" und definiert diese, von einem ausgedehnten Kulturbegriff ausgehend, als "Charakterisierung der sozialen, politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und anderen Verbindungen", welche die Schulentwicklungen begĂŒnstigten und steuerten und insgesamt eine Betrachtung dieser Entwicklungen in einem "rĂ€umlich-zeitlichen Kulturumfeld" ermöglichen (24).[1]

Die Gliederung der Schrift ist sehr detailliert und ĂŒbersichtlich und lĂ€sst vorab schon die logischen GedankengĂ€nge des Autors erkennen. Im Anhang fĂŒgt SĂŒss gesetzliche Vorschriften, allgemeine Regeln fĂŒr den Unterricht, LehrplĂ€ne, Schulordnungen und Instruktionen an, welche die vorhergehende Analyse sinnvoll ergĂ€nzen. Es schließen sich ein sehr ausfĂŒhrliches Quellen- und Literaturverzeichnis sowie ein Personen- und Ortsregister an.

Der eigentlichen Analyse stellt der Autor einen Überblick ĂŒber die vorhandene Literatur zur Erforschung der Kultur und Entwicklung der Russlanddeutschen voran und konstatiert einen "fragmentarischen Zustand" und die "UnzulĂ€nglichkeit der Analysen und RĂŒckschlĂŒsse ĂŒber die Wechselwirkung der deutschen und russischen Kultur." Dieser Befund ĂŒberrascht, wenn man zuvor einen Blick auf die ĂŒberaus große FĂŒlle an Literatur in den Fußnoten und im thematisch geordneten, mehr als dreißig Seiten umfassenden Quellenverzeichnis geworfen hat und wenn man zudem aus anderen Quellen bzw. eigenem Erleben die Vielzahl von internationalen Publikationen zu diesem Thema in Betracht zieht. Darin, das ist allerdings wahr, kann die Forschung zu den (deutschen) Minderheitenschulen im 18. und 19. Jahrhundert vor allem unter qualitativem Aspekt als unzureichend bezeichnet werden, v.a. was die Systematik und die Darstellung von EntwicklungszusammenhĂ€ngen anbelangt, wenngleich hier auch bereits zahlreiche Publikationen zu einzelnen Schulen oder Reformmaßnahmen vorliegen.

Im ersten der zwei Hauptkapitel mit der Überschrift "Entstehung und Entwicklung deutscher Kolonien in Russland" geht es u.a. um die Darstellung der soziokulturellen und bildungspolitischen Situation in Russland, um die AuslĂ€nderpolitik der Zarenregierung seit der Epoche Peters des Großen, d.h. ab dem beginnenden 18. Jahrhundert, wĂ€hrend der Regentschaft Katharina II. sowie wĂ€hrend der gegen Ende des 19. Jahrhunderts einsetzenden Russifizierung der deutschen Kolonien seitens der Zarenregierung. In diese Analyse sind Darstellungen insbesondere zu den kulturellen und akademischen Beziehungen zwischen Russland und Deutschland in jenem Zeitraum eingebettet, so z.B. zur Rezeption des deutschen Philanthropinismus in Russland, zum ‚Import‘ von pĂ€dagogischem Wissen, Personal und Reform-know-how. Einen breiten Raum nehmen hier bereits die ersten SchulgrĂŒndungen durch Deutsche bzw. mit deutscher UnterstĂŒtzung ein, wie etwa die der Petrischule in Sankt Petersburg im Jahr 1710, an der u.a. A.F. BĂŒsching als Direktor arbeitete, bevor er in Berlin die Leitung des Gymnasiums zum Grauen Kloster ĂŒbernahm. Die nach dem Muster eines deutschen Realgymnasiums eingerichtete Schule konnte sich, wie einige andere deutsche Kirchenschulen auch, insgesamt eines guten Rufes erfreuen und war vor allem fĂŒr Angehörige der russischen Mittel- und Oberschicht attraktiv (54 u. 57). Gerade im Hinblick auf diese Thematik liegt das Verdienst von SĂŒss darin, die FĂŒlle vorhandener historischer Fakten aus zahlreichen Publikationen aufgegriffen, zusammengefasst und durch Archivmaterialien ergĂ€nzt zu haben.

In einem ZwischenresĂŒmee stellt der Autor fest, dass Russland in der ersten HĂ€lfte des 18. Jahrhunderts mit "Unvoreingenommenheit" auf deutsche Wissenschaftler, PĂ€dagogen und Institutionen beim Ausbau seines Bildungssystems zurĂŒckgegriffen hat und dass diese Kooperation fĂŒr beide Partner vorteilhaft war: Deutsche fanden in Russland gute Arbeitsmöglichkeiten und Russland profitierte von ihnen im Rahmen des kulturellen Aufschwungs (66/67). Die weiteren Darstellungen innerhalb des ersten Hauptkapitels zur Geschichte der deutschen Kolonien und zur zaristischen Ansiedlungspolitik sind zwar recht interessant und verdeutlichen vielfach den historischen Hintergrund, sprengen aber teilweise den mit dem Titel des Buches vorgegebenen thematischen Rahmen, etwa dann, wenn es um die soziokulturelle Situation in Deutschland in der ersten HĂ€lfte des 19. Jahrhunderts (Kap. 1.3.1.) oder allgemein um VorgĂ€nge und Begebenheiten im Zuge der Ansiedlung geht. Dies erscheint selbst fĂŒr die vom Autor intendierte kulturologische Betrachtungsweise als zu weit ausgeholt. Die Funktion dieser Passagen ist nicht immer klar und der Analysebefund ist – nicht zuletzt auch wegen der ĂŒberwiegend verwendeten SekundĂ€rliteratur – nicht sehr aufregend, selbst wenn damit die Suche nach Motiven fĂŒr die Migration der Deutschen verbunden wird. Die Aussage, dass zahlreiche deutsche Bauern und Handwerker in Russland bessere Existenz- und Arbeitsbedingungen erhofften, als dies im feudal zersplitterten Deutschland der Fall war, ist sehr allgemein und nicht neu.

Im zweiten Hauptkapitel wendet sich SĂŒss der Entstehung und Entwicklung der Kolonistenschulen zu, wie es der Titel des Buches verkĂŒndet. Hier geht es dem Autor um die kurze Charakterisierung des russischen Schulwesens (Grundstruktur, Schultypen, TrĂ€gerschaft), beginnend mit den Reformen unter Peter I., und um die Darstellung des langwierigen Prozesses der Einrichtung der Kolonistenschulen sowie um deren wechselhafte Geschichte im Wolga- und Schwarzmeergebiet. Innerhalb der Darstellung erfĂ€hrt der Leser viele interessante Details aus dem Leben einzelner Schulen, aus der Arbeit der Schulmeister bzw. KĂŒsterlehrer und vor allem ĂŒber den nicht immer so wohlwollenden, oft im Widerspruch zur zentral-staatlichen Bildungspolitik stehenden Umgang gouvernementaler bzw. lokaler EntscheidungstrĂ€ger im Bildungsbereich mit diesen Schulen. Der Autor lĂ€sst an Beispielen deutlich werden, wie es zu diversen RĂ€nkespielen zwischen den beiden Verwaltungsebenen kam (266). Ein gewisser argumentativer Widerspruch zeigt sich, wenn einerseits die Kolonistenschulen als "zentrale Organisation" (149) fĂŒr das gesamte Leben in den deutschen Kolonien charakterisiert werden, andererseits aber die oft schlechten Lernbedingungen (zu wenig RĂ€ume, kurze Unterrichtszeit, viel Stundenausfall, zahlreiche VersĂ€umnisse trotz verfĂŒgter Pflicht zur Teilnahme am Unterricht, altersheterogene Klassen, schlechte Ausbildung vieler Lehrer) und letztlich die geringe Effizienz des Unterrichts beklagt werden (157, 193, 225).

Wenn die deutschen Aussiedler anfangs sehr willkommen waren und ohne grĂ¶ĂŸere Restriktionen ihre Schulen zum Zweck des Weiterlebens ihrer Traditionen in einem fĂŒr sie fremden soziokulturellen Umfeld errichten konnten, so Ă€nderten sich die Lebensbedingungen fĂŒr die deutschen Kolonisten im ausgehenden 19. Jahrhundert, sie wurden nicht mehr so unvoreingenommen akzeptiert, ihre Kultur und Schulen immer weniger toleriert. Im Rahmen sich verstĂ€rkender nationalistischer Tendenzen und einer generellen Russifizierung der bislang nicht-russischen Teile des Zarenreiches verstĂ€rkten sich nunmehr auch die Versuche seitens der Bildungsadministration, flĂ€chendeckend Russisch als Unterrichtssprache durchzusetzen (bis hin zum Verbot des Deutschen als Unterrichtssprache per Verordnung des Ministerrates im Juli 1916, 283) und die relative Autonomie der (deutschen) Kolonistenschulen drastisch zu beschneiden, was seitens dieser Schulen Reaktionen zwischen Opposition und Opportunismus hervorrief. Hatte man zuvor die (mutter)sprachlichen Defizite der SchĂŒler einfach toleriert, so beklagte man nun öffentlich, dass die SchĂŒler der Kolonistenschulen weder ĂŒber ein korrektes Deutsch noch ĂŒber ein verstĂ€ndliches Russisch verfĂŒgten (233). Hinzu kam, dass deutsche Lehrer sukzessive durch Lehrer "rechtglĂ€ubiger russischer Abstammung" ersetzt wurden (267). Vor allem wĂ€hrend des ersten Weltkrieges wurden die deutschen Aussiedler und ihre Schulen zu Opfern der politischen Entwicklungen und einer tiefen Aversion gegenĂŒber dem Aggressor. Ganz im Gegensatz zu dem den deutschen Aussiedlern gezeigten Wohlwollen seitens der russischen Gesellschaft ca. 150 Jahre zuvor, stellte jetzt allein schon ihre Anwesenheit eine Bedrohung fĂŒr Russland dar. Diesen grundlegenden Wandel im Hinblick auf die Akzeptanz deutscher Aussiedler und deren Schulen hat Wladimir SĂŒss in seiner Schrift sehr gut herausgearbeitet und historisch-empirisch belegt. Gleichwohl hĂ€tte dies im Hinblick auf die gesellschaftliche Position der deutschen Aussiedler und insbesondere die Stellung der Kolonistenschulen durchaus noch pointierter geschehen können.

In einigen Analyseteilen erscheint sowohl die Ansiedlung der Deutschen als auch die Einrichtung ihrer Schulen wie ein Spaziergang durch die Geschichte. Keine Probleme? Keine WiderstĂ€nde? Ganz sicher gab es anfĂ€nglich eine starke Unvoreingenommenheit und Sympathie bei zahlreichen Russen gegenĂŒber den Neuankömmlingen aus dem Westen, weil sie aus der Sicht einiger politischer Verantwortlicher in einer von gravierender RĂŒckstĂ€ndigkeit gekennzeichneten Gesellschaft als ‚Entwicklungshelfer‘ einfach gebraucht wurden und man ihre Tugenden schĂ€tzte. Man sollte dabei aber nicht vergessen, dass es spĂ€testen seit Peter I. auch immer breite, politisch oft sehr einflussreiche Schichten in der russischen Gesellschaft gegeben hat, die aus unterschiedlichen Motiven und Überzeugungen heraus allem Westlichen gegenĂŒber grĂ¶ĂŸtes Misstrauen oder gar tiefen Hass hegten. Im 19. Jahrhundert brach unter den Intellektuellen der Konflikt zwischen den Zapadniki, den BefĂŒrwortern westlicher Ideen, und den Slawophilen, den Bewahrern russisch-orthodoxer Tradition, offen aus. Danilevskij trat 1871 mit seiner Lehre von der Kulturtypen an die Öffentlichkeit, in welcher er die Überlegenheit des slawisch-russischen Kulturtyps begrĂŒndete und fĂŒr den westlich-abendlĂ€ndischen nur negative Attribute fand.[2] Blieben die deutschen Kolonistenschulen als ‚Festungen‘ westlicher Kultur und abendlĂ€ndisch-christlicher Religion von all diesen Entwicklungen und Ideen unberĂŒhrt? Völlig außer Betracht bleibt auch die Rolle der russischen Orthodoxie. Es ist kaum anzunehmen, dass diese dem Entstehen und Wirken von deutschen nichtorthodoxen Kirchenschulen, den ‚Vorposten‘ protestantischer Religion, tatenlos zugesehen hat, wenn man weiß, dass sie ansonsten keine Mittel scheute, um der RechtglĂ€ubigkeit flĂ€chendeckend zum Durchbruch zu verhelfen und damit ihre Machtpositionen zu sichern. Durch Einbezug dieser Analyseperspektive hĂ€tte man die Ebene der reinen Deskription bzw. historisch-phĂ€nomenologischer Betrachtung verlassen und die Analyse noch an Substanz und Spannung gewinnen können.

Der eigentliche Mangel der Arbeit liegt darin, dass es ihr an einem Theorierahmen fehlt, der hier in idealer Weise mit der Modernisierungstheorie gegeben gewesen wĂ€re. Russland stellte seit Peter I. den historisch ĂŒberaus interessanten und fĂŒr jegliche Analysen höchst ergiebigen Fall einer autokratisch ‚von oben‘ initiierten Modernisierung dar. Vor diesem Hintergrund erklĂ€rt sich das Bestreben des Zaren, spĂ€ter auch Katharina II., westliche Reformimpulse unterschiedlichster Art nach Russland zu lenken. Die Modernisierung des Landes nach westlichem Vorbild sollte vor allem der Sicherung der politischen Machtstrukturen im Innern und der Erreichung bzw. Konsolidierung einer Weltmachtposition dienen. Die von SĂŒss ĂŒbernommene Aussage, wonach der Zar mit seiner Politik "dem Wohl des Volkes" dienen sollte (29), war rein programmatisch, um nicht zu sagen demagogisch, entsprach m.E. aber zu keinem Zeitpunkt den wahren politischen Zielen und schon gar nicht den Praktiken der zaristischen MachtausĂŒbung. Bei all dem Streben nach ModernitĂ€t stießen die modernisierungswilligen Monarchen aber, im Vergleich mit westlichen Gesellschaften, auf ein handfestes Problem. WĂ€hrend sich im Westen sukzessive das BĂŒrgertum als wichtigster TrĂ€ger und Akteur der Modernisierung herausgebildet hatte, gerade auch im Zuge der AufklĂ€rung, existierte ein solcher sozialer TrĂ€ger in Russland nicht. Es hĂ€tte Generationen gedauert, bis eine solche soziale Schicht entstanden wĂ€re, wenn ĂŒberhaupt. Zudem hatten die absolutistischen Herrscher naturgemĂ€ĂŸ kein all zu großes Interesse an einem – im westlichen Sinne - gebildeten und aufgeklĂ€rten BĂŒrgertum, welches, einmal an der Macht, sich sehr schnell der Könige und Kaiser entledigte. Die zahlenmĂ€ĂŸig sehr starke, aber ungebildete und unfreie Bauernschaft schied fĂŒr den Zaren von vornherein als Akteur des Modernisierungsgeschehens aus. Angesichts dieses Dilemmas schöpfte Peter I. nicht nur in ganz pragmatischer Weise Modernisierungsimpulse aus westlichen LĂ€ndern ab, sondern lockte von dort Menschen in sein Land, importierte quasi personifiziertes Modernisierungspotential. Ein interessanter politischer Trick, den es in der Weltgeschichte wohl nicht sehr oft gegeben hat.

In einigen modernisierungstheoretischen Schriften bzw. historischen Analysen zur Modernisierung in einzelnen LĂ€ndern oder Regionen wird dezidiert auch auf die Dynamisierungsfunktion verwiesen, welche Bildung und Schule innerhalb des komplexen und vielschichtigen Prozesses gesellschaftlicher Modernisierung idealerweise ausĂŒben sollten (u.a. "creating skilled and viable workforce"[3]). Genau aus diesem Grunde konnten sich die Schulen der deutschen Siedler in Russland zunĂ€chst auch ungehindert etablieren. Nur so kann erklĂ€rt werden, dass sie sich ĂŒberhaupt entwickeln konnten. Die in SĂŒss‘ Schrift mehrfach völlig zu Recht hervorgehobene Rolle dieser Schulen bei der Tradierung deutscher Kultur und Lebensweise ist dann eigentlich nur noch sekundĂ€r. Den zaristischen Herrschern war durchaus klar, dass sie die deutschen Siedler nur zum Bleiben veranlassen und sie somit ĂŒber einen lĂ€ngeren Zeitraum als Vehikel ihrer von oben initiierten Modernisierung instrumentalisieren konnten, wenn die Siedler sich auch wohlfĂŒhlen konnten. ZugestĂ€ndnisse unterstĂŒtzen erfahrungsgemĂ€ĂŸ dieses GefĂŒhl.

Dieser hier sehr grob umrissene Ansatz birgt ein wichtiges ErklĂ€rungspotential in sich und ermöglicht im RĂŒckgriff auf die zahlreichen historischen Fakten und VerlĂ€ufe, jene verdeckten Ursachen und tieferliegenden KausalzusammenhĂ€nge herauszuarbeiten, die bei der separaten und ĂŒberwiegend phĂ€nomenologischen Betrachtung der sozialen, politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Bedingungen fĂŒr das Entstehen der deutschen Ansiedlungen und ihrer Schulen - so wichtig diese fĂŒr sich genommen sind - weitgehend verdeckt bleiben. Selbst in den ZwischenresĂŒmees und in den Zusammenfassungen findet sich bedauerlicherweise kein Hinweis auf dieses Modernisierungsvorhaben und kein Bezug zur Modernisierungstheorie.

Die Modernisierungstheorie hĂ€tte auch einen ErklĂ€rungsansatz fĂŒr die in Russland ganz sicher vorhandenen – in der Analyse hingegen kaum angesprochenen – WiderstĂ€nde sowohl gegen die initiierte Modernisierung ‚von oben‘ als auch gegen die Etablierung deutscher Siedlungen und Schulen in ihrer Funktion als ‚Modernisierungsinseln mit Außenwirkung‘ geboten. Jede Modernisierung vollzieht sich in den spannungsgeladenen Diskurs- und Aktionsfeldern der Modernisierer einerseits und Modernisierungsgegner andererseits. Zahlreiche russische Intellektuelle und vor allem die Orthodoxie erwiesen sich permanent als engagierte Verhinderer von ModernitĂ€t, und dies um so vehementer, wenn mit ihr eine Verwestlichung drohte[4]. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts, gerade auch in Folge der Reformen ab den 1860er Jahren, insbesondere aber zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte vor allem die ökonomische Entwicklung Russlands eine beachtliche Eigendynamik erlangt – ein Grund mehr, den im Land siedelnden Deutschen klar zu machen, dass sie eigentlich nicht mehr benötigt werden. Der Mohr hatte seine Schuldigkeit getan. Die bereits erwĂ€hnten nationalistischen Tendenzen und letztlich der von Deutschland begonnene Krieg boten weitere AnlĂ€sse fĂŒr die Marginalisierung der anfĂ€nglich so hoch geschĂ€tzten – weil dringend benötigten - deutschen Aussiedler und verstĂ€rkten die Aversionen ihnen gegenĂŒber. So lassen sich innerhalb des modernisierungstheoretischen Rahmens auch die Repressionen und der Niedergang des relativ autonomen Schulwesens der deutschen Minderheiten erklĂ€ren, eines Prozesses, der letztlich unter Stalin seinen brutalen Abschluss finden sollte.

Das Fehlen des modernisierungstheoretischen Rahmens hat auch zur Folge, dass der vom Autor angekĂŒndigte Vergleich wirklich nur auf der Ebene des GegenĂŒberstellens einzelner PhĂ€nomene verbleibt, so interessant die unterschiedlichen Charakteristika der prĂ€sentierten Schulen auch sind. Dies ist zwar ein wichtiger, aber nur ein erster Schritt in Richtung eines hypothesengeleiteten Vergleichs im streng wissenschaftlich-komparatistischen Sinn, der "does not consist in relating observable facts but in relating relationships or even patterns of relationships to each other."[5] Das heißt fĂŒr die vorliegende Analyse: Der wissenschaftliche Vergleich kann sich nicht darauf beschrĂ€nken z.B. SchulgrĂ¶ĂŸe, Dauer des Schuljahres, SchĂŒlerzahlen, LehrplĂ€ne etc. gegenĂŒberzustellen (u.a. 193; 224), sondern er muss die unterschiedlichen Ursachen und EntwicklungszusammenhĂ€nge herausarbeiten, welche zu eben diesen unterschiedlichen PhĂ€nomenen gefĂŒhrt habe und diese möglichst typisieren.

Abschließend soll nochmals positiv hervorgehoben werden, dass Wladimir SĂŒss eine Schrift vorgelegt hat, die einen interessanten Abschnitt der russischen bzw. russisch-deutschen Bildungsgeschichte in seiner wechselvollen Entwicklung sehr anschaulich darstellt. Das Buch besticht durch seinen hohen Informationsgehalt vor allem im Hinblick auf die bis in Detail gehenden historischen Fakten, so dass man der Rekonstruktion eines Gesamtbildes, wie vom Autor selber intendiert (23), ein gutes StĂŒck nĂ€hergekommen ist. Die als Ziel formulierte Charakterisierung der Entwicklung der Kolononistenschulen als eine historische Erscheinung ist durch die Einordnung der Fakten und Details in politisch-gesellschaftliche, soziokulturelle und bildungspolitische Rahmenbedingungen gut gelungen. Sehr ĂŒberzeugend und wiederum bis ins Detail gehend sind der Prozess der Entstehung sowie die Eigenart der Schulen in den beiden Ansiedlungsgebieten und insbesondere ihre Funktion und Wirksamkeit innerhalb der deutschen Kolonien herausgearbeitet worden. Eine modernisierungstheoretische Rahmung hĂ€tte der Arbeit gleichwohl gut getan.

Anmerkungen:

[1] Die Kulturologie ist eine in Russland gegenwÀrtig stark verbreitete sozialwissenschaftliche Teildisziplin. Die Kulturologie kommt der in Deutschland eher bekannten Kultursoziologie sehr nahe.

[2] Nikolai Jakovlevitsch Danilevskij: "Rossija i Evropa" (Sankt Petersburg: Glagol‘-Verlag der Petersburger UniversitĂ€t 1995, Neuauflage des 1871 erstmalig erschienenen Buches), insbes. 77f. und 398f.

[3] Ingemar FĂ€gerlind & Lawrence J. Saha: Education and National Development. A Comparative Perspective (Oxford/New York: Pergamon Press 1989), 55f. Insbesondere fĂŒr die Modernisierung in Russland liefert Guy Hunter: Modernizing Peasant Societies. A Comparative Study in Asia and Africa (New York/London: Oxford University Press 1969) interessante Interpretationshilfen.

[4] Vgl. u.a. Clemens Friedrich: "Mentale Blockaden gegen eine gesellschaftliche Modernisierung. Die Differenzierungsfeindschaft der russischen Philosophie", in Roggemann/Sundhausen: Ost- und SĂŒdosteuropa zwischen Tradition und Aufbruch (Wiesbaden: Harrassowitz 1996), 33-52.

[5] JĂŒrgen Schriewer: "The method of comparison ans the need for externalization: methodological criteria and sociological concepts", in JĂŒrgen Schriewer/Brian Holmes (eds.): Theories and Methods in Comparative Education (Frankfurt a.M. u.a.: Peter Lang 1988), S.25-83, hier 33/34. Bereits bei M. Weber finden wir die Aussage, wonach "nicht die sachlichen ZusammenhĂ€nge der Dinge, sondern die gedanklichen ZusammenhĂ€nge der Probleme" Arbeitsgebiet der Wissenschaft und damit Gegenstand der wissenschaftlichen Analyse sein mĂŒssten. Max Weber: Schriften zur Wissenschaftslehre (Stuttgart: Philipp Reclam jun. 1991), 44.
JĂŒrgen Wichmann (Berlin)
Zur Zitierweise der Rezension:
JĂŒrgen Wichmann: Rezension von: SĂŒss, Wladimir: Das Schulwesen der deutschen Minderheit in Russland, Von den ersten Ansiedlungen bis zur Revolution 1917, Köln, Weimar, Wien: Böhlau Verlag 2004. In: EWR 3 (2004), Nr. 4 (Veröffentlicht am 05.08.2004), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/41207003.html