EWR 4 (2005), Nr. 3 (Mai/Juni 2005)

Carola Groppe
Der Geist des Unternehmertums
Eine Bildungs- und Sozialgeschichte
Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2004
(597 S.; ISBN 3-412-11004-3; 74,90 )
Der Geist des Unternehmertums "How to make entrepreneurs?" ist die leitende Frage, der Carola Groppe in ihrer Habilitationsschrift nachgeht. Ihre Forschungsfrage – wie werden Unternehmer ‚gemacht’? – entwickelt Groppe auf der Grundlage des ungewöhnlich umfangreichen Quellenmaterials der Seidenfabrikantenfamilie Colsman im Bergischen Land, die seit Mitte des 18. Jahrhunderts bis heute in der achten Generation ihr Unternehmen eigenverantwortlich leitet. Vorliegende Arbeit ist der erste, den Zeitraum 1649-1840 umfassende Band einer mikrohistorisch angelegten bildungs- und sozialhistorischen Familienbiographie, deren geplante Fortsetzung bis in das frühe 20. Jahrhundert führen wird. Die Arbeit "Der Geist des Unternehmertums" ist interdisziplinär angelegt, versteht sich aber vor allem als bildungshistorischer Beitrag zur Genese des Bürgertums und seiner Denk- und Verhaltensformen sowie als erziehungswissenschaftlicher Beitrag zur Unternehmensforschung im Rahmen der Sozialisationsforschung. Die Auswahl des Untersuchungsgegenstandes – die Unternehmerfamilie Colsman – begründet sich durch das dichte Quellenmaterial, die außergewöhnlich lange und kontinuierliche unternehmerische Tradition und der unternehmensbürgerlichen Normalität der Familie, anhand derer die Forschungsfrage exemplarisch beantwortet werden soll.

"Niemand wird als Unternehmer geboren" (1), stellt Groppe einleitend fest. Sie behauptet stattdessen, dass ‚Unternehmer sein’ das Resultat vielfältiger Erziehungs-, Bildungs- und Sozialisationsprozesse sei. Mit dieser These greift sie ihr Dissertationsthema "Die Macht der Bildung" auf und untersucht das Quellenmaterial bezüglich der eingangs aufgestellten Frage unter dem Aspekt der Bildung. Welche Faktoren müssen zusammentreffen, damit ein Unternehmen langfristig erfolgreich sein kann, die jeweils Leitenden des Unternehmens erfolgreiche Unternehmer werden können? Mit der Formulierung der Fragestellung deutet sich die Absicht von Carola Groppe an, den Nachweis zu führen, dass die ‚Macht der Bildung’, also die "familialen, schulischen und gesamtgesellschaftlichen Sozialisationsprozesse" die entscheidenden Faktoren sind, die unternehmerischen Erfolg ermöglichen (1f.). Mit ihrer Arbeit erfüllt Groppe ein Forschungsdesiderat, da der Prozess des ‚Unternehmerwerdens’ in den Disziplinen Erziehungswissenschaft, Geschichtswissenschaft, Soziologie und Wirtschaftswissenschaft bislang noch nicht untersucht wurde und Erziehungs- und Sozialisationsprozesse als komplexe Bedingungsgefüge des ‚Unternehmerwerdens’ in Untersuchungen zum Unternehmertum bisher keine Berücksichtigung fanden (2).

Mit der die Arbeit durchziehenden Leitfrage "How to make entrepreneurs?" sollen Erziehungs-, Bildungs- und Sozialisationsprozesse vor dem Hintergrund des politischen, sozialen, ökonomischen und kulturellen Wandels in den ersten fünf Unternehmergenerationen der Colsmans zwischen 1649 und 1840 untersucht werden. Wie entsteht in den jeweiligen Generationen und vor dem Hintergrund der sich generationsspezifisch wandelnden unternehmerischen Aufgabenfelder und Arbeitswelten die jeweilige unternehmerische, bürgerliche und persönliche Identität und Handlungskompetenz im männlichen und weiblichen Sozialisationsprozess? Wie entwickelt bzw. verändert sich innerhalb der ständischen Gesellschaft generationsspezifisch ein genuin bürgerlicher Habitus? Welche pädagogische Sicherungsstrategien außerhalb des unternehmerischen Handelns sind für den kontinuierlichen Erfolg des Unternehmens auszumachen?

Die gewählte Vorgehensweise einer ‚dichten Beschreibung’ (Clifford Geertz) bedarf einer überaus umfangreichen Quellenlage, die am Beispiel der Familie Colsman als "Glücksfall für die Forschung" bezeichnet werden kann (36). Groppe nutzt als Quellenbasis für ihre Untersuchung ‚Ego-Dokumente’, deren Begriff sie weit fasst, so dass sie unterschiedlichste Quellen auswerten kann. Weitere Archivalien ergänzen die Ego-Dokumente. Mit der Untersuchung dieses sehr breiten Quellenspektrums kann sie die Idee der ‚dichten Beschreibung’ beispielhaft verwirklichen und über das subjektive Erleben der Familienmitglieder hinaus einen authentischen und breiten Einblick in historische Lebenswelten, Lebensformen und Erziehungs-, Bildungs- und Sozialisationsprozesse ermöglichen.

Die Untersuchung stützt sich neben dem dichten Quellenmaterial vor allem auf die historischen Kontexte, die durch leitende Kategorien gefasst sind: Lebenswelt, Lebensform, Lebensmuster und Generation. Mit der Kategorie ‚Lebenswelt’ fasst Groppe Strukturbedingungen der Gesellschaft zusammen, die wechselseitig Einfluss auf die Entstehung von Gruppen und Individuen und die Ausgestaltung ihrer spezifischen ‚Lebensformen’ nehmen: Politik, Sozialstruktur, Wirtschaft und Kultur (22). Die von den Akteuren gestalteten ‚Lebensformen’ variieren individuell, regional- und gruppenspezifisch und bilden bestimmte ‚Lebensmuster’ aus, die in der Untersuchung als Sinndeutung von historischen Gruppen und Individuen für ihr Leben und ihre Ziele verstanden werden (24). Die Kategorie ‚Generation’ wurde gewählt, um Generationsprofile zu erstellen, die sich aus dem Selbstverständnis und den Verhaltensformen von Familienmitgliedern einer Generation herleiten lassen. Inbegriffen in dieser Kategorie sind die Analysen des jeweiligen Rollenverständnisses und der innerfamiliären Gestaltung von Generationsbeziehungen, um Lebensformen und Persönlichkeitsentwicklungen in einer Familie über einen längeren Zeitraum beschreiben zu können (25f.). In den Kategorien ‚Lebenslauf’ und ‚Persönlichkeitsbildung’ analysiert die Autorin die Sozialisations-, Erziehungs- und Bildungsprozesse der Familienmitglieder im Hinblick auf eine spezifische Phasengliederung des Lebenslaufes (29ff.).

Analog zur chronologischen Gliederung der Arbeit findet sich in der Mitte des Buches ein Bildteil mit den Einzelportraits der Generationen, dem Familienstammbaum, mit Abbildungen von Archivalien aus der Unternehmensgeschichte, weiteren Familienbildnissen und Fotografien der Häuser der Familie. Im Anhang befinden sich Tafeln zum Stammbaum der Familie, zur Generationsfolge, Filiationsfolge und Leitungsstruktur sowie zu Unternehmensgründungen von Söhnen der Familie. Die Gliederung der Arbeit ermöglicht eine chronologische Lesart der Untersuchung als Familienbiographie. Zugleich kann die Arbeit nach Themen gelesen werden, die in den Kapiteln immer wieder aufgegriffen werden. Am Ende des jeweiligen Kapitels wertet Groppe die Generation mittels der aufgestellten Kategorien aus und bilanziert ihre Forschungsergebnisse.

Das erste Kapitel der Arbeit führt einleitend in das Thema der Untersuchung ein. Groppe nutzt die Möglichkeit einer erziehungswissenschaftlichen Bildinterpretation der fünf Unternehmergenerationen (5ff.) und des Familienstammbaums (14ff.), um thematisch auf die folgenden Kapitel vorzubereiten. Die Interpretation der Bilder als "Symbole des Familiengedächtnisses" (3) soll Auskunft über die Lage der Generationen, ihre spezifischen Beziehungskonstellationen sowie über das Selbstverständnis und die Identität von Gruppen und Personen ermöglichen, da Bilder als Ergebnisse und Auslöser erzieherischer Handlungen und Sozialisationsprozesse verstanden werden. Eine umfangreiche erziehungswissenschaftliche Bildinterpretation kann die Autorin hier nicht bieten, sie würde wohl auch den Rahmen der komplexen Untersuchung sprengen. Vielmehr gelingt ihr mit dem ‚Nachdenken’ über die Familienporträts und den Stammbaum ein interessanter und neugierig machender Einstieg in die Thematik und die zu erwartenden Forschungsergebnisse der Arbeit (6ff.). Es wird schon hier auf Unterschiede zwischen den Generationen hingewiesen, die z.B. das bürgerliche Selbstverständnis, die Selbstdarstellung oder die Beziehungskonstellationen zwischen Ehemann und Ehefrau andeutungsweise skizzieren. Mit der Interpretation des Stammbaums umreißt die Autorin den sozioökonomischen und geistigen Raum der Familie, in dem sich die dritte Generation selbst präsentiert. Anschließend benennt Groppe die für ihre Arbeit wichtigen Analysevoraussetzungen, entwickelt Fragestellungen und gibt Auskunft über die Quellenlage und deren Auswertungsmöglichkeiten.

In den folgenden drei Kapiteln untersucht Groppe in zahlreichen thematischen Unterkapiteln die ersten fünf Generationen der Familie Colsman nach den aufgestellten Kategorien. Im Zeitraum von 1649-1840 wird detailreich der Prozess der Herausbildung des Bürgertums am Beispiel der einzelnen Generationen der Unternehmerfamilie und ihrem sozialen Umfeld beschrieben. Sie kann anhand von ausgewählten Beispielen (z.B. Bildungswege, Familienleben, Kleidung, Wohnhaus oder Geschlechterkonstellationen) eine Entwicklung von der in ständischen Strukturen verhafteten sozialen Gruppe der Unternehmer hin zum Unternehmerbürgertum mit spezifisch bürgerlichem Habitus aufzeigen, die von Widersprüchlichkeiten und Diskontinuitäten geprägt ist. Für die Bürgertumsforschung ist vor allem interessant, dass die Autorin an ihrem Beispiel nachweisen kann, dass in der von ihr untersuchten Region vor allem die Kaufleute den Ursprung des neuen Bürgertums darstellten: "Die These, daß sich bürgerliches Bewußtsein vor allem durch das Bildungsbürgertum konstituierte, ist somit zu differenzieren" (224). Groppe verweist mit dieser Erkenntnis auf ein Forschungsdesiderat in der Bürgertumsforschung, die Bildungsbürgern die entscheidende Bedeutung für die Formierung des Bürgertums und die Herausbildung einer neuen bürgerlichen Lebensform zuspricht. Vielmehr müssen in den Forschungen zur Geschichte des Bürgertums die heterogenen soziopolitischen Ausgangslagen berücksichtigt werden, die zwangsläufig neue Erkenntnisse erwarten lassen.

Ebenfalls als Prozess stellt Groppe die Veränderungen dar, durch die sich die einzelnen Generationen voneinander unterscheiden. Sie beschreibt die unterschiedlichen Lebens- und Bildungswege, den Wandel der Familienformen, die Geschlechterkonstellationen, die Bedeutung von Religion und der Teilhabe an Macht, die Entwicklung des Unternehmens und den Zugang zu bürgerlicher Geselligkeit in den jeweiligen Generationen.

Im fünften und letzten Kapitel "Unternehmensnachfolge als pädagogisches Problem" bilanziert die Autorin die Untersuchungsergebnisse ihrer Arbeit. Sie greift ihre Leitfrage "How to make entrepreneurs?" abschließend auf und belegt ihre These, dass die ‚Macht der Bildung’ entscheidend den kontinuierlichen Erfolg der Unternehmerfamilie Colsman sicherte. Dazu benennt sie verschiedene Bedingungen für das Gelingen der Unternehmensnachfolge in historischer und pädagogischer Perspektive, die als ‚Macht der Bildung’ umschrieben werden können: In jeder Generation gab es ausreichende potentielle Nachfolger, die die Unternehmensfortführung sicherten. Diese (männlichen) Nachfolger wuchsen in ihrer Kindheit in einem homogenen, durch Familienmitglieder bewusst gestalteten Sozialmilieu auf, in dem sie sich ein spezifisches Lebensmuster aneignen konnten. Die Ausrichtung auf die spätere unternehmerische Tätigkeit war in dem jeweiligen Sozialisationsprozess fest inbegriffen und schloss die weiblichen Familienmitglieder mit ein. Frauen besetzten zwar keine leitenden Funktionen im Unternehmen, wurden aber im Hinblick auf die unternehmerische Tätigkeit sozialisiert und blieben durch ihre Mitarbeit im Unternehmen nicht auf die Rolle als Hausfrau, Mutter und Hausvorsteherin beschränkt. ‚Unternehmerwerden’ gelang nur durch einen komplexen und strukturierten Erziehungs-, Bildungs- und Ausbildungsprozess.

Als ebenso wichtig für die erfolgreiche unternehmerische Tätigkeit erwies sich die gelungene Integration der Eltern in das örtliche unternehmerische Milieu und die Teilhabe an Macht in der Gemeinde. In allen Generationen bewirkte eine besondere familiale Solidarität, dass der Erfolg des Unternehmens und das Wohl der Familie bei den Familienmitglieder als oberste Prämisse ihr Handeln und ihre Lebensgestaltung bestimmten, individuelle Interessen sich diesem Leitbild unterordnen mussten. Zudem entwickelte das Unternehmen eine besondere Leitungsstruktur, in dem mehrere männliche Familienmitglieder leitende Positionen besetzten, die hohe Anforderungen an die Familienmitglieder stellten: "Die Erzeugung dieser familialen Handlungskonfiguration war eine zentrale Leistung des innerfamilialen Erziehungs- und Sozialisationsprozesses." (527). Von Bedeutung im Sozialisationsprozess zum erfolgreichen Unternehmer war, dass die Eltern die Fähigkeit besaßen, die Unternehmenstradition mittels Erziehung als Verantwortung auf die nächste Generation zu übertragen. Ãœber die gelungene Erziehung zum Unternehmer entschied letztendlich ein Fachgremium aus Familienmitgliedern, das die Nachfolge im Unternehmen bestimmte: "Entscheidend für den Fortbestand war nicht allein die schnelle Aneignung und Umsetzung neuen ökonomischen und technischen Wissens, sondern vor allem deren Vermittlung mit bestehenden Strukturen im Unternehmen und den Wissensbeständen der älteren Generation" (528). Groppe bilanziert: "Es bleibt also die Macht der Bildung, d.h. die familialen, schulischen und gesamtgesellschaftlichen Sozialisationsprozesse und der ihnen vorangehende oder sie begleitende Bildungsdiskurs" (533). Parallel zu dieser Feststellung verweist sie darauf, dass sich die beschriebenen Prozesse und Diskurse nicht in einem geschichts- oder strukturfreien Raum abspielen. Sie sind immer bedingt durch lebensweltliche Kontexte – Politik, Sozialstruktur, Ökonomie, Kultur – sowie die jeweiligen Familientraditionen und das über diese vermittelte familiale Wissen (ebd.).

Carola Groppe bietet mit ihrer Arbeit einen sehr lesenswerten Beitrag zur Geschichte des Bürgertums, der nicht nur für die bildungshistorische Forschung von Interesse sein dürfte. Mit der Darstellungsart als Familienbiographie ist es ihr gelungen, die Konstituierung des Bürgertums über einen breiten Zeitraum als Prozess darzustellen, der von Widersprüchlichkeiten und Diskontinuitäten geprägt war. Mit Berücksichtung lebensweltlicher Kontexte lassen sich zwar Entwicklungsrichtungen aufzeigen, die dennoch individuell und regional unterschiedlich bewertet werden müssen.

Ihre These, dass die ‚Macht der Bildung’ den unternehmerischen Erfolg bedingte, kann sie detailreich belegen. Dabei zeigt sie, wie sich die Bildungswege und der ihnen zugrundeliegende Bildungsbegriff zwischen den Generationen voneinander unterscheiden, aber immer die ‚Macht der Bildung’ den entscheidenden Faktor für den unternehmerischen Erfolg darstellt. Die Untersuchung wird vor allem durch zahlreiche Quellenzitate, die stets in den Kontext eingebettet sind, anschaulich. Ausführliche Anmerkungen und Literaturhinweise verweisen auf den aktuellen Forschungsstand zu den Einzelthemen und ermöglichen weitere Vertiefungen.

Nicht geleistet wird einzig die Begriffsklärung des ‚Unternehmerbürgertums’ und des ‚Wirtschaftsbürgertums’, der einer Arbeit zum Unternehmertum zugrunde liegen müsste. Hilfreich für Neueinsteiger in die Bürgertumsforschung wäre zudem eine begriffliche Abgrenzung von Unternehmerbürgertum und Bildungsbürgertum. Ein abschließender Vergleich der Generationen bzw. ein Ãœberblick über die generationsspezifischen Entwicklungen zu den Einzelthemen würde die Arbeit mit dem sehr umfangreichen Buch erleichtern, obgleich die einzelnen Kapitel überaus interessant und lesenswert sind. Für Studieneinsteiger ist die Arbeit wenig geeignet. Sie wendet sich als spezialisierte Forschung an Fortgeschrittene bzw. Experten, die sich mit der Bildungsgeschichte des Bürgertums oder mit Wirtschaftsgeschichte befassen.





Jessika Piechocki (Halle)
Zur Zitierweise der Rezension:
Jessika Piechocki: Rezension von: Groppe, Carola: Der Geist des Unternehmertums, Eine Bildungs- und Sozialgeschichte, Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2004. In: EWR 4 (2005), Nr. 3 (Veröffentlicht am 20.05.2005), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/41211004.html