EWR 3 (2004), Nr. 2 (März/April 2004)

Friedhelm Schütte
Technisches Bildungswesen in Preußen-Deutschland
Aufstieg und Wandel der Technischen Fachschule 1890-1938
Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2003
(470 Seiten; ISBN 3-412-17002-X; 54,00 EUR)
Technisches Bildungswesen in Preußen-Deutschland Die vorliegende Habilitationsschrift "Technisches Bildungswesen in Preußen-Deutschland" von Friedhelm Schütte betrachtet den "institutionelle[n] Wandel des Aus- und Weiterbildungssystems und die bildungspolitischen Reorganisationsaktivitäten der sozialen Akteure" (XI) im Zeitraum von 1890 bis 1938.

Die Arbeit gliedert sich in neun Kapitel; in Kapitel 1 (Einleitung) bestimmt der Autor mit der Verhältnisbestimmung der Institutionen des beruflichen Bildungssystems zueinander und mit der Gegenüberstellung zum System der Allgemeinbildung den Rahmen der Abhandlung, der in einer historischen Betrachtung mit der "akademische[n] Überfüllungskrise" am Ende des 19. Jahrhunderts. in Preußen einen "bildungs- und gesellschaftspolitische[n] Wendepunkt" (4) darstellt und mithin durch strukturelle Reformen des Schulsystems gekennzeichnet ist. "Vor diesem Hintergrund soll der Aufstieg und der soziale Wandel des technischen Fachschulwesens in Preußen-Deutschland zwischen 1890 und 1938, dem Jahr der Demontage und Rationalisierung der Technischen Fachschule, untersucht werden. Die Untersuchung dieser das System Beruflicher Bildung prägenden Periode ermöglicht, den Prozeß der Etablierung und Komplementierung sowie die gesellschaftliche Funktion des technischen Aus- und Weiterbildungssystems zu analysieren, die sich im historischen Verhältnis von Fachbildung, Berufsbildung und Allgemeinbildung spiegeln" (6). Nach Schütte ist die geschichtliche Entwicklung des technischen Fachschulwesens durch "Brüche und Kontinuitäten" charakterisiert (382). Der Autor, der die historische Sicht auf die Maschinenbauschule, die Baugewerkschule und die Hüttenschule beschränkt, versteht die Untersuchung als "einen Beitrag zur Geschichte der Beruflichen Bildung im 20. Jahrhundert" (3). Die "Analyse der in den 1890er Jahren konstituierten technischen Bildungsgänge und deren politische Perpetuierung" liefern "den Schüssel zum Verständnis des deutschen Bildungssystems im 20. Jahrhundert" (18f.). Schütte will zum einen die aktuelle Kritik an der "niederen" Berufserziehung im 21. Jhd. relativieren und zum anderen Reformmöglichkeiten aufzeigen, die von einer "sinnvollen Abstimmung zwischen Berufsbildung und Allgemeinbildung" (414) ausgehen müssen. Über diesen schulpolitischen Bezug hinaus ist auch die wissenschaftspädagogische Seite in der Dokumentation der "Geschichte der niederen und höheren Technischen Fachschule" (8), welche bislang nicht systematisch erforscht worden war, als wichtige Leistung Schüttes zu benennen.

Die Arbeit, die den Stand der Forschung sichtet und würdigt (8-13), stellt die These auf, dass die "Etablierung des technischen Ausbildungssektors [...] eine wesentliche Voraussetzung der Bildungsexpansion und [...] ein zentrales Medium für berufliche Mobilität und sozialen Aufstieg" darstellt (14), weil durch die Professionalisierung der technischen Berufe die betreffenden Bevölkerungsschichten "symbolisch und faktisch" (vgl. 18) aufgewertet wurden - wobei mit diesem deutschen Sonderweg aber auch einerseits eine "institutionelle Trennung zwischen allgemeiner und realistischer Bildung, andererseits zwischen niederer, mittlerer und höherer technischer Aus- und Weiterbildung" (18) einherging. Schütte bewertet die Institutionalisierung der technischen Fachbildung als "bildungspolitische Antwort auf die Strukturkrise des deutschen Bildungssystems" und damit als "schulische Alternative zur gymnasialen sowie akademischen Bildung" (382).

Schüttes Untersuchung formuliert im methodischen Teil drei Leitfragen, die den Gang seiner Argumentation strukturieren. Die erste Leitfrage beschäftigt sich mit den historischen Entwicklungsphasen der Technischen Fachschule, den politischen Rahmenbedingungen und dem sozialen Wandel der einzelnen oben genannten Schultypen. Als politisch gewollte Konkurrenz zum System der Allgemeinbildung sei die technische Fachbildung die "funktionale Antwort und damit Reaktion auf die sich etablierende Industriegesellschaft deutscher Prägung" (382). In der zweiten Leitfrage setzt sich Schütte mit dem "Systembildungsansatz" von Detlef Müller und Bernd Zymek auseinander und untersucht, inwieweit die "theoretische und methodische Reichweite des Ansatzes und dessen Relevanz" (22) auf das System der beruflichen Bildung übertragbar ist. Schütte will den Systembildungsansatz um zwei Aspekte erweitern. "Zum einen ist die Systemkomplementierung um einzelne Elemente, die der institutionellen Dynamik einzelner Schultypen sowie den Ungleichzeitigkeiten innerhalb des Gesamtsystems Rechnung tragen, zu ergänzen, zum anderen die berufliche Spezifität methodisch zu berücksichtigen" (401). Der Autor erweitert den oben genannten Ansatz um die Dimensionen Systemstandardisierung, Systeminnovation, Systemexpansion, Systemverzahnung und Systemdisparität (vgl. 402). Die dritte Leitfrage untersucht die drei zentralen Aspekte der Ausdifferenzierung des niederen technischen Schulwesens als "Motor der Modernisierung" (23), der Abgrenzung zwischen Berufsbildung und Allgemeinbildung (vgl. 24) und sozialen Asymmetrien des deutschen Schulsystems, welche insbesondere in der Inferiorität beruflicher Bildungstitel gegenüber allgemeinbildenden Titeln zu sehen sind (vgl. 23-25).

In Kapitel 2 stellt Schütte die ordnungspolitische Neuorientierung in Preußen dar (1890-1901/02) und erklärt die Hinwendung zur Technischen Fachschule. Die fachschulpolitische Wende habe die weitere Entwicklung der Schullandschaft in Deutschland präformiert (vgl. 383). In Kapitel 3, das den Zeitraum von 1902 bis 1914 erfaßt, wird der Verstaatlichungs- und Standardisierungsprozess der ausgewählten Schultypen dargestellt. Die Reorganisation von 1906-1910 habe das horizontal und vertikal gegliederte Schulsystem geschaffen (vgl. 383). In Kapitel 4 behandelt Schütte den Niedergang des Fachschulsystems im Ersten Weltkrieg als Ende der "goldenen Ära" des technischen Fachschulwesens in Deutschland (vgl. 27 u. 384). Das darauffolgende Kapitel 5 skizziert den Wiederaufbau in der Weimarer Republik (sog. Zweite Reorganisation). Das Kapitel 6 ist den Modernisierungsprozessen im Sinne einer Systemkomplementierung gewidmet. Die Kapitel 7 und 8 untersuchen die Politisierung, die Zentralisierung und die Desorientierung der Fachschulpolitik im Nationalsozialismus (insbesondere zwischen 1933 und 1935), aber auch die kriegsvorbereitenden Rationalisierungen nach 1936. Schütte bewertet die nationalsozialistische Fachschulpolitik: "Einen konstruktiven Beitrag zur Modernisierung der Technischen Fachschule leistete sie nicht" (397).

Im abschließenden Kapitel 9 systematisiert Schütte seine umfangreichen Forschungsergebnisse. Die umfangreichen Quellen, die Schütte zur Bearbeitung herangezogen hat und die in einem gesonderten Quellenband erscheinen sollen (vgl. XI), fundieren die Argumentation des Autors. Der mitunter komplex geschriebene, aber dennoch gut zu lesende Text führt den Leser sach- und methodenkompetent durch die Argumentation. Zur leichteren Benutzbarkeit wären jedoch nicht nur Kapitel wünschenswert gewesen, die die zentralen Ergebnisse schon im Gang der Untersuchung zusammengefasst hätten, sondern auch Orts-, Personen- und Sachregister. Schüttes Arbeit ist - abschließend bewertet - nicht nur für Pädagogen, sondern auch für Soziologen und Historiker ein wichtiger, interdisziplinär angelegter Baustein für die Sozialgeschichte der beruflichen Bildung.
Martin Fabjancic (Trier)
Zur Zitierweise der Rezension:
Martin Fabjancic: Rezension von: Friedhelm Schütte: Technisches Bildungswesen in Preußen-Deutschland, Aufstieg und Wandel der Technischen Fachschule 1890-1938, Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2003. In: EWR 3 (2004), Nr. 2 (Veröffentlicht am 31.03.2004), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/41217002.html