EWR 2 (2003), Nr. 6 (November/Dezember 2003)

Kai S. Cortina / JĂĽrgen Baumert / Achim Leschinsky / Karl Ulrich Mayer / Luitgard Trommer (Hrsg.)
Das Bildungswesen in der Bundesrepublik Deutschland
Strukturen und Entwicklungen im Ăśberblick
Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2003
(906 Seiten; ISBN 3-499-61122-8; 16,90 EUR)
Das Bildungswesen in der Bundesrepublik Deutschland Die kontinuierliche und systematische Berichterstattung über das Bildungswesen in der Bundesrepublik Deutschland zählt zu den Aufgaben, die sich die Kultusministerkonferenz (KMK) im Zuge der durch die Veröffentlichung der PISA-2000-Ergebnisse ausgelösten Debatte selbst gegeben hat. Hintergrund dieser Selbstverpflichtung ist ein – vermeintliches oder tatsächliches – Kenntnisdefizit mit Blick auf den Zustand unseres Bildungswesens. In diesem Zusammenhang erschien kürzlich der von der KMK in Auftrag gegebene erste "Bildungsbericht für Deutschland", und es ist durchaus verdienstvoll, dass nunmehr auch die KMK selbst für die Verbreiterung der Wissensbasis zum Bildungssystem Sorge tragen will. Allerdings stellt sich hier die Frage, ob man vieles, was gegenwärtig als aktueller Befund diskutiert wird, bereits früher hätte wissen können. So berichtete z.B. das Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung in seinen Veröffentlichungen bereits vor Jahren über den engen Zusammenhang von Schulerfolg und Sozialstatus des Elternhauses. Zu jenen Publikationen, mit denen bereits lange vor PISA umfassend über das Bildungswesen, seine Leistungen und Defizite sowie über Entwicklungen informiert und Reformbedarf signalisiert wurden, zählt auch der hier zu besprechende Band. Er liegt in seiner nunmehr fünften, wiederum grundlegend neu bearbeiteten Auflage vor, die, folgt man Äußerungen der Herausgeber, voraussichtlich die letzte sein wird.

Im Unterschied zur vorherigen Auflage firmieren die Herausgeber nunmehr namentlich und nicht mehr kollektiv als "Arbeitsgruppe Bildungsbericht". Dies findet seinen Hintergrund vor allem darin, dass sich, worauf Achim Leschinsky bereits im Vorläuferband hinwies, die am MPI beheimatete Arbeitsgruppe bereits vor der Herausgabe der vierten Auflage (1994) weitgehend aufgelöst hatte. Dessen ungeachtet wird auch dieser Band als "Bericht des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung" beworben, was durchaus legitim erscheint; die Mehrzahl der Autorinnen und Autoren war oder ist nach wie vor am MPI tätig. Daneben wurden weitere Autorinnen und Autoren gewonnen, die in keiner – auch keiner ehemaligen – Arbeitsbeziehung zum MPI stehen. Dies wiederum führte dazu, dass die Teilkapitel nunmehr namentlich gekennzeichnet sind, während bei den vorangehenden Auflagen die Arbeitsgruppe als Ganze für den Gesamttext verantwortlich zeichnete.

Wie die Herausgeber bereits im Vorwort – und, dies darf man vermuten, wohl ganz bewusst – betonen, handelt es sich bei dem vorgelegten Werk nicht um eine Arbeit fremder Auftraggeber, sondern um die Fortsetzung der "unabhängige(n) Berichterstattung" (17), die das MPI bereits zum Ende der siebziger Jahre aufnahm. Gleichwohl begrüßte die KMK in einer am 17.10.2003 eigens aus diesem Anlass herausgegebenen Pressemitteilung das Erscheinen des MPI-Berichts ausdrücklich. Neben der ausführlichen Darstellung und Analyse enthalte der Bildungsbericht, so die KMK, "gezielte Hinweise zur Weiterentwicklung unseres Bildungssystems". Dies allerdings – hierauf sei bereits an dieser Stelle verwiesen – liest sich in dem Bericht selbst etwas anders. So weisen die Herausgeber darauf hin, der Leser werde neben der Deskription und Analyse zwar "auch Hinweise auf Handlungsoptionen finden, aber keine Empfehlungen" (17). Diese Zurückhaltung sei nicht nur "der Komplexität des Gegenstandes" geschuldet, sondern aus grundsätzlichen Vorbehalten abgeleitet, "weil kein direkter Weg von der wissenschaftlichen Diagnose zur Handlungsempfehlung führt" (ebd.). Einen solchen Hinweis hätte man sich in vielen der zur aktuellen Bildungsdiskussion erschienenen Publikationen an prominenter Stelle gewünscht.

Gegenüber der Vorläuferausgabe, die noch deutlich durch die Vereinigung der beiden deutschen Staaten und ihre Folgen für Bildung und Erziehung geprägt war, weist der jetzt vorgelegte Text Veränderungen nicht nur inhaltlicher Art, sondern auch im strukturellen Aufbau auf. Das in der vierten Auflage enthaltene Kapitel zu Einigungsfolgen in den neuen Bundesländern entfiel; Hinweise zu Bildung und Erziehung in der DDR und den neuen Bundesländern sind nunmehr in die gegenstandsbezogenen Kapitel eingefügt. Der Gesamttext ist in fünf Abschnitte (Allgemeines; Vorschulerziehung und Grundstufe; Sekundarstufe I; Sekundarstufe II und weitere Karrieren; Einzelthemen) mit insgesamt achtzehn Kapiteln untergliedert. Obgleich es lohnte, verbietet es sich schon aus Raumgründen, zu jedem der achtzehn Beiträge ausführlich Stellung zu nehmen. Ich beschränke mich daher auf eine Skizze dessen, was der Band inhaltlich bietet, und ein zusammenfassendes Resümee.

Der Einstieg erfolgt über den vier Kapitel umfassenden ersten Abschnitt, in dem Querschnittthemen behandelt werden. Zunächst befassen sich A. Leschinsky und K. S. Cortina mit der sozialen, d.h. gesellschaftlichen Einbettung des Bildungswesens und allgemeinen bildungspolitischen Trends. Sie skizzieren einige das deutsche Bildungswesen prägende Besonderheiten, gesellschaftlich-politische Konfliktlinien und aktuelle Entwicklungstendenzen, benennen Merkmale, die Schule in modernen Gesellschaften kennzeichnen und zeigen Zusammenhänge zwischen Bildungsprozessen und globalen Entwicklungslinien auf. Abschließend geben die Autoren, wie sie selbst formulieren, bewusst sehr allgemein gehaltene Hinweise auf "Wege aus der deutschen Bildungsmisere". In Kapitel 2 (J. Baumert, K.S. Cortina, A. Leschinsky) wird zunächst die historische Entwicklung des Bildungswesens in den beiden deutschen Staaten bis 1990 und anschließend im vereinigten Deutschland in einem allgemeinen Überblick nachvollzogen und in den Kontext ökonomischer, gesellschaftlicher und (bildungs-) politischer Trends gestellt. Ergänzend werden demographische Entwicklungen und ihre Auswirkungen auf die Bildungsnachfrage, der Strukturwandel von Familie und Kindheit und weitere gesellschaftliche Prozesse in ihren Folgen für Bildung und Erziehung analysiert. Das von A. Leschinsky verfasste Kapitel zum institutionellen Rahmen des Bildungssystems entspricht in seinem inhaltlichen Zuschnitt im wesentlichen dem der vorherigen Auflage, wurde aber ebenfalls, soweit notwendig, aktualisiert und ergänzt. Neu aufgenommen wurde ein Beitrag zum Thema Bildungsbudget und Bildungsfinanzierung (K. Klemm), mit dem der allgemeine Teil abschließt.

Die Abschnitte II, III und IV bilden den Kern des Bandes. Hier werden die Stufen, Bereiche und Schularten des allgemein- und berufsbildenden Bildungswesens dem Lebenslauf folgend von der Vorschulerziehung bis zur Weiterbildung systematisch abgehandelt. In einigen Kapiteln findet sich zudem eine Darstellung der grundlegenden historischen Entwicklungslinien der jeweiligen Schulart oder des Bildungssystemsegments. Gegenüber der vorherigen Ausgabe deutlich erweitert wurden die Ausführungen zum Vorschulbereich und zur Grundschule. Dies dürfte seine Begründung nicht nur darin finden, dass mit H.-G. Rossbach (Vorschulische Erziehung) und W. Einsiedler (Unterricht in der Grundschule) zwei Experten für die genannten Themengebiete als Autoren gewonnen werden konnten. Zugleich drückt sich hierin der erhebliche Erkenntniszugewinn der vergangenen Jahre mit Blick auf die Bedeutung der frühkindlichen bzw. vorschulischen Entwicklungsphase für den Erwerb kognitiver, psychomotorischer und auch affektiver Kompetenzen im Lebenslauf aus, dem nunmehr mit einer umfassenden Darstellung Rechnung getragen wird. Neu aufgenommen wurde auch ein umfangreicher Abschnitt zu Bildungswegen und Bildungsbiographien in der Sekundarstufe I (K.S. Cortina, L. Trommer), in den die bereits in der vierten Auflage vorzufindenden Hinweise zu Übergangsentscheidungen und Orientierungsstufe integriert wurden. Die Kapitel zur Hauptschule (A. Leschinsky), zur Realschule (A. Leschinsky), zur Gesamtschule (O. Köller) und zum Gymnasium (J. Baumert, P. M. Roeder, R. Watermann) entsprechen ungeachtet der vorgenommenen Aktualisierungen und partiellen Ergänzungen im Hinblick auf Aufbau und Inhalt weitgehend denen der vorangehenden Auflage. Demgegenüber wurden die in Abschnitt IV zusammen gefassten Kapitel zur Berufsbildung (M. Baethge), zum Hochschulwesen (K. U. Mayer) und zur Weiterbildung (P. Faulstich) neu strukturiert und inhaltlich neu erarbeitet. Gleiches gilt für die vier Beiträge im V. Abschnitt. Drei von ihnen haben, plakativ formuliert, "Problemgruppen" im Bildungssystem zum Gegenstand: L. Herwartz-Emden befasst sich mit Einwandererkindern im Bildungssystem, L. Krappmann, A. Leschinsky und J. Powell widmen sich Kindern, die besonderen Förderbedarf aufweisen, und H. Solga betrachtet in ihrem neu in den Band aufgenommenen Beitrag Jugendliche ohne Schulabschluss und ihre Wege in den Arbeitsmarkt. Der Band schließt mit einem von E. Terhart verfassten Kapitel zur Lehrkräfteausbildung.

Was leistet der Bericht? Sein großer Wert liegt darin, dass, dem selbst gesetzten Anspruch folgend, Deskription, Analyse und Problemaufriss miteinander verknüpft werden. So kann sich der Leser nicht nur grundlegend über das Bildungswesen, seinen strukturellen Aufbau, Bildungseinrichtungen, (Aus-) Bildungsgänge, Ab- und Anschlüsse sowie politische, administrative und ökonomische Rahmenbedingungen institutionalisierter Bildung und Erziehung informieren. Zugleich werden Stärken und Defizite des deutschen Bildungswesens diskutiert, Strukturprobleme analysiert und Handlungsoptionen aufgezeigt. Wo dies für das Verständnis längerfristiger Trends notwendig ist, werden historische Entwicklungslinien nachgezeichnet. Defizite der Forschung wie z.B. ein Mangel an empirischer Erhellung bisweilen eher behaupteter als bestätigter Phänomene werden offen gelegt; hierfür sei beispielhaft der Beitrag zur Hauptschule genannt. Hinzuweisen ist zudem auf die Vielzahl an Abbildungen, Tabellen und Schaubilder sowie das Sachwortregister und die themen- bzw. kapitelbezogenen Literaturangaben, die den Informations- und Gebrauchswert des Berichts für ganz unterschiedliche Nutzergruppen – in Hochschulen und Wissenschaft, in Bildungspolitik und -verwaltung, aber auch Lehrkräfte und Eltern – noch erhöhen.

Abschließend sind aber auch ein paar Tropfen Wasser in den Wein zu gießen. So haben die präsentierten Daten in vielen Fällen die Jahre 1998 oder 1999 als Basis; Längsschnittdarstellungen reichen häufig bis zu den genannten Jahren und nur partiell auch bis zum Jahr 2000. Während in den Texten teilweise bis 2003 erschienene Literatur nachgewiesen ist, stammen die Datenquellen zumeist aus den Jahren 2000 und 2001; eine vor Drucklegung vielleicht noch mögliche Aktualisierung wurde bedauerlicher Weise nicht mehr vorgenommen. Überdies enthielt die vierte Auflage ein eigenständiges Kapitel zur internationalen Dimension ("Europa und die Welt") mit Ausführungen u.a. zu UNESCO und EU; dieses ist im aktuellen Band entfallen. Statt dessen finden sich neben den erwartbaren Verweisen auf PISA und verstreuten allgemeinen Anmerkungen zu internationalen Entwicklungen lediglich eine etwas ausführlichere Darstellung der Rechtssetzungstätigkeit der EU im Bildungsbereich (Kap. 3.2), ein kurzer Abschnitt zu Bildungsprozessen "vor dem Hintergrund globaler Trends" (Kap. 1.3) sowie einige Hinweise zum Bildungsbudget im internationalen Vergleich (Kap. 4.6). Angesichts der zunehmenden Bedeutung internationaler Entwicklungen für die deutsche Bildungsdiskussion, die sich nicht nur in der Wirkung von Organisationen wie der OECD und ihrer vielfältigen bildungsbezogenen Aktivitäten manifestiert, wäre es wünschenswert gewesen, die internationale Dimension und die Folgen der Tätigkeit internationaler Organisationen und Institutionen im Bereich des Bildungswesens erneut zum Gegenstand eines eigenständigen Querschnittkapitels zu machen. Ungeachtet dieser kritischen Anmerkung repräsentiert der Bericht einen Informations- und Forschungsstand zum Bildungswesen in der Bundesrepublik Deutschland, der bei zukünftigen Publikationen zum Thema nicht mehr unterschritten werden sollte.
Hans-Werner Fuchs (Hamburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Hans-Werner Fuchs: Rezension von: Cortina, Kai S. / Baumert, JĂĽrgen / Leschinsky, Achim / Mayer, Karl Ulrich / Trommer, Luitgard (Hg.): Das Bildungswesen in der Bundesrepublik Deutschland, Strukturen und Entwicklungen im Ăśberblick, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2003. In: EWR 2 (2003), Nr. 6 (Veröffentlicht am 01.12.2003), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/49961122.html