EWR 5 (2006), Nr. 6 (November/Dezember)

Martha Friedenthal-Haase / Ralf Koerrenz (Hrsg.)
Martin Buber
Bildung, Menschenbild und Hebräischer Humanismus
Paderborn, München, Wien, Zürich: Ferdinand Schöningh 2005
(263 S.; ISBN 3-506-71790-1; 29,90 EUR)
Martin Buber Der Sammelband zum Denken und Wirken Martin Bubers entstand anlässlich einer Tagung in Jena zu dessen 125. Geburtstag 2003. Im Zentrum steht der Dialoggedanke Martin Bubers und damit sein Anliegen, die Kulturen und Religionen ins Gespräch zu bringen. Ebenso thematisch umfangreich angelegt sind die Beiträge, die in der Einleitung der Herausgeber Martha Friedenthal-Haase und Ralf Koerrenz kurz und prägnant vorgestellt werden. Hier kommen sprachtheoretische, theologische, politische und ganz zentral pädagogische Fragestellungen in den Blick. Auf jene Zentralstellung des Pädagogischen beschränkt sich diese Rezension in dem spezifischen Fragehorizont, inwieweit Bubers Denken, jenseits einer Einbettung in den Hebräischen Humanismus, als Beitrag zu einer Allgemeinen Pädagogik gesehen werden kann.

Für eine historisch orientierte Erwachsenenbildung wird die Bedeutung Martin Bubers spätestens im Anhang des Tagungsbandes offenkundig. Dort findet sich sowohl der deutschsprachige Erstabdruck eines Martin-Buber-Artikels zur Erwachsenenbildung als auch ein Briefwechsel zwischen Martin Buber und Wilhelm Flitner. Was hat es mit diesem Briefwechsel auf sich?

Wilhelm Flitner lud 1924 als damaliger Leiter der Volkshochschule Jenas Martin Buber zu einem Vortrag ein. Auftakt zu einem fachlichen Diskurs einerseits und einer andragogischen Schlüsselerfahrung Martin Bubers andererseits. Beides ausführlich dargestellt und problematisiert in dem Beitrag von Martha Friedenthal-Haase (vgl. 19-54). Seine eigene Problematik zwischen Anspruch und Wirklichkeit sieht Martin Buber allerdings auch selbst, wie der Bericht seines Jena-Besuchs zeigt (vgl. 1-5). Buber sprach vor einem nicht-jüdischen, weithin auch atheistischen Publikum, darunter vielen jungen Arbeitern. Sein Anspruch war, nicht vorzutragen, sondern einen Dialog zu führen, und das hieß, eine echte Begegnung zwischen sich und dem Publikum zu suchen. Auf den Einwand eines Arbeiters, dass er Gott nicht brauche, „verfällt“ Buber in einen Vortrag über die schon physikalisch auszumachende Relationalität der Welt, die zum ewigen Du, zu Gott führe. Der Arbeiter gibt sich überzeugt und Buber ist betrübt über sein Wirken. Denn er hatte mit der Macht seines Wissens in Vortragsform einen Gott der Philosophen vermittelt und nicht die Erfahrung einer Begegnung in einer gemeinsamen dialogischen Erfahrung Wirklichkeit werden lassen. Das lag schon daran, dass er, wie er sich selbst kritisch sagte, lernen müsse, weit einfacher zu sprechen.

In die richtige Sprache zu kommen gelingt ihm hingegen in einem Gespräch mit Paul Natorp in Marburg, von dem er, quasi als Gegenideal, von gegenseitiger dialogischer Betroffenheit berichtet. Was bleibt, ist die pädagogisch grundlegende Frage, inwieweit sich Erziehung und Bildung, zumal als institutionell-organisierte Bildung, am Maßstab solch grundlegender dialogischer Durchdringung „messen“ lassen können und sollten?

Dahingehend erörtert u. a. Leonhard Friedrich „das erzieherische Verhältnis aus der Sicht Martin Bubers“ (S. 115-128). So habe Buber, selbst Schüler Wilhelm Diltheys, sich gegen den Intentionalitätsbegriff der Dilthey-Schule gewandt. Denn der „pädagogische Bezug“ werde als eine zielgerichtete Einwirkung verstanden, die in der Gefahr stehe, die Erfahrung der Andersheit des Heranwachsenden durch vorgegebene Zweckrationalitäten zu überspielen. Buber trifft diesbezüglich eine klare Unterscheidung zwischen der dialogischen Grundbewegung des vorbehaltlosen Gebens und Nehmens und den so genannten Ich-Es-Beziehungen, die auf vergegenständlichtem Wissen und distanzierten Nutzenerfahrungen beruhen. Leonhard Friedrich arbeitet zu dieser Unterscheidung kritisch heraus, dass bei Buber Dialog und Sachbezug zur Erfassung des Pädagogischen zu unvereinbar nebeneinander stehen, insofern Pädagogik auch wesentlich Vermittlung von Welt ist. Jene eigentümliche Schwebelage (vgl. 121) des erzieherischen Handelns zwischen vertrauter Gegenseitigkeit und distanziertem Vermittlungswillen müsse sich noch stärker konkretisieren.

Im Anschluss an die Ausführungen von Leonhard Friedrich wird zudem klar, dass Martin Bubers pädagogisches Schrifttum, hauptsächlich die „Reden über Erziehung“, weder den Ansprüchen wissenschaftlicher Pädagogik folgen noch eine Lehre sein wollen. Vielmehr wollen sie sensibilisieren für die Notsignale der Zeit der Vermassung und „innere(n) Entgemeinschaftung“ (Buber nach Friedrich S. 118). Was aber bedeutet es, über eine allgemeine Sensibilisierung hinaus nicht Wissenschaft und nicht pädagogische Lehre sein zu wollen? Zur Beantwortung dieser Frage kann ein Blick auf die chassidischen Schriften weiterhelfen. Der Chassidismus ist eine mystische jüdische Strömung, von der Buber sehr beeinflusst war und die sich nicht in abstrakten Abhandlungen, sondern in volksnahen dialogischen Erzählungen kundtut. Ute Holm nimmt sich einer (schon methodisch sehr fragwürdigen) Analyse beispielhaft vorgestellter chassidischer Dialoge unter didaktischer Fragestellung an (vgl. 129-147). Leider lösen sich ihre Interpretationen eben doch in Lehren auf und verlassen im Fazit das Narrativ-Dialogische. Eine implizite Didaktik im Sinne Martin Bubers, die keine Lehre, sondern Gespräch sein will, müsste in der dialogischen Form der Interpretation verbleiben und sie nicht in allgemeine Regeln verwandeln. Eine dahingehende implizite Didaktik besteht darin, dass die Geschichten auf etwas zeigen und darum auffordern, das Gesagte für jeden konkret werden zu lassen – die Allgemeinheit der von Ute Holm vollzogenen Interpretation stoppt gerade diesen Prozess.

Dass hinter Martin Bubers Ablehnung eine allgemeine Lehre zu vermitteln eine spezifisch jüdische Denktradition steht, kommt besonders gut in den Beiträgen von Elisabeth Meilhammer (vgl. 149-180) und Michael Volkmann (vgl. 181-193) zum Ausdruck. Elisabeth Meilhammer thematisiert in ihren methodologischen Vorüberlegungen (vgl. 150ff.), dass das Dialogische auch für nicht-religiöse Menschen als humanes Prinzip verstanden werden kann, dass aber methodisch bei einer Buber-Interpretation die religiöse Dimension nicht ausgeklammert werden dürfe. So ist gemäß den „philosophisch-anthropologischen Voraussetzungen der Bildung bei Buber“ (160) der Mensch ein von Gott zur Antwort gerufener, d.h. aber auch, dass er ein zur Verantwortung Befähigter ist. Daraus leitet sich im jüdischen Sinne nicht nur seine Freiheit, sondern auch seine Einmaligkeit ab. Auf die Norm- und Wertfrage bezogen heißt dies, dass Buber zwar von absoluten, göttlichen Geboten ausgeht, diese aber in jeder historischen Situation und für jeden Einzelnen interpretationsnotwendig sind. Erst daraus ergibt sich der spezifische Zusammenhang, Toleranz ohne Wahrheitsrelativismus zu denken. Für Bubers Bildungsverständnis erläutert dahingehend Elisabeth Meilhammer, dass Wertneutralität nicht mit Gleichgültigkeit gleichgesetzt werden dürfe. Pädagogisch konkretisiert bedeutet dies, dass die Lehrperson nicht „überwältigen“ dürfe, aber auf eine begründete Standpunktfindung zu achten habe (vgl. 157f.). Das Dialogprinzip enthalte dahingehend immer den Spannungscharakter, Gemeinschaft zu schaffen, aber doch im Sinne einer Verbundenheit in Andersheit (vgl. 175). Für den Erzieher heißt dies sogar, den Schmerz der Spannung wachzuhalten, die den Menschen auf sein persönliches Selbst verweist, damit er sich nicht in einer Selbstauslieferung im Kollektiv betäube (vgl. 178).

Am Schluss ihres Beitrages nimmt Elisabeth Meilhammer die Frage leider nicht mehr auf, ob Bubers pädagogisches Konzept auch ohne die spezifisch jüdische Denktradition nachvollziehbar ist. Interessant wären hier Bezüge zur existenzphilosophisch geprägten Pädagogik gewesen, z.B. zu Otto Friedrich Bollnow oder auch zu anthropologischen Parallelen im atheistischen Denken Albert Camus' und Jean-Paul Sartres.

Unter Berücksichtigung des Beitrags von Michael Volkmann: „Martin Bubers hebräischer Humanismus“ (181ff.) ist zu konstatieren, dass Buber vorrangig ein jüdisches Bildungsprogramm entwirft, das in der Grundeinsicht steht, „dass die Ich-Du-Beziehung zu Gott und die Ich-Du-Beziehung zum Mitmenschen zutiefst aufeinander bezogen sind“ (Buber nach Volkmann: 185). Bubers Bildungsprogramm wird zwar schließlich universal gedeutet (vgl. 192), d.h. durch die daraus abgeleitete Möglichkeit zur Umkehr in der Erneuerung von Beziehungen, doch bleibt undiskutiert, was gegen die Herrschaft der Mittel als Ziel der Verantwortung an die Stelle Gottes tritt.

Der im Anhang abgedruckte Aufsatz Martin Bubers zur Erwachsenenbildung steht ebenfalls im Kontext der israelischen Situation 1949/50 (vgl. 233-252). Der Entstehungszusammenhang, die leitenden Gesichtspunkte der Edition und die Bedeutung des Textes werden einleitend besonders ausführlich von der Herausgeberin dargelegt (vgl. 217-232!). Zur Bedeutung ist im Anschluss an Buber selbst zu sagen, dass der Text „präzedenzlos“ ist, da er sich sehr spezifisch mit dem Konzept des Lehrhauses für Volksschullehrer befasst, das auf Initiative Martin Bubers in Israel gegründet wurde. Dennoch, so die Herausgeberin, dokumentiere der Text „den großen Zusammenhang von Politik, Religion, Ethos und Kultur mit Erziehung und Bildung in Bubers Denken“ (232) – und, so ließe sich ergänzen, könnte er gerade dadurch zu einer Horizonterweiterung aktueller Bildungsdiskussionen beitragen. Das heißt aber nicht, dass der Text durchweg eine pädagogische Bereicherung darstellt, wie die Einführung durch die Herausgeberin vermuten lässt. Schon zu Beginn ist von „Menschenmaterial“ (233) die Rede, was zumindest sprachlich wenig zum Dialogdenken passt. Zudem, meint Buber, seien Schulen nicht der rechte Ort zum selbständigen und richtigen Denken (vgl. 233) – sollte damit wirklich erst im höheren Jugendalter angefangen werden?

Als Hauptaufgabe der Volksbildung benennt Buber aber im Anschluss an seine Interpretation von Bernard Bolzano die „Entfaltung des selbsttätigen Geistes“ (234). Aus seiner Grundtvig-Interpretation leitet er schließlich das Gesprächsprinzip ab, „das ich als das dialogische Prinzip der Erziehung bezeichne“ (236). In diesem interpretativen Bezugsrahmen ist erkennbar, dass sich eine dialogische Pädagogik auch außerhalb des Kontextes eines hebräischen Humanismus entwickeln ließe. Dabei sollte es im Dialog gelingen, falsche Sicherheiten zu erschüttern und zwar indem Begriffe geklärt und historische Gestaltungsmöglichkeiten eröffnet werden. Die Parallele zur sokratischen Methode wird offenkundig, wobei Buber jedoch die Ironisierung des Schülers und eine prinzipielle erkenntnismäßige Überlegenheit des Lehrers ablehnt.

Ziel für alle am Dialog Beteiligten ist ein echter Dienst an der gesellschaftlich-kulturellen Wirklichkeit (vgl. 242f). Durch echte Fragen, durch die auch der Lehrer von seinen Schülern lernt, soll eine gemeinsam erfahrene existentielle Bindung an die „Wirklichkeit in dieser geschichtlichen Stunde“ (251) erfolgen, die zu verantwortlichem Handeln führt.

Die spezifischen Ausführungen zur Gestaltung des israelischen Volkslehrerhauses verweisen aber erneut darauf, dass in der praktischen Konkretisierung Buber seinem eigenen dialogischen Anspruch zumindest doch nur sehr fragwürdig nachkommt. Vermittelt werden soll die Rückbindung an ewige Werte, gleichgesetzt mit der hebräischen Sprache, der Bibel und der jüdischen Geschichte – dies vermittelt zumindest keine wirklich verschiedenen Standpunkte, wie es das selbständige und tolerante Denken auch in dieser historischen Situation verlangt hätte. Ferner sollen die Erzieher an den lebendigen Geist glauben und durch ihr Dasein zum Chaluziut (Pioniertum) erziehen – auch dies klingt eher nach charismatischer Führerbeeinflussung als nach dialogischem Prinzip. Gerade diese Widersprüchlichkeiten im Denken und Wirken Martin Bubers sind aber interessant, verweisen sie doch auf grundlegende pädagogische Fragestellungen: Welche Bedeutung kommt der Erzieherpersönlichkeit zu und wie gestaltet sich ihre Verantwortlichkeit zwischen Vermittlungsnotwendigkeit und der Förderung und Akzeptanz mündiger Andersheit? Wie lassen sich individuell-verantwortete Lebensgestaltung und Gemeinschaftsgefühl pädagogisch zusammen aufbauen – und schließlich, woraufhin haben sich Bildungsprozesse zu verantworten?

Sicherlich keine neuen Fragen, aber dieser Tagungsband macht sie wieder lebendig und erinnert in der Auseinandersetzung mit Martin Buber daran, dass in einem Aktionismus der Mittelgestaltung die Zielfragen des Humanen oftmals vergessen werden. Dahingehend ist die Lektüre dieses Sammelbandes sicher eine lohnenswerte dialogische Anregung für pädagogische Grundlagenfragen. An genauen Quellenangaben zur Martin-Buber-Forschung Interessierte kommen zudem in den Beiträgen voll auf ihre Kosten – ungeduldige Leser allerdings müssen mit vielen Wiederholungen und stellenweise allzu ausführlichen Darstellungen rechnen.
Petra Reinhartz (Flensburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Petra Reinhartz: Rezension von: Friedenthal-Haase, Martha / Koerrenz, Ralf (Hg.): Martin Buber, Bildung, Menschenbild und Hebräischer Humanismus. Paderborn, MĂĽnchen, Wien, ZĂĽrich: Ferdinand Schöningh 2005. In: EWR 5 (2006), Nr. 6 (Veröffentlicht am 28.11.2006), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/50671790.html