EWR 5 (2006), Nr. 5 (September/Oktober 2006)

Andrea Follak
Der "Aufblick zur Idee"
Eine vergleichende Studie zur Platonischen Pädagogik bei Friedrich Schleiermacher, Paul Natorp und Werner Jaeger
Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2005
(174 S.; ISBN 3-525-30149-9; 39,90 EUR)
Der "Aufblick zur Idee" „Eine vergleichende Studie zur Platonischen Pädagogik bei Friedrich Schleiermacher, Paul Natorp und Werner Jaeger“ verspricht die im Jahre 2004 vom Fachbereich Philosophie angenommene Konstanzer Dissertation von Andrea Follak. Den Rahmen, in den dieser Vergleich gespannt ist, bildet allerdings nicht eine pädagogische oder erziehungswissenschaftliche Fragestellung, sondern die eine mögliche Bandbreite der Platoninterpretation ausmessende Frage „Klarheit oder Schwärmerei?“, die an Kants Auseinandersetzung mit J. G. Schlossers Übersetzung von „Platos Briefe(n)“ (1793/94) anknüpft. Das erste Kapitel benennt diese Frage, das letzte Kapitel „Wider die Geheimniskrämerei“ verortet die drei verglichenen Autoren auf der Spanne zwischen den beiden genannten „äußersten Eckpunkten“ (11).

Die drei Autoren werden einerseits in zeitlicher Reihenfolge dargestellt, andererseits übernimmt Schleiermacher den Part des Taktgebers für die thematische Bandbreite der philosophisch-pädagogischen Platoninterpretationen. Danach stehen die folgenden Themen im Vordergrund: Das Verständnis des Begriffs der Idee, das Verhältnis des Einzelnen und der Familie zur Gemeinschaft (bisweilen wird auch, trotz Tonnies, von Gesellschaft gesprochen – vgl. 91), die Rolle der Religion bzw. des religiösen Gefühls sowie der Begriff der pädagogischen und/oder politischen Elite. Diese Themen liest die Verfasserin an Schleiermachers pädagogischer Platoninterpretation ab; sie bleiben für die Interpretationen von Natorp und Jaeger die Richtschnur. Was nun Schleiermacher angeht, werden dessen Differenzen zu Platon vor allem vom weltgeschichtlichen Auftritt des Christentums her geschrieben und notiert: Die Umkehr des Primats des Staates vor dem Einzelnen und vor der Familie, die Umdeutung der höchsten paganen Tugend der Gerechtigkeit zur christlichen Liebe, die damit einhergehende Schleiermachersche Kritik des platonischen Verständnisses des Geschlechterverhältnisses, die pädagogische Orientierung auf das einzelne Kind; schließlich wird Schleiermachers „offener“ Elitebegriff dem Konzept der Philosophenkönige entgegengestellt. Die Verfasserin zeigt schön, das Schleiermachers christlich inspirierte Platonlektüre, dessen Politeia an den Rand der Aufmerksamkeit rückt, und seine ethische Güterlehre, die mit einem historisch analysierbaren Stand der graduellen Verwirklichung der Idee des Guten rechnet, statt der Politeia den Timaios (und den Sophistes) ins Zentrum rückt, da Schleiermacher hier die besten platonischen Voraussetzungen für eine substantialistische Interpretation der Idee (des Guten) vorfindet (vgl. 28f). Die Verfasserin gesteht in ihrem Resümee freimütig, dass Schleiermachers Pädagogik „nicht auf Platon zurück(geht), sondern (…) sich gegen die Vorstellungen des antiken Philosophen“ abgrenzt (46). Von einer „platonischen Pädagogik“ kann man also im Falle Schleiermachers nur uneigentlich sprechen.

Umgekehrt erfährt der Leser aber auch nicht das Grundkonzept der Schleiermacherschen Pädagogik selbst; man möchte sagen, das sei auch nicht das Thema der Arbeit; und da dies zweifelhaft so ist, kann der Leser nur auf die beiden folgenden Kapitel zu Natorp und Jaeger hoffen. – Das Kapitel über Natorp ist das umfangreichste des Buches, es nimmt mehr als ein Drittel des gesamten Bandes ein und ist fast doppelt so lang wie das über Jaeger. Natorp ist am Beginn der Darstellung vor allem Antipode Schleiermachers, sofern er dessen substantialistische Auslegung des Begriffs der Idee neukantianisch unterläuft. Als Korrektiv oder Inkonsequenz notiert die Verfasserin demgegenüber die pädagogisch-politische Demokratisierung und Indienstnahme des „Gefühls der schlechthinnigen Abhängigkeit“ (Schleiermacher) zum Nachweis eines nicht intellektuellen, realen und zugleich vernünftigen Impulses, der in allen Einzelnen wirksam ist und deshalb dazu tauglich ist, die Differenz des Einzelnen und der einen Gemeinschaft zu überbrücken. Wiederum wird von der Verfasserin schön analysiert, inwieweit einem solchen „religiösen Gefühl“ Beharrlichkeit zugesprochen werden kann, wenn es, wie bei Natorp, im Wesentlichen objektlos, also ohne Religion als Gegenstand, bleibt. Zugleich wird deutlich gemacht, warum für Natorp dieses Gefühl eines ohne Gefühltes bleiben muss, und ihm stattdessen und obendrein die Dürre einer „Idee des Menschentums“ zugeordnet wird.
Natorps Sozialpädagogik wird im Weiteren zum Verhältnis des Einzelnen und der Gemeinschaft und insbesondere zur Totalisierung der Familie als dem Paradigma von Gemeinschaft sowie zum Elitebegriff hin untersucht. Das soll hier nicht im Einzelnen dargelegt werden. Überraschend freilich ist auch hier das Resümee der Autorin. Eigentlich, so meint sie, sei Natorps platonische Pädagogik weniger aus einer Platoninterpretation hervorgegangen als vielmehr aus einem „Kommentar zu Schleiermachers Erziehungslehre“, die der Leser ja nun aber doch bereits als Korrektiv der „Hellenischen Geistesentwicklung“ in ihrer Verfehlung kennen gelernt hat. Wiederum zu Natorp resümiert die Autorin „Natorps Pädagogikkonzeption bleibt vor dem Hintergrund der Schleiermacherinterpretation Platons oberflächlich“ (114).
Der dritte Vertreter der „platonischen Pädagogik“, wenn dieser Ausdruck überhaupt noch sinnvoll ist, ist Werner Jaeger. Er kommt, dies sei vorweggenommen, in der vorliegenden Arbeit schlecht weg. – Zunächst (120ff) erläutert die Verfasserin die forschungsmethodische Orientierung, die für Jaeger wichtig war, sowie die Konsequenzen, die er für das Konzept der Geistesgeschichte und seine eigene Forschungstätigkeit daraus zieht (125ff). Nachvollziehbar wird so in Teilen Jaegers Tendenz zur pädagogischen(!) Überbietung von Philologie und Geisteswissenschaft, Politik und Wissenschaftspolitik, mit einer Präferenz für die Gemeinschaft bzw. den Staat, was nun wiederum dem paganen Vorbild sowie den Optionen von Natorp entspricht. Die Kehrseite dieser Art von pädagogischer Finalisierung der Wissenschaften sieht die Autorin darin, dass Jaeger „die Grenzen zwischen Religion und Wissenschaft, zwischen Pädagogik und Philologie, zwischen Humanismus und klassischer Philologie“ (149) verwischt. Man wüsste gern: Hält sie das für unplatonisch?

Rezeptionsanalysen haben in der erziehungswissenschaftlichen Historiographie seit langem keine Konjunktur mehr. Umso verdienstvoller ist das vorliegende Unterfangen. Freilich gilt auch und gerade für Rezeptionsforschung: Jede Interpretation ist zugleich eine Selektion. Nun könnte man der Autorin nicht abverlangen, zunächst eine Platoninterpretation vorzulegen, um mit ihr als Folie die Selektivität der Interpretationen der drei Gewährsleute „platonischer Pädagogik“ aufzuzeigen. Aber wenn man auch nicht einmal einen Umriss skizziert, was an dem „Pädagogen“ Platon rezipierbar ist, und was vielleicht nicht rezipiert wurde, verbleibt nur der forschungsmethodische Weg, den die Verfasserin tatsächlich gewählt hat: Man hält die drei Platoninterpretationen aneinander und vergleicht sie untereinander. Aber der Preis für diese Vorgehensweise ist sehr hoch. So ist der titelgebende „Aufblick zur Idee“ bei Platon sicherlich nicht ohne das vorherige Durchlaufen des Curriculums, wie es in der Politeia beschrieben wird, zu haben; in der vorliegenden Arbeit findet man indes nicht einen einzigen Hinweis auf die Platonlektüre der drei Gewährsmänner, sofern sie an diesem Curriculum vorbeilesen. Und da derartiges offenbar öfter vorkommt [vgl. 1] wird man fragen dürfen: Ist das typisch für eine pädagogische Platonlektüre? – Dass erst mit Schleiermacher die pädagogische Platonlektüre beginnt, wie die Autorin bisweilen suggeriert, ist sicherlich nicht zutreffend. Sowohl die Politeia als auch Menon, Phaidon und Phaidros sind zum Ende des 18. Jahrhunderts hin wegen der Anamnesislehre sehr bald in das Blickfeld der Pädagogik geraten, und zwar immer mit Blick auf die entsprechende philosophische Diskussion – man vgl. Mendelssohns Phaidon und Ritters Abhandlung im philosophischen Journal von Niethammer und Fichte, von Herbarts „Platonismus“ hier ganz zu schweigen [2, 4].

Die Arbeit leidet an einer Vielzahl von Ungenauigkeiten und Widersprüchen bisweilen sogar auf ein und derselben Seite, die hier samt und sonders nicht benannt oder gar korrigiert werden können. Vielleicht hätte ein Lektor in diesen Fällen geholfen. Und schließlich noch dies: Auch dass in keinem einzigen Fall von der Autorin ein Bezug zur Forschungsliteratur über Schleiermacher, Natorp und Jaeger und die dort geführten Debatten hergestellt wird, verstimmt dann doch.

[1] Marcel van Ackeren: Rezension von: Kauder, Peter: Der Gedanke der Bildung in Platons Höhlengleichnisa, Eine kommentierende Studie aus pädagogischer Sicht, Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren 2001. In: EWR 1 (2002), Nr. 3 (Veröffentlicht am 01.07.2002), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/89676379.html.
[2] Mendelssohn, Moses: Phaidon oder über die Unsterblichkeit der Seele. In drei Gesprächen (1767), In: Moses Mendelssohn: Gesammelte Schriften. Nach den Originaldrucken und Handschriften hg. von G. B. Mendelssohn in 7 Bänden; Band 2, Leipzig: Brockhaus 1843 (1863), S. 65-207. (Nachdruck Hildesheim 1972).
[4] Ritter, Chr. G. W.: Philosophische Ideen zu einer allgemeinen Theorie des Lernens und Lehrens. In: Philosophisches Journal einer Gesellschaft teutscher Gelehrten, hg. v. J. G. Fichte und I. Niethammer. Band XIII (1798), Heft 4, S. 303ff.
Ders.: Allgemeine Folgerungen aus der Theorie des Lernens und Lehrens. In: Philosophisches Journal, a.a.O., Heft 5, S. 18ff.
Alfred Langewand (Landau)
Zur Zitierweise der Rezension:
Alfred Langewand: Rezension von: Follak, Andrea: Der "Aufblick zur Idee", Eine vergleichende Studie zur Platonischen Pädagogik bei Friedrich Schleiermacher, Paul Natorp und Werner Jaeger. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2005. In: EWR 5 (2006), Nr. 5 (Veröffentlicht am 29.09.2006), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/52530149.html