EWR 4 (2005), Nr. 1 (Januar/Februar 2005)

Migration und interkulturelle Pädagogik – eine Sammelbesprechung

Alfred Holzbrecher (Hrsg.)
Interkulturelle Pädagogik
Berlin: Cornelsen 2004
(191 Seiten; ISBN 3-589-21560-7; 13,50 )
Sigrid Luchtenberg
Migration, Education and Change
Abingdon (UK) & New York: Routledge 2004
(212 Seiten; ISBN 0-415-32203-0)
Agostino Portera
Educazione interculturale in famiglia
Brescia: Editrice La Scuola 2004
(380 Seiten; ISBN VVV; 25,00 )
Interkulturelle Pädagogik Die vorliegenden Bände beleuchten aus unterschiedlichen kulturellen und pädagogischen Traditionen sowie gesellschaftlichen Zusammenhängen heraus, aber auch mit verschiedenen Schwerpunkten und Intentionen den Themenkomplex "Migration und interkulturelle Pädagogik".

Die Monographie Interkulturelle Pädagogik von Alfred Holzbrecher – einem Autor, der sich auf diesem Gebiet insbesondere mit Werken zur Didaktik der Interkulturalität profiliert hat - wendet sich in erster Linie an Studierende. Das erste Kapitel (Zur gesellschaftlichen Dynamik von Selbst- und Fremdbildern) lässt die Kernprobleme der theoretischen Diskussion über Interkulturalität Revue passieren. Im zweiten Kapitel (Schule und Migration) erläutert A. H. das Phänomen der Migration "als Kennzeichen europäischer Geschichte" und zeigt damit – in didaktischer Absicht - , dass Migration nicht nur Deutschland betrifft und nicht nur ein Phänomen der heutigen Zeit ist, sondern ein Bestandteil der Geschichte schlechthin. Migration wird als die gesellschaftliche Entwicklung dargestellt, die als Herausforderung für die Pädagogik wahrgenommen wird und zuerst die Ausländerpädagogik, dann die interkulturelle Pädagogik hervorbringt. An die Ergebnisse von PISA anknüpfend, greift der Autor das Thema des Schulerfolgs (und des Schulversagens) überdurchschnittlich vieler Kinder mit Migrationshintergrund auf und zeigt, in welcher Weise die Ideen der interkulturellen Erziehung den bekannten institutionellen und individuellen Diskriminierungen entgegenwirken und zu einem besseren Bildungserfolg im Sinne der Chancengerechtigkeit beitragen können. Schulische Massnahmen für Kinder und Jugendliche mit Migrationsgeschichte stellt der Verfasser als Beitrag zur Schulentwicklung dar. Besonders anschaulich ist im Hinblick auf das Zielpublikum die klare Unterscheidung zwischen den Handlungsfeldern Unterricht, Schule und Schulsystem. Im dritten Kapitel (Gleichheit und Differenz: Interkulturelles Lernen als Antwort der Pädagogik auf Multikulturalität) erweitert A. H. die Fragestellung und die begriffliche Definition des interkulturellen Lernens. Der rote Faden, der sich durch dieses Kapitel zieht, ist die Auseinandersetzung mit Fremdheit und die Orientierung des Subjekts im Spannungsfeld von Gleichheit und Differenz. Eine Reihe von "didaktischen Konzepten und Perspektiven interkulturellen Lernens" werden nacheinander vorgestellt: Antirassistische Erziehung; Ethnische Spurensuche in Geschichte und Gegenwart; Lernen für Europa; Sprachliche, kulturelle und kommunikationsbezogene Allgemeinbildung; Globales Lernen Bilder vom Fremden und vom Eigenen wahrnehmen und gestalten. Danach präsentiert Holzbrecher ein "heuristisches Modell" (120ff.) des didaktischen Vorgehens.

Das vierte Kapitel (Interkulturelles Lernen durch Öffnung von Schule) stellt noch einmal eine Erweiterung der Perspektive dar und bezieht den Diskurs der "community education" in die vorangegangenen Überlegungen ein. Bestehende Institutionen, die in Deutschland integrativ tätig sind, werden als Beispiel für die Verbindung zwischen Schule und Gesellschaft vorgestellt. Das Thema der Schulentwicklung wird wieder aufgegriffen – diesmal ist das interkulturelle Lernen im Schulprofil der Angelpunkt. Schliesslich behandelt das fünfte Kapitel Pädagogische Professionalität als SelbstEntwicklungsaufgabe (sic) die Frage der Integration des interkulturellen Lernens in die Lehrerbildung. Forschendes Lernen, Praktikum als multikulturelle Erfahrung, Schülerbiografiestudien, Schule als Lern- und Lebensort sind die Ansätze, die zu einer Konkretisierung verhelfen sollen.

Das Buch knüpft insofern an den Stand der Diskussion an, als neben der Migration (dem klassischen Auslöser der interkulturellen Pädagogik zumindest in Deutschland und Westeuropa) auch andere Aspekte der pädagogisch produktiven Auseinandersetzung mit Multikulturalität und Mehrsprachigkeit genannt werden (Kapitel 3). Allerdings erscheinen diese fast wie Randerscheinungen und weniger wie genau so wichtige gesellschaftliche Entwicklungen, die – wie die Migration - zum Aufbau eines interkulturellen Diskurses beigetragen haben. Als ausgesprochene Stärke ist der klare, rhythmisierte Aufbau der Kapitel zu sehen. Theoretische Erörterungen (dem Rahmen und dem Zielpublikum entsprechend in knapper Ausführung) wechseln sich mit Webtipps, Arbeitsvorschlägen, Fallbeispielen ab. Die Literatur ermöglicht den Rückgriff auf weitere deutsch- und anderssprachige Autoren und Werke.

Der von Sigrid Luchtenberg herausgegebene Band Migration, Education and Change spricht ein anderes Publikum an – eher eine Leserschaft von Experten, die sich über Weiterentwicklungen des Themas informieren möchten und dazu sich der Mühe unterziehen, sich in Fallstudien zu ähnlichen oder verwandten Fragestellungen in verschiedenen Ländern zu vertiefen. Die einführenden und übergreifenden Kapitel sind von Ludger Pries (Bochum) mit einem Beitrag über Transnationalismus und Migration als neue Herausforderungen für die Sozialwissenschaften und die Erziehungswissenschaft und Sigrid Luchtenberg (Essen) mit Ausführungen zu den neuen Formen der Migration als Herausforderungen für Bildung und Erziehung. Es folgen Fallstudien über den Aufbau von sozialer Identität bei zugewanderten Jugendlichen in Westberlin (Sabine Mannitz); die Bildung von Migranten und Minderheiten im Vereinigten Königreich (Sally Tomlinson); die ethnisierte Schule in Frankreich (Françoise Lorcerie); die neue Einwanderung in Europa aus griechischer Sicht (Soula Mitakidou und Georgios Tsiakalos); die Förderung von Minderheitensprachen zu Hause und in der Schule (Guus Extra und Kutlay Yagmur); Schweden als mehrsprachige und multikulturelle Nation (Tore Otterup); die Antwort Australiens auf die Herausforderungen der Multikulturalität, der Globalisierung und des Transnationalismus (Christine Inglis). Ein Vorwort von James A. Banks (Washington D. C.) und eine Einleitung von Sigrid Luchtenberg runden den Band ab. Eher als ein Vergleich ist ein Nebeneinanderstellen der Beiträge möglich - und auch erkenntnisbringend. Zumindest teilweise gelingt es dadurch zu rekonstruieren, wie Gesellschaften und ihre Bildungssysteme die Multikulturalität und die Transnationalität wahrnehmen, definieren und in Chancen oder Risiken umwandeln. Es zeigt sich, dass Arbeitsmigration nur eine der Figuren der Migration (im eigentlichen Wortsinn: Wandern) ist (Lüdgers, 16); und dass Migration ein Aspekt des Oberbegriffs Internationalisierung ist, einem Prozess, der – wie Lüdgers in seiner systematischen Übersicht zeigt (24f.) viele Gesichter zeigt. Der Sammelband bietet viele Anstösse für eine Analyse des Themas Migration und Bildung jenseits der jeweils nationalen (geschweige denn lokalen) Bildungssysteme und Grenzen. Allerdings weisen einige Kapitel spartanische Literaturlisten auf, als ob aus der Sicht des Autors und/oder im betreffenden Land das Thema bis anhin kaum erforscht worden wäre. Davon abgesehen, stellt das Werk ein gelungenes Beispiel dar für die Organisation von Beiträgen, die an einem internationalen Symposion zustande gekommen sind, in einer inhaltlich anspruchsvollen und typografisch sehr ansprechenden Form. Die nächste Herausforderung bestünde dann darin, die Einsichten der Experten in den Kreislauf des Austausches mit Politikern fruchtbar einzubringen.

Agostino Portera hat mit seinem neuen Buch Educazione interculturale in famiglia zum Teil Elemente älterer Arbeiten ergänzt und in neuem Rahmen neu aufgelegt (Grundlagen der interkulturellen Pädagogik, Schulbuchforschung aus interkultureller Sicht), zum Teil aber Wege beschritten, ja besser gesagt: erschlossen, die von der interkulturellen Pädagogik bisher vernachlässigt worden waren. Porteras Grundthese ist, dass das neue Millennium von vielfältigen gesellschaftlichen Krisen (Orientierungslosigkeit, Gewalt, überhöhter Individualismus, Hedonismus, Konsumerismus usw.) gekennzeichnet ist, die auch die Familie tangieren, oder an denen die Familie beteiligt ist. Daraus leitet der Verfasser das Postulat ab, dass die Familie sich ihrer Funktion bewusst werden muss. Die allgemeine Pädagogik hat sich vermehrt in diesem Sinne auf die Effekte der Globalisierung und der gesellschaftlichen Komplexität einzustellen und dabei die interkulturellen Fragestellungen zu integrieren. Im ersten Kapitel erörtert der Autor das Thema "Familie" aus sozialanthropologischer, psychologischer und juristischer Sicht unter Berücksichtigung der Veränderungen, die im Zuge der Globalisierung und der multikulturellen Gesellschaften eintreten. Im zweiten und dritten Kapitel werden Chancen und Risiken der Familien beleuchtet, die aus verschiedenen Gründen multi- und interkulturell leben: eingewanderte Familien, solche, die aus einer bikulturellen und zweisprachigen Ehe hervorgehen, und schliesslich Familien, die Kinder aus anderen Ländern adoptieren. Das vierte Kapitel stellt die Theorie der interkulturellen Pädagogik dar – von den epistemologischen Zugängen bis hin zur Didaktik. Im fünften Kapitel geht es um die Anwendung der interkulturellen Pädagogik, die bis anhin vor allem als Pädagogik für die Schule oder für soziale Institutionen gehandelt wurde, in der Familie. Die Familie wird gar als privilegierter Ort der interkulturellen Erziehung bezeichnet, was eine bestechende These ist, wenn man bedenkt, wie entscheidend das Vorbild und die Qualität der Beziehung zu den ersten und engsten Bezugspersonen ist im Hinblick auf den Aufbau (und den Abbau) von Vorurteilen, auf die Fähigkeit, die Fremdheit zu "ertragen", auf das Weltbild schlechthin. In diesem Falle wird die Problematik der Umsetzung darin bestehen, Eltern und Familien zu erreichen und gleichzeitig junge, vielleicht zukünftige Eltern zu sensibilisieren. A. P., ein bikulturell sozialisierter Wissenschaftler, gibt umfangreiche weiterführende Literaturhinweise auch jenseits des italienischen pädagogischen Horizontes an.

Porteras neues Buch eignet sich für Studierende (die das Werk wohl in gut ausgewählten Portionen durcharbeiten werden), wobei der Autor keinerlei Abstriche hinsichtlich des theoretischen Anspruches macht, aber auch für Experten, denn vor allem die vertiefte Auseinandersetzung, ja die Wiederentdeckung der Familie aus und in interkultureller Sicht stellt eine interessante Entfaltung des interkulturellen Diskurses in Westeuropa dar.
Cristina Allemann-Ghionda (Köln)
Zur Zitierweise der Rezension:
Cristina Allemann-Ghionda: Rezension von: Holzbrecher, Alfred (Hg.): Interkulturelle Pädagogik, Berlin: Cornelsen 2004. Luchtenberg, Sigrid: Migration, Education and Change, Abingdon (UK) & New York: Routledge 2004. Portera, Agostino: Educazione interculturale in famiglia, Brescia: Editrice La Scuola 2004. In: EWR 4 (2005), Nr. 1 (Veröffentlicht am 31.01.2005), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/58921560.html