EWR 20 (2021), Nr. 2 (März/April)

Jens Elberfeld
Anleitung zur Selbstregulation
Eine Wissensgeschichte der Therapeutisierung im 20. Jahrhundert
Frankfurt, New York: Campus 2020
(703 S.; ISBN 978-593-51098-9; 58,00 EUR)
Anleitung zur Selbstregulation 1917 betonte der bekannte Schweizer Psychiater Eugen Bleuler, „Schöpfer“ der Diagnose „Schizophrenie“, in einem Vortrag, dass nicht allein die Psychiatrie sich immer weniger „psychophob“ verhalte, sondern dass man auf „allen Gebieten“ „sehr viel psychologischer“ geworden sei: in der Politik, der Pädagogik, der Theologie, vor Gericht, in der Literatur und in der Kunst.[1] Denn um 1900 hatte die Psychiatrie begonnen, die engen Grenzen der „Irrenhäuser“ zu überwinden, die forensische Psychiatrie, die Militärpsychiatrie und die Kinder- und Jugendpsychiatrie waren entstanden. Diese Vergrößerung des überkommenen Arbeitsgebietes war nur möglich, weil auch neue Störungen behandelt wurden. Zu den bekannten Geistes- gesellten sich die Nervenkrankheiten wie Hysterie, Nervosität oder Neurasthenie. Um diese neuen Formen des alltäglichen „Wahnsinns“ hatten sich bezeichnenderweise zunächst Neurologen wie George Miller Beard, Jean-Martin Charcot oder Sigmund Freud gekümmert. Die Ausdehnung der Psychopathologie vom Geist auf die um die Jahrhundertwende allgegenwärtigen Nerven ging auch mit neuen Ätiologien und mit neuen Therapien einher: Der Aufschwung der neuen, „milderen“ Nervenkrankheiten und der Aufstieg der Psychotherapien wie Hypnose, Suggestion und Psychoanalyse fielen zusammen. Die globale „Therapeutisierung“, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts einsetzte, beschäftigt die Forschung seit längerem. Während der Verlauf der „Therapeutisierung“ in seinen groben Umrissen bekannt ist und es nicht an verschiedenen widerstreitenden Einschätzungen des „psychotherapeutischen“ Wandels fehlt, mangelt es nach wie vor an genauen historischen Untersuchungen, die helfen, das nebulöse Schlagwort durch konkrete Studien zu lichten. Jens Elberfelds materialreiche „Wissensgeschichte der Therapeutisierung“ liefert einen überzeugenden Beitrag zur Einlösung dieses Desiderats.

Elberfelds umfangreiche Untersuchung „Anleitung zur Selbstregulation“ umfasst drei Teile, die jeweils fast als eigenständige Publikationen gelten könnten. Gewissermaßen erhält man drei Bücher für den Preis von einem, wobei es sich um ein durchaus vorteilhaftes Angebot handelt. In einem ersten Teil liefert Elberfeld einen Überblick über die Entwicklung vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zum Ende des 20. Jahrhunderts, in einem zweiten Teil beschreibt er die „Therapeutisierung“ in der BRD in den „langen“ 1970er Jahren. Diese ersten beiden Teile bilden die Grundlage für den krönenden Abschluss: Im dritten Teil studiert Elberfeld nämlich eine bislang kaum erforschte „Blüte“ der „Therapeutisierung“ der 1970er Jahre, die Entwicklung der Familientherapie. Da der erste Teil sich vornimmt, eine Übersicht über fast zweihundert Jahre zu geben, kommt das Kapitel, das sich vor allem auf Forschungsliteratur stützt, nicht ohne Raffungen und Kürzungen aus. Obwohl Elberfelds Arbeit Foucault verpflichtet ist, verfährt die Studie in diesem Teil zuweilen durchaus eher altmodisch, indem sie große Männer und ihre großen Ideen präsentiert. Dieser lesenswerte Galopp durch die deutsche Psychiatrie- und Psychotherapiegeschichte hat auch das Verdienst, wenig erforschten Entwicklungen wie der Schizophrenieforschung sein Augenmerk zu schenken. Im zweiten Teil beschäftigt sich Elberfeld mit dem schon in den 1970er Jahren sogenannten Psychoboom.[2] Neben einer Übersicht über bekannte Entwicklungen, wie z. B. „Psychiatriereform und gesellschaftlicher Wandel“ um „68“, nimmt sich Elberfeld wiederum auch kaum erforschter Entwicklungen an, wie etwa der „Therapeutisierung“ der Sozialen Arbeit oder des Aufstiegs der Beratung. Elberfeld beschäftigt sich mit einer derartigen Fülle von Entwicklungen, dass seine Untersuchung einzelner Aspekte bisweilen kurz ausfallen muss. Da jedoch die gewählten Beispiele ebenso überraschend wie aufschlussreich sind, wünschte man sich mitunter noch mehr und Genaueres zu erfahren – so z. B. zur „Therapeutisierung“ der Telefonseelsorge.

Der dritte Teil, für den zahlreiche „systemisch-therapeutische“ Zeitschriften ausgewertet wurden, beschreibt schließlich den Aufstieg und Wandel der Familientherapie – einer Form der Therapie, die bislang kaum erforscht wurde. Elberfeld analysiert sorgfältig die Institutionalisierung der Familientherapie mitsamt ihrer Methoden- und Richtungsstreitereien. Er nuanciert dabei etwa auch die Annahme, dass es sich um eine simple „Amerikanisierung“ gehandelt habe, und zeigt auf, wie vielfältig die Austauschbeziehungen in Wirklichkeit waren. Elberfeld beschreibt anschaulich die kybernetischen Grundlagen der entstehenden Familientherapie und untersucht die sich wandelnde Rezeption dieser Theorien, etwa in einem eigenen Kapitel zu „Psychowissen zwischen Kybernetik und New Age“. Einer der bestechenden Vorteile von Elberfelds Unterfangen ist, dass er nie der Illusion erliegt, dass es die Therapeutisierung, die Psychoanalyse, die Familientherapie etc. gegeben habe, sondern dass es ihm vielmehr um eine Beschreibung des damals herrschenden widersprüchlichen institutionellen, personellen, konzeptuellen und methodischen Wirrwarrs geht. So zeigt Elberfeld gekonnt, wie sich die Familientherapie durchaus erfolgreich zwischen alle psychiatrischen und psychoanalytischen Stühle setzte.

Als Ausblick auf die weitere Entwicklung zeichnet Elberfeld nach, wie die Familientherapie in den 1980er Jahren eine „konstruktivistische Kehre“ vollzog: „Im Zentrum der Behandlung stand nunmehr die Selbstregulation des Patienten und die Aufgabe des Therapeuten beschränkte sich auf Förderung der hierfür benötigten Fähigkeiten“ (482). Bekanntlich kam es zu dieser „Kehre“ nicht nur in der Familientherapie, sondern auch in der Pädagogik. Es genügt, „Behandlung“ durch „Unterricht“, „Patient“ durch „Schulkinder“ und „Therapeut“ durch „Lehrkraft“ zu ersetzen, um eine programmatische Blaupause einer konstruktivistischen Didaktik zu erhalten. Die Aufgabe, die sich Elberfeld stellte, war zwar nicht, einen Beitrag zur Bildungsgeschichte zu leisten, aber das Beispiel zeigt – und es genügt, an die schulpsychologische Beratung, das „Psychowissen“ der Eltern und der Lehrkräfte, die Ausbildung von Lehrer und Lehrerinnen etc. zu denken –, dass seine Untersuchung auch für die Historische Bildungsforschung von Bedeutung ist. Schließlich war es – so zumindest Michel Foucaults Vermutung – gerade die am Ende des 19. Jahrhunderts entstehende Verbindung von Psychiatrie und Pädagogik, welche die „Macht der Psychiatrie“ festigte.

Eine der Schwierigkeiten, mit der Elberfelds Genealogie des „Psychowissens“ kämpft, ist der unübersichtliche reiche Stammbaum mit seinen verwirrenden und weit zurückreichenden Verästelungen. Durch dieses genealogische Dickicht bahnt sich Elberfeld klug seine Wege, indem er zwischen allgemeineren „Etappen“, die den Kontext berücksichtigen, und „spezialisierten“, die „mikroskopischere“ Befunde zulassen, wechselt. Auf diese Weise gelingt es ihm, einen instruktiven Überblick über die Entwicklung der „Therapeutisierung“ zu geben und gleichzeitig mit der Familientherapie ein wichtiges „Symptom“ dieses Wandels eingehend zu untersuchen und dadurch zum Verständnis weit verzweigter Vorgänge beizutragen, die kaum einen Bereich des Lebens im 20. Jahrhundert unberührt ließen.

[1] Bleuler, E[ugen]: Die psychologische Richtung in der Psychiatrie. In: Verhandlungen der Schweizerischen Naturforschenden Gesellschaft 99, 1917, S. 87–105, hier S. 87, 103–104. Online: http://doi.org/10.5169/seals-90303 [14. Februar 2021].
[2] Vgl. Maik Tändler: Das therapeutische Jahrzehnt. Der Psychoboom in den siebziger Jahren. Göttingen: Wallstein, 2016.
Patrick BĂĽhler (Solothurn)
Zur Zitierweise der Rezension:
Patrick BĂĽhler: Rezension von: Elberfeld, Jens: Anleitung zur Selbstregulation, Eine Wissensgeschichte der Therapeutisierung im 20. Jahrhundert. Frankfurt, New York: Campus 2020. In: EWR 20 (2021), Nr. 2 (Veröffentlicht am 28.04.2021), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/59351098.html