EWR 3 (2004), Nr. 2 (März/April 2004)

Geschlecht und Erziehung in der Pädagogik der Aufklärung – Eine Doppelrezension

Anja Belemann-Smit
Wenn schnöde Wollust dich erfüllt …
Geschlechtsspezifische Aspekte in der Anti-Onanie-Debatte des 18. Jahrhunderts
Frankfurt a.M.: Peter Lang 2003
(233 Seiten; ISBN 3-631-50429-2; 37,80 EUR)
Nicole Lippki
Integration und Differenz der Geschlechter
Ihre Entdeckung in didaktischer Absicht zu Beginn des Zeitalters der Aufklärung. Rekonstruktion an Samuel Richardsons Erziehungsroman Pamela
Frankfurt a.M.: Peter Lang 2003
(388 Seiten; ISBN 3-631-50598-1; 50,10 EUR)
Die Aufklärungsepoche fordert schon immer am meisten durch ihre Brüche und Widersprüche heraus, die von Anfang an mit den weitreichenden Hoffnungen auf den berühmten "Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit" (Kant) verbunden waren. Erziehung und Bildung wurden einerseits grundlegend reformiert und auf breite Bevölkerungsschichten ausgedehnt. Andererseits nahm man gravierende Einschränkungen vor, legitimierte sie mit diskriminierenden Vorstellungen über "die Natur" der Geschlechter und ergriff im Namen der Vernunft durchaus rigide erzieherische Maßnahmen, die sich – angesichts der relativ hoch gesteckten pädagogischen Erwartungen – doch als extrem unangemessen und fragwürdig erwiesen.

Die historische Frauen- und Geschlechterforschung zeigt genau diese bedingte Emanzipation durch Bildung auf, die zweifellos Mädchen und Frauen besonders benachteiligte. Geschlechterforschung hinterfragt nicht nur sozial konstruierte Differenzen, sondern bringt mittlerweile auch problematische Aspekte einer positiven Diskriminierung des männlichen Geschlechts ans Licht. Das gebrochene und durchaus zwiespältige Verhältnis der Aufklärer und Menschenfreunde zu Körper, Sinnlichkeit und Sexualität spiegelt sich in zahlreichen Schriften der Zeit und gipfelt in der medizinisch initiierten Debatte über Onanie, die geschlechtsspezifische Unterschiede kennt und moralische Ansprüche entsprechend differenziert formuliert. Es sind vorwiegend Ratgeber oder populär-pädagogische, moralische Schriften, die hier Belehrendes, Erbauliches und Unterhaltsames überzeugend verbinden wollen. Im 18. Jahrhundert entdecken pädagogisch ambitionierte Autoren und Autorinnen zudem verstärkt den Briefroman als ein scheinbar vorzüglich geeignetes Mittel, um nachhaltig belehrende und moralisierende Wirkungen zu erzielen.

Im vergangenen Jahr sind zwei Studien erschienen, die auf Promotionsebene gezielt Briefromane zum Geschlechterthema ins Zentrum des Interesses rücken und die didaktischen Besonderheiten dieser Literaturgattung mehr oder weniger gründlich reflektieren und veranschaulichen. So behandelt Lippki mit Samuel Richardsons Roman "Pamela" aus dem Jahr 1740 sozusagen den "Prototyp" des Genre. Sie geht kursorisch auf die Techniken ein, die Spannung, Neugierde, Glaubwürdigkeit bzw. "reale Fiktionen" oder Überraschungseffekte erzeugen sollen (Lippki, 132-140). In der "schlüssellochähnlichen" Perspektive, im "Lesen fremder Briefe" liege ein besonderer Reiz der Indiskretion, die eine unmittelbare, stark gefühlsbetonte, teilnehmende Haltung provoziere, womit sich Richardson als "Bahnbrecher des psychologischen Romans" empfehle (134 f). Bei ihm diene die Briefform nicht – wie im 18. Jahrhundert üblich – als Medium der Bildung oder Konstruktion von Weiblichkeit. Richardson vertrete "eher eine feministische Denkungsweise, bei der das überkommene Bild der Geschlechterpolarität verwischt werden" solle (vgl. 139). Tiefergehende, vor allem systematische Überlegungen zu den – im Titel angekündigten – didaktischen Absichten sucht man dann vergeblich.

Im Unterschied dazu setzt sich Belemann-Smit explizit mit dem "Briefroman als ideale[r] literarische[r] Gattung für die Behandlung sexualpädagogischer Themen" (Belemann-Smit, 145) auseinander und bringt die didaktischen Vorteile überzeugend auf den Punkt: Durch die angebliche Vermittlung zwischen Lesern und Briefeschreibern ließen die Autoren ihren Roman als wahr bzw. authentisch erscheinen und könnten – versteckt hinter ihren Figuren – selbst prekäre Themen ansprechen, ohne das Schamgefühl zu verletzen (vgl. 145-147). Deshalb eigne sich – Dagmar Grenz folgend – der empfindsame Briefroman besonders "für die Darstellung von Sexualität" (ebd.). Nur in dieser heimlichen und indirekten Form könne man dann nämlich wieder relativ offen kommunizieren. Belemann-Smit geht in ihrer Studie immer wieder auf die Vorzüge der Briefform ein, die Leserinnen besondere Identifikationsmöglichkeiten und Lern-, oder besser: Läuterungsprozesse eröffne (vgl. 182). Damit liefert sie neben der Behandlung ihrer eigentlichen Fragestellung wertvolle Bausteine für weitere literaturwissenschaftlich fundierte pädagogisch-didaktische Analysen von Briefromanen oder moralischen Schriften überhaupt.

Der relativ geringe Stellenwert von explizit didaktischen Aussagen bleibt leider nicht das einzig Befremdliche der Arbeit von Nicole Lippki (vgl. Lippki, 161 f). Alleine schon das 13 Seiten umfassende Inhaltsverzeichnis mag übertrieben scheinen, ließe aber zumindest eine bis ins kleinste Detail durchdachte Systematik erwarten. In Wirklichkeit folgt die Arbeit jedoch – mit Verlaub – dem "System von Kraut und Rüben". Assoziative, gedankliche Sprünge, oberflächliche, bedenkenlose Auflistungen von Namen und kleinsten Versatzstücken aus diversen modernen Theorien bringt Lippki – oftmals ganz ohne Reflex auf den historischen Kontext – in zum Teil recht fragwürdige oder lose wirkende Verbindungen zu Richardson. Überhaupt meint man, zwei verschiedene Bücher in einem vor sich zu haben. Denn die auffällig hohe, jedes erträgliche Maß übersteigende Zahl von Redundanzen lässt sich mutmaßlich nur so erklären, dass der erste Teil offenbar entstanden ist, nachdem der textanalytische zweite Teil bereits weitgehend abgeschlossen war. Gewisse und – wie wir noch sehen werden – nicht einmal ganz unbegründete Unsicherheiten, was den systematischen Ertrag angeht, gaben vielleicht den Anlass dazu, eine eher allgemein gehaltene Darstellung der charakteristischen Elemente der Geschlechterverhältnisse in der Aufklärungsepoche voran zu schicken und eine grobe, kaum strukturierte Skizze damals vorherrschender Auffassungen von Ehe, Familie, Moral, sozialem Stand, Erziehung, Bildung etc. sowie von den naturrechtlichen, philosophischen und pädagogischen Diskursen über die Geschlechter zu zeichnen, mit denen Richardson entweder übereinstimmte oder von denen er sich abgrenzte (vgl. 35-132).

Dieser Ritt durch die Geistesgeschichte und die aktuelle Forschungslandschaft wird nur durch die permanenten Hinweise auf spätere Kapitel durchbrochen, die den Leser und die Leserin – eingeleitet durch Formeln wie: "auch Richardson ..." – mit Behauptungen konfrontieren, die zu diesem Zeitpunkt weder nachvollziehbar noch überprüfbar sind, weil der ernsthaft geführte Nachweis am Text selbst gerade (noch) nicht erfolgt ist. Manche Beweise sind vermutlich gar nicht zu erbringen, weil es sich um zu gewagte Thesen bzw. Aktualisierungen handelt. Ohne den geringsten Skrupel zieht Lippki Parallelen zu modernen sozialwissenschaftlichen Ansätzen, baut Richardson etwa zum Vorläufer von sozialpädagogischer Integration, Konstruktivismus, Systemtheorie, Interaktionismus oder life-long-learning auf (vgl. 141-154), um die "Leserschaft" anschließend vor dieser unhistorisch erzeugten Erwartungshaltung zu warnen: So sei es z. B. abwegig, "ein Konzept organisierter bzw. institutionalisierter Erwachsenenbildung in Richardsons Erstlingswerk" vorfinden zu wollen (vgl. 151).

Die Lektüre wird zusätzlich durch ein Beleg- und Zitationsverfahren erschwert, das sich sehr großzügig aus zweiter Hand bedient, oft ohne eindeutige Zuordnungen vorzunehmen oder die erwähnten Titel und Autoren im Literaturverzeichnis anzuführen.

Neben diesen teilweise gravierenden formalen bzw. "handwerklichen" Mängeln ist die Arbeit inhaltlich leider nicht nur in diesem ersten, sondern auch im zweiten textanalytischen Teil verunglückt: Lippki nennt eingangs als "Hauptziel" ihrer Untersuchung "Richardsons didaktische Absicht der sozialen Integration des weiblichen Geschlechts an seinem Erziehungsroman Pamela zu rekonstruieren und die von ihm kritisierte künstliche 'geistige' Geschlechterdifferenz aufzuzeigen" (23). Dieses Ziel verfolgt sie etwa ab Seite 170, wo die eigentliche Darstellung und Analyse der inhaltlichen Schwerpunkte beginnt. Der Abschnitt trägt die Überschrift "Die didaktischen Elemente des Romans" (170-352) und umfasst ziemlich alle Konflikte, die der Roman aufwirft: Standesunterschiede im Verhältnis zu Geschlechtsunterschieden, sexuelle Gewalt und die Rolle der Frau aus männlicher Sicht, Hierarchie oder Partnerschaft in der Ehe, Emanzipation und Bildung der Frau, Verantwortung für die Kindererziehung, geschlechtsspezifische Unterschiede, Vaterrolle (170-331) und – noch einmal – "Ehe als aufgeklärte Lebensform", Kinderaufzucht und rechtliche Verbesserungen für die Frauen (331-352).

Viele dieser Probleme werden nun erst mit ausgiebigen Textbeispielen belegt und vorgeführt. Die sporadischen Kommentare und Interpretationen lehnen sich sehr eng an den Text an, paraphrasieren häufig nur, ziehen kaum Sekundärliteratur zu Rate und verfallen rasch in minutiöse Schilderungen anderer kleiner Bruchstücke aus dem Roman, die teilweise wiederholt auftauchen und – oft mehr beteuernd als überzeugend – die progressive Haltung des Autors bebildern sollen. Durchdachte, realistische, vor dem historischen Hintergrund haltbare Einschätzungen darf man also nicht erwarten. Das Ganze wirkt eher wie eine willkürliche Sammlung zum Teil durchaus interessanter Gesichtspunkte, die – mit Überschriften versehen – eine systematische Ordnung vorspiegeln, letztlich aber in der Fülle einzelner Details oder im Material selbst untergehen. So dürfte nachträglich die Idee für den ersten Teil entstanden sein.

Die Autorin legt besonderen Wert auf die Auseinandersetzung mit den so genannten "Anti-Pamelisten", dabei fällt es ihr offenkundig schwer, mit Ambivalenzen umzugehen. So könne man "keinesfalls nachweisen", dass die Protagonistin "Moral nur heuchelt, um ein materielles Interesse zu verfolgen" (130 f; vgl. auch 49, 62 f, 88, 155). Richardson wolle vielmehr "den Zustand der 'Glückseligkeit' ... beschreiben, den Pamela durch ihre standhafte Moral" erreiche. Diese Haltung wird schließlich durch eine nicht-standesgemäße Ehe und einen vom "'rake' zum 'husband'" (227) geläuterten Ehemann belohnt. Lippkis Neigung zur Eindeutigkeit zeigt sich besonders, wenn sie Richardson – der in Geschlechterfragen sicher ein interessanter Querdenker war – gleich eingangs unumwunden als "Avantgardist[en] der weiblichen Emanzipation" (21) bezeichnet und zum Vertreter des Feminismus (vgl. z. B. 111, 131, 139, 316, 328, 337, 339, 351) oder zum "'Cartesianische[n] Feminist[en]'"(167) stilisiert, obwohl diese Einstellung – wie Lippki zugestehen muss – oftmals nur "verdeckt" (vgl. 100), "weitgehend zwischen den Zeilen" verborgen (347) bleibe und manches "auf den ersten Blick" sogar "anti-feministisch" scheine (vgl. 356).

Abschließend bleibt zu bedauern, dass eine so intensive Auseinandersetzung mit dem Roman zwar zweifellos einige bedenkenswerte und anregende Ideen enthält, sich historisch-systematisch, pädagogisch-didaktisch sowie strukturell und formal nicht besser umsetzen ließ. Letztlich wirkt sich darin auch der verhängnisvolle, gleichwohl kostensparende Verzicht der Verlage auf ein Lektorat aus, wodurch die Autoren für die Qualität ihrer Bücher ganz alleine verantwortlich und das heißt oft – alleine gelassen sind.

Der Zufall will es, dass die Studie von Anja Belemann-Smit im selben Verlag erschien. Sie kam mit dem Mangel sehr viel besser zurecht, hatte in Friedrich Koch und Dagmar Grenz aber auch zwei speziell auf diesem Gebiet ausgewiesene, fachlich kompetente Betreuer und Gesprächspartner. Bereits der erste Blick in das klar strukturierte Inhaltsverzeichnis offenbart eindeutig logisch aufeinander aufbauende, thematische Schwerpunkte sowie eine kluge Auswahl von Schriften, die bisher überhaupt nicht oder nicht unter dem Gesichtspunkt geschlechtsspezifischer Differenzen in der Bekämpfung von Onanie analysiert wurden. Belemann-Smit gibt zunächst einen soliden Überblick über den Forschungsstand und beginnt mit der Feststellung, die "wissenschaftliche Beschäftigung mit der Onanie" sei bis heute "weitgehend tabuisiert" (vgl. Belemann-Smit, 22). Obwohl alle Arten sexueller Vorlieben mittlerweile Gegenstand von Gesprächen und wissenschaftlichen Untersuchungen seien, gelte "Autosex" nicht als "eigenständige Form der Befriedigung", sondern stets als "Ersatz" und rücke damit sogar aus dem Fokus der Wissenschaft. Ob dies wegen oder unabhängig von der geläufigen Stigmatisierung dieser besonderen Sorte "Verlierer in der Gesellschaft" geschehe, bleibt offen. Jedenfalls sei "wissenschaftliche Literatur zur Anti-Masturbations-Pädagogik" deshalb "recht überschaubar" geblieben (vgl. 22 f). Getrennt von explizit pädagogischen Arbeiten finden sich eine Reihe sozialwissenschaftlicher Arbeiten, die sich zunächst im Wesentlichen von Elias und Freud, seit Ende der 80er Jahre verstärkt von Foucault inspirieren ließen. Belemann-Smit selbst sieht in den Ergebnissen ihrer Studie auch eher die Positionen von denjenigen bestätigt, die sich an Elias oder Foucault orientieren (vgl. 110-112).

In den ersten beiden Kapiteln klärt Belemann-Smit zunächst den theoretischen Kontext bzw. die theoretischen Grundlagen der Anti-Masturbations-Pädagogik. Entscheidend ist hier zweifellos die allmähliche Ausprägung vermeintlich typischer Geschlechtscharaktere oder der Übergang vom "Ein-Geschlecht-Modell" zur Entdeckung biologischer Unterschiede und letztlich zu naturalistisch begründeten – besser: gerechtfertigten – sozialen Differenzen. Im Rückgriff auf einschlägige Forschungen zeichnet Belemann-Smit die Entwicklungen nach und hält die gesellschaftspolitischen Ursachen genauso fest, wie die sozialen Zuschreibungen an die weibliche bzw. männlich Sexualität (vgl. 37-52). Dem schließt sich ein Kapitel über die "[m]edizinischen Theorien zur Onanie" an, das den Weg von der Akzeptanz der so genannten "Notonanie" hin zum medizinisch untermauerten Feldzug gegen die Masturbation aufzeigt, wie er hauptsächlich durch die Schriften von Bekker und Tissot ausgelöst bzw. getragen wurde (53-64). Die schädlichen Folgen der "Selbstbefleckung" betreffen beide Geschlechter und konzentrierten sich bekanntlich auf "die Genitalien, das Rückenmark und das Gehirn" (61), wobei "Frauen und Mädchen auf Grund ihrer zarteren und sensibleren Konstitution" stärker zu leiden hätten (vgl. 62).

Es folgt nun der erste Schritt der eigenen Untersuchung, die "Inhalte der pädagogischen Anti-Onanie-Literatur systematisch" auswertet (65-115) und aus den Texten "gemeinsame Argumentationsstrukturen" heraus arbeitet (75). Belemann-Smit konzentriert sich in etwa auf den Zeitraum zwischen 1770 und 1805 und vornehmlich auf Schriften, die Eltern und Erzieher zum entschlossenen Handeln auffordern. Sie untersucht eine ganze Reihe von Schriften zunächst inhaltsanalytisch unter folgenden Gesichtspunkten: Ursachen, Anlässe von Onanie, Überführung der Onanisten und Maßnahmen gegen die Onanie. Letztere fallen bekanntlich geradezu drastisch aus und reichen von einer strengen Tugenderziehung bis zur Infibulation. Als Paradox bleibe festzuhalten: Versuche, Onanie zu bekämpfen, lenkten die Aufmerksamkeit erst auf die Sexualität (vgl. 110). Bezogen auf geschlechtsspezifische Unterschiede fehle den Autoren häufig das empirische "'Tatsachenmaterial' zur Onanie der Mädchen", weil "größere Ehrfurcht" und "peinlichere Schamhaftigkeit" entsprechende Beobachtungen oder Überführungen erschwerten. Die "Subsumierung der weiblichen unter die männliche Onanie" erkläre sich nur durch die bis dahin noch unabgeschlossene "Polarisierung der Geschlechtscharaktere" (111). Wenn die Schriften allerdings Akzente setzten, zielten sie "auf eine Fixierung der Geschlechterrollen" und ein Vorantreiben "gesellschaftlicher Veränderungen"(vgl. ebd.). Dies ist in der Tat ein nicht zu vernachlässigender Aspekt: Die Anti-Onanie-Debatte reguliert ja zugleich "elterliche Sexualität". Ferner finden bürgerliche Tugenden ihre Bestätigung und die neuen Körpervorstellungen tragen auch zur Abgrenzung des Bürgertums von anderen sozialen Schichten bzw. Ständen bei (vgl. ebd.). Das Ende der Debatte führt Belemann-Smit auf den "Paradigmenwechsel innerhalb der Pädagogik" (112) zurück. Im Zuge neuhumanistischer Vorstellungen – über die schematische Entgegensetzung zur Pädagogik der Philanthropen mag man gerade mit Blankertz streiten – wurden geschlechtliche und gesundheitliche Themen zunehmend "aus dem Schulalltag verbannt" (113). Die "sexualpädagogische Zielsetzung" sei auch im 19. Jahrhundert gleich geblieben, aber unterdessen sei die "Schambelastung der 'Sexualität' ... soweit fortgeschritten ..., dass Warnungen, Drohungen und Verbote nicht mehr offen ausgesprochen werden" mussten (vgl. 115).

Damit sind alle Vorbereitungen getroffen, um sich fundiert mit einzelnen Schriften zu befassen, die sich explizit an Jugendliche wandten, und genauer zu untersuchen, ob sie in Inhalt und Form dem selbst gesetzten aufklärenden, besser: belehrenden Anspruch gerecht wurden, welche geschlechtsspezifischen Differenzen sie dabei machten und wie sie versuchten, nachhaltig Wirkung zu erzielen bzw. die Rezeption zu steuern (117-214). All das geschieht vorbildlich, nicht nur an den beiden, damals preisgekrönten Schriften von Johann Friedrich Oest und Peter Villaume, was man ohnehin erwartet hätte, sondern eben auch an vier Briefromanen, die bisher so gut wie keine wissenschaftliche Beachtung fanden: Salzmanns "Carl von Carlsberg oder Über das menschliche Elend", Johann Timotheus Hermes: "Für Töchter edler Herkunft" und dem bislang fälschlich Hermes zugeschriebenen Pendant (vgl. 185): "Für Jünglinge jedes Standes. Traurige Wahrheiten im Romangewande. Ein Pendant zu dem Buche 'Für Töchter edler Herkunft" von einem anonym gebliebenen Autor sowie an dem "Nachzügler" der Debatte von Kaspar Jakob Kügelgen: "Die Leiden des jungen Hubers", ein Werk das "schon kurz nach seinem Erscheinen völlig in Vergessenheit" geriet, weil das Thema Onanie 1805 nicht mehr in Mode war und sich das "Schweigen der Pädagogik" allmählich durchgesetzt hatte (vgl. 201).

Sämtliche Schriften behandelt Belemann-Smit entlang eines klaren Schemas: Auf die knappe Darstellung von Inhalt, Aufbau und gegebenenfalls Erzählperspektive folgt eine Analyse, die sorgfältig charakteristische Schwerpunkte der Argumentation herausarbeitet, dabei Brüche, Widersprüche und Ambivalenzen deutlich werden lässt und stets auch die intendierte Überzeugungskraft sowie die dafür gewählten didaktischen Mittel bzw. die "Darstellungsweise und Rezeptionssteuerung" reflektiert. Mit einer kurzen Zusammenfassung wird jede einzelne Einheit abgerundet. Die Autorin geht auffallend gründlich und gewissenhaft, aber auch ideenreich und kreativ vor, was sich m. E. am eindrücklichsten daran zeigt, dass sie – fast nebenbei und sehr überzeugend – die viel stärkeren Einflüsse von Salzmann und Oest auf den anonym gebliebenen Romanautor darzulegen versteht (vgl. 190 f). Das gilt selbstverständlich auch für die Hauptstränge der Untersuchung, die deutlich machen, in welcher Weise die Schriften zur Geschlechterideologie und zur Sexualisierung der Jugend beitragen. Die Autoren bemühen sich durchgängig um geschlechtsspezifische Argumente. Sie sprechen Mädchen eher auf der Ebene der Scham, Jungen auf der Vernunftebene an, schildern Sexualität selbst und die Folgen der Onanie für Mädchen behutsamer, indirekter, nicht so drastisch und abschreckend wie für Jungen (vgl. 216 f). Oder – wie Belemann-Smit es selbst zusammenfasst: "Die Literatur der Anti-Masturbations-Pädagogik schafft also tendenziell zwei Geschlechter, von denen sich eins 'sexualisiert' primär über 'Schamhaftigkeit' definiert, während sich das andere – ebenfalls 'sexualisiert' – selbst durch eine Permanenz der Furcht kontrolliert" (218 f).

Insgesamt ein lesenswertes Buch, das nüchtern, klar und in keiner Weise beschönigend zeigt, wie fatal medizinische und pädagogische Diskurse in allen diesen Fragen ineinander gewirkt und sich ergänzt haben. Ein Buch, das neue Quellen erschließt, Literaturwissenschaft und Pädagogik sinnvoll verbindet und dabei zugleich greifbar macht, wie aufschlussreich, interessant und anregend die Auseinandersetzungen auch mit weniger ruhmreichen, dunklen Kapiteln unserer ideengeschichtlichen Tradition sein können.
Johanna Hopfner (Graz)
Zur Zitierweise der Rezension:
Johanna Hopfner: Rezension von: Belemann-Smit, Anja: Wenn schnöde Wollust dich erfüllt …, Geschlechtsspezifische Aspekte in der Anti-Onanie-Debatte des 18. Jahrhunderts, Frankfurt a.M.: Peter Lang 2003. Lippki, Nicole: Integration und Differenz der Geschlechter, Ihre Entdeckung in didaktischer Absicht zu Beginn des Zeitalters der Aufklärung. Rekonstruktion an Samuel Richardsons Erziehungsroman Pamela, Frankfurt a.M.: Peter Lang 2003. In: EWR 3 (2004), Nr. 2 (Veröffentlicht am 31.03.2004), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/63150429.html