EWR 3 (2004), Nr. 3 (Mai/Juni 2004)

Hans-Werner Fuchs
Gymnasialbildung im Widerstreit
Die Entwicklung des Gymnasiums seit 1945 und die Rolle der Kultusministerkonferenz
Frankfurt a.M.: Peter Lang 2004
(476 Seiten; ISBN 3-631-52006-9; 74,50 EUR)
Gymnasialbildung im Widerstreit Wenngleich das Gymnasium wie keine andere Schulart die deutsche Bildungsgeschichte und -tradition repräsentiert und bestimmt hat, wurde die Einheit seines Programms und seiner institutionellen Gestalt im historischen Prozess in einer Weise Veränderungen unterzogen, die "das" Gymnasium bei näherer Betrachtung kaum als ein kontinuierlich homogenes Gebilde erscheinen lassen. Im Zuge einschneidender institutioneller Reformen wie zuerst der Gleichstellung der verschiedenen Gymnasialtypen bei der Universitätsimmatrikulation im Jahr 1900, später der Bonner Vereinbarung zur Oberstufenreform von 1972 wurden in jeweils außerordentlich kontroversen bildungspolitischen und wissenschaftlichen Debatten die herkömmlichen Prinzipien des Gymnasiums infrage gestellt und davon abweichende, bereits bestehende Entwicklungstendenzen politisch und wissenschaftlich auf neue Weise legitimiert. Im Zusammenwirken erneuerter Legitimationsformen und analoger, tief greifender Änderungen innerer Differenzierungs- bzw. Organisationsprinzipien erscheint "das" Gymnasium in historisch-langfristiger Perspektive schon seit dem 19. Jahrhundert als ein variables und anpassungsfähiges Konstrukt einer spezifisch segmentierten Allgemeinbildung.

Während diese institutionelle Varianz des Gymnasiums in der sozialgeschichtlichen Bildungsforschung eher im Kontext des Gesamtaggregats "Bildungssystem" bearbeitet und dabei die komplizierten Wechselbeziehungen mit dem historischen Wandel vor allem der Berufs- und Sozialstruktur untersucht worden sind, geht die 2001 an der Bundeswehrhochschule in Hamburg angenommene und nun veröffentlichte Habilitationsschrift von Hans-Werner Fuchs einen völlig anderen, diskurs- und politikzentrierten Weg. Auf der einen Seite fokussiert die Arbeit nicht oder nur schwach das Bildungssystem insgesamt als institutionelle Umwelt eigener Art und zugleich Entwicklungsparameter des Gymnasiums, dessen Wandel damit eher aus seiner Binnenstruktur heraus betrachtet wird. Auf der anderen Seite bereichert die Untersuchung ohne Frage die gelegentlich der Reduktionsgefahr ausgesetzten strukturanalytisch-statistischen Analysen durch die Einbeziehung der Akteure und der Handlungsspielräume der Bildungspolitik und -entwicklung.

Unter der Leitfrage, "wie sich gymnasiale Bildung seit 1945 verändert und wer die Veränderungsprozesse maßgeblich beeinflusst" (19) hat, liefert Fuchs in den ersten Kapiteln eine außerordentlich fundierte teils chronologisch, teils akteursspezifisch differenzierende Analyse der "Rekonstruktion des höheren Schulwesens" in der alten Bundesrepublik nach 1945, der Anfänge und Entwicklung der länderübergreifenden Zusammenarbeit und Koordinierung des Bildungswesens durch die Kultusministerkonferenz sowie arrondierend Übersichten über die bildungspolitischen Positionen und Optionen der verschiedenen Parteien und Verbände, darunter insbesondere auch der Deutsche Bildungsrat, die Bund-Länder-Kommission sowie die Westdeutsche Rektorenkonferenz. In der Sache liefert dieser eher darstellende Teil zwar nicht grundsätzlich neue Erkenntnisse. Gleichwohl ist Fuchs hier eine über die vorliegenden Überblicksdarstellungen weit hinausgehende, die Ergebnisse der einschlägigen Sekundärliteratur ausgezeichnet kompilierende Entwicklungsbeschreibung mit einer hohen Auflösungstiefe in Bezug auf historische Detailprozesse gelungen. Dies gilt insbesondere für die Rekonstruktion des höheren Schulwesens nach 1945 bis in den Beginn der 1950er Jahre, die nach den verschiedenen Besatzungszonen bzw. den späteren Ländern der alten Bundesrepublik aufgegliedert wird.

Im Anschluss an die erwähnte Beschreibung der Koordinierung des Bildungswesens durch die KMK und die Darlegung der Positionen der Parteien und Verbände folgen als Kernstück der Arbeit Untersuchungen zur "Strukturellen Angleichung der Schularten und Bildungsgänge" in den 1950er und 1960er Jahren, in gesonderter Betrachtung dann die Bereiche der gymnasialen Unter- und Mittelstufe, die Frage der Reifezeugnisse, des Zweiten Bildungswegs und der Fachgymnasien sowie anschließend die Neuordnung und Modernisierung der gymnasialen Oberstufe und des Abiturs, ausgehend von den Tübinger Beschlüssen und den Tutzinger Gesprächen über die Saarbrücker Rahmenvereinbarung und die Stuttgarter Empfehlungen bis hin zur Bonner Vereinbarung.

Vorrangiges Ziel der Darstellung ist nicht die "realgeschichtliche Nachzeichnung" der damit verbundenen Entwicklungsprozesse, sondern die Analyse "pädagogischer und schulpolitischer Auseinandersetzungen" (19) um das Gymnasium. Wie der Autor selbst hervorhebt (27), werden hier insofern neue Erkenntnisse vorgelegt, als es nicht in erster Linie um die Beschlüsse, Empfehlungen und Vereinbarungen selbst geht, sondern auf der Grundlage neu erschlossener Quellen, insbesondere der Beratungsprotokolle und weiteren unveröffentlichten Schriftgutes, wie z. B. internen Korrespondenzen, die Entstehungshintergründe und inneren Konfliktlinien der KMK-Entscheidungen zu zeigen.

Greift man das Düsseldorfer Abkommen von 1955 heraus, das mit der Bestätigung der traditionellen Gymnasialtypen und der Ablehnung weiterreichender Schulversuche als eines der herausragenden Dokumente der reformabgewandten Restaurations- oder auch Stagnationsperiode der deutschen Bildungspolitik der 1950er Jahre gilt, kommt Fuchs tatsächlich zu erstaunlichen Ergebnissen. Die hohe Intransparenz der Entscheidungsvorbereitung, der Dissens zwischen KMK und Ministerpräsidentenkonferenz sowie die länderspezifisch nur partiellen Effekte bestimmter Regelungen, besonders zur Sprachenfolge, führen den Autor zu dem Urteil einer nur "begrenzt(en)" Wirkung dieses Abkommens (242). Die tatsächliche Bedeutung liege statt dessen in seinen Außenwirkungen gegenüber dem Bund und der Öffentlichkeit (250). Wie hier kann Fuchs über seine durchgängig aus den Akten gearbeiteten Darstellungen auch im weiteren Fortgang der Untersuchung immer wieder die hohe Heterogenität der verschiedenen schulpolitischen Auffassungen sowie den begrenzten, durch länderspezifische Interessen gebrochenen Wirkungsradius der KMK-Empfehlungen zeigen. Das von den Tübinger Beschlüssen bis zur Ergänzung und Weiterentwicklung reichende Kapitel zur Neuordnung der gymnasialen Oberstufe zeigt erstmals die Hintergrunddiskussionen der wohl einschneidendsten Gymnasialreform des 20. Jahrhunderts im Zusammenspiel insbesondere von WRK und KMK in Bezug auf die Gewichtung von Fächern und fachspezifischen Bildungseinrichtungen für die Studienberechtigung.

Eine gewisse – angesichts der stupenden Quellenanalysen wiederum zu relativierende – Schwäche der Arbeit kann allerdings in dem nicht ausreichend scharfen analytischen Referenzrahmen gesehen werden. Die eingangs formulierten und abschließend in modifizierter Form wieder aufgegriffenen Hypothesen (Angleichung des Bildungswesens zwischen den Ländern, Ausdifferenzierung des Typenspektrums des Gymnasiums unter Wahrung länderspezifischer Eigenheiten, Dominanz der Länderebene, Bedeutung der WRK, nur temporäre Konsensbereitschaft in der KMK bis Anfang der 1970er Jahre, in Summe: Kontinuität und Wandel, Differenzierung und Restandardisierung der Gymnasialbildung) (19f. und 426ff.) betreffen sowohl die gymnasiale Bildung als Regelungsgegenstand als auch den Diskurs oder "Widerstreit" über die Gymnasialbildung als Regelungsmodus. Insofern die Darstellung über weite Strecken sehr quellennah bleibt und beide Gesichtspunkte (Regelungsobjekt und -modus) im Schlusskapitel zum Gymnasium als Gegenstand gesellschaftspolitischer Kontroversen in der Fokussierung der selektiven und allokativen Funktionen des Gymnasiums als "Hauptgrund der Auseinandersetzungen um Gymnasium und Abitur" (415) eher konventionell zusammengeführt werden, bleibt die Untersuchung hinter dem methodisch durch die Trennung beider Bereiche angelegten Analysepotential der eigenen Problemmodellierung zurück. Im Begriff der primär in der "Außenwirkung" zu sehenden Funktion etwa des Düsseldorfer Abkommens ist die politikwissenschaftliche Unterscheidung zwischen den oft dominierenden "expressiven" und den vergleichsweise schwächeren "instrumentellen" Funktionen auch der Bildungspolitik zwar angelegt, ohne jedoch interpretativ weiter fruchtbar gemacht zu werden. Schließlich hätte der Eindruck, dass die KMK und andere bildungspolitische Akteure ausschließlich oder auch nur überwiegend im semantischen Horizont der traditionell im "Widerstreit" stehenden Prinzipien von Öffnung und Begrenzung des Gymnasialzugangs, der Breite und Tiefe der Gymnasialbildung etc. handeln, dadurch vermieden werden können, dass die weit über die bekannten Picht-Dahrendorf-Bezüge hinaus zeitgleich oder sogar schon früher im Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschung bzw. im Max-Planck-Institut konzipierten Analyse- und Steuerungsformen des Bildungssystems berücksichtigt worden wären, die die thematisierten Kontroversen in andere Kontexte mit einer völlig neuen Rationalität überführten. Mögen solche Ansprüche an eine weitergehende Elaboration und Strukturierung des erschlossenen Quellenmaterials erst durch die Lektüre einer hochdifferenzierten Analyse inspiriert worden – und ihr insofern gar nicht anzulasten – sein, bleibt doch zu bedauern, dass die Arbeit ohne Sach- und Personenregister publiziert worden ist.
Peter Drewek (Mannheim)
Zur Zitierweise der Rezension:
Peter Drewek: Rezension von: Fuchs, Hans-Werner: Gymnasialbildung im Widerstreit, Die Entwicklung des Gymnasiums seit 1945 und die Rolle der Kultusministerkonferenz, Frankfurt a.M.: Peter Lang 2004. In: EWR 3 (2004), Nr. 3 (Veröffentlicht am 02.06.2004), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/63152006.html