EWR 2 (2003), Nr. 6 (November/Dezember 2003)

Zensurenzeugnis und verbale Beurteilung – Eine Doppelbesprechung

Renate Valtin
Was ist ein gutes Zeugnis?
Noten und verbale Beurteilung auf dem Prüfstand
Weinheim und München: Juventa 2002
(159 Seiten; ISBN 3-7799-1089-6; 12,50 EUR)
Matthea Wagener
Ziffernzensuren oder verbale Beurteilung
Eine empirische Untersuchung zum Zusammenhang von Beurteilungsform und der Unterrichtsorganisation, Leistungsrückmeldung und Klassenraumgestaltung von Grundschullehrerinnen aus östlichen und westlichen Bezirken Berlins
Weinheim/Basel: Beltz Deutscher Studienverlag 2003
(221 Seiten; ISBN 3-407-32031-0; 22,90 EUR)
Was ist ein gutes Zeugnis? Ziffernzensuren oder verbale Beurteilung Der Band von Valtin enthält zahlreiche Aufsätze verschiedener AutorInnen, die Ergebnisse des Projekts NOVARA (Noten oder Verbalbeurteilungen: Akzeptanz, Realisierung, Auswirkungen) sowie seiner Teilprojekte SABA (Schulische Adaption und Bildungsaspiration) und NOVUS (Noten oder verbale Beurteilung: Unterrichtsorganisation, Klassenraumgestaltung und Sanktionsverhalten von Grundschullehrerinnen aus Ost- und Westberlin) berichten.

Das Buch spiegelt die vielseitige Herangehensweise an das Thema der Leistungsbeurteilung wider, die dem Projekt zueigen war. Jedes Kapitel ist einem Teilaspekt gewidmet: Von Einstellungen zu Zeugnissen in verbaler und Ziffernform, die Eltern, LehrerInnen und Schülerinnen und Schüler äußern, über Hinweise für eine Optimierung der Abfassung von verbalen Beurteilungen bis hin zu Zusammenhängen zwischen Zeugnissen, Lehrerverhalten und Schülerentwicklung.

Teilweise werden bereits vorhandene Erkenntnisse bestätigt: Die Einstellungen der Eltern zur Grundschule und ihren Beurteilungsformen entsprechen in weiten Teilen den Befragungen, die das Institut für Schulentwicklung in Dortmund regelmäßig durchführt. Auch die Erkenntnisse über die mangelnde Vergleichbarkeit von Noten bestätigen altbekannte Befunde.

Besonders interessant erscheinen die Befragungen, die mit den Schülerinnen und Schülern durchgeführt wurden. Wie gut verstehen Kinder ihre Zeugnisse, welche Emotionen werden dadurch bei ihnen ausgelöst und wie nachhaltig ist die Erinnerung an das erhaltene Zeugnis? Und: Wie wünschen sich Kinder ihr Zeugnis? Dabei wurden Zweitklässler zu drei verschiedenen Zeitpunkten interviewt, Sechstklässler wurden per Fragebogen befragt.

Die Analyse von Berichtzeugnissen ist aufschlussreich und wird ergänzt durch ein Kapitel, wie ein gutes Berichtszeugnis aussehen soll.

Das Buch wird durch eher zusammenfassende Kapitel abgerundet. Den Abschluss bildet eine Beschreibung des Forschungsprojekts, der Darstellung des Forschungsdesigns und der verwendeten empirischen Methoden. Da sich das Projekt über mehrere Jahre hinzog und einzelne Schulen teilweise recht intensiv miteinbezogen waren, verwundert es nicht, dass zahlreiche Klassen während der Laufzeit aus dem Projekt ausstiegen. Das ließ an einigen Stellen die Stichprobe erheblich schrumpfen, so dass die Aussagekraft mit Einschränkung zu sehen ist.

Insgesamt handelt es sich um ein handliches, gut lesbares Buch über Forschungsergebnisse zu einem zentralen Bereich der Schule. Gleichwohl zeichnet es ein ernüchterndes Bild, was die Umsetzung und Akzeptanz der Grundschulreform hinsichtlich der Leistungsbeurteilung angeht.

Bei dem Buch von M. Wagener handelt es sich um den Forschungsbericht einer Teilstudie zu oben beschriebenem Projekt NOVARA. Das Projekt NOVUS stellt sich der Frage, ob sich bei Lehrerinnen, die eine verbale Beurteilung befürworten, auch ein anderer Unterrichtsstil beobachten lässt, der die Intentionen einer solchen Zeugnisform widerspiegelt wie mehr Schülerorientierung, individuelle Förderung und Ermutigung.

Bei dieser empirischen Untersuchung wird der Unterrichtsstil nicht durch Selbstauskunft der Lehrerinnen erhoben, sondern durch Unterrichtsbeobachtungen, die durch Lehrerinterview und Erfassung der Klassenraumgestaltung ergänzt werden.

Damit bearbeitet die Autorin eine echte Forschungslücke: Gerade der Zusammenhang zwischen Zeugnis und laufender Leistungsrückmeldung im Unterricht ist insofern von Bedeutung, als sich hier eine Reformorientierung der Lehrerin viel deutlicher zeigt und damit Wirkungen auf die Schülerinnen und Schüler und ihr Leistungsselbstverständnis nachhaltiger ausfallen könnten.

Der Aufbau des Buches ist klassisch: Neben einer Einordnung des Projekts in den derzeitigen Forschungsstand folgt eine gründliche Explikation des Forschungsvorgehens und der Erhebungsinstrumente: Es wurde von jeder der 138 beobachteten Stunden ein Unterrichtsprotokoll angefertigt, dass möglichst wörtlich sämtliche Rückmeldungen der Lehrerinnen an die Schülerinnen erfassen sollte. Ergänzt wurden die Protokolle durch eine retrospektive Unterrichtsbeschreibung, die Kategorien zur Einschätzung des Unterrichts enthielten – in Anlehnung an Items, die in der SCHOLASTIK-Studie verwendet wurden. Mithilfe eines Beobachtungsrasters wurden die verschiedenen Leistungsrückmeldungen erfasst und kategorisiert.

Die Auswertung der verschiedenen Ergebnisse wird sorgfältig belegt, die verwendeten Kategoriensysteme ausführlich dargestellt. Aufgrund der kleinen Stichprobe sind die Ergebnisse nur begrenzt generalisierbar, weisen aber doch auf aufschlussreiche Zusammenhänge hin.

Auch hier wieder eher ernüchternde Ergebnisse: Ein wirklich schülerorientierter oder gar "offener" Unterricht wurde nicht beobachtet, es konnten lediglich Merkmale solchen Unterrichts ausgemacht werden. Hier zeigen sich dann aber doch Zusammenhänge zwischen der Zeugnisform, die die Lehrerinnen bevorzugen, und dem praktizierten Unterricht: Lehrerinnen, die für Verbalbeurteilung sind, zeigen im Unterricht eher schülerorientierte Merkmale als die anderen. Unterschiede zwischen ehemaligem West- und Ostteil der Stadt Berlin waren dabei kaum von Bedeutung.

Insgesamt ein lesenswertes Buch, das Hinweise für weitere Unterrichtsforschungen in diesem Bereich liefert.
Diemut Kucharz (Weingarten)
Zur Zitierweise der Rezension:
Diemut Kucharz: Rezension von: Valtin, Renate: Was ist ein gutes Zeugnis?, Noten und verbale Beurteilung auf dem Prüfstand, Weinheim und München: Juventa 2002. In: EWR 2 (2003), Nr. 6 (Veröffentlicht am 01.12.2003), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/77991089.html