EWR 4 (2005), Nr. 1 (Januar/Februar 2005)

Iris Bunzendahl / Björn Peter Hagen (Hrsg.)
Soziale Netzwerke fĂĽr die ambulante Pflege
Grundlagen, Praxisbeispiele und Arbeitshilfen
Weinheim und MĂĽnchen: Juventa verlag 2004
(182 Seiten; ISBN 3-7799-1666-5; 18,00 )
Soziale Netzwerke für die ambulante Pflege Das Thema ist hochaktuell und bezieht sich auf eine zentrale Herausforderung der ambulanten Pflege. Es nimmt ein theoretisches und konzeptionelles Referenzsystem auf, das in den letzten Jahren gerade auch aus sozialpädagogischer Perspektive zentrale Impulse erhalten hat. Der zentrale Bezugspunkt ist die Bedeutung des unmittelbaren Lebensumfelds alter Menschen im Kontext der inzwischen breit durchgesetzten Priorisierung ambulanter vor stationärer Hilfe in der Altenpflege. "Ziel des Buches ist es, den Wert von sozialer Netzwerkarbeit in der ambulanten Versorgung älterer Menschen näher zu beschreiben, die Grundlagen der praktischen Umsetzung aufzuzeigen und anhand von Beispielen die wesentlichen Gesichtspunkte zu verdeutlichen" (9). Die AutorInnen kommen zu einem großen Teil aus Modellzusammenhängen, in denen sie Netzwerkarbeit - teils individuumsbezogen, teils auf institutionelle bzw. organisationelle Netzwerke bezogen - in innovativer Form voranzubringen versucht haben.

Aufbau und Inhalt sowie Zielgruppenaspekte: Im ersten Kapitel von B. P. Hagen werden "die wesentlichen Alter(n)stheorien, die unser Denken und Handeln bestimmen" thematisiert, um mit dem Ziel einer positiven Entwicklung im Alter zu klären, wie die Umweltanforderungen zu den individuellen Handlungsmöglichkeiten der Betroffenen passen. Der Text trägt aus der Perspektive einer differenziellen Gerontologie u.a. in schnellen Schritten die klassischen Alternstheorien zusammen, setzt sich mit der Spannung zwischen kompetenz- und defizitorientierten Sichtweisen zusammen und schlägt als Ertrag schließlich vor, einerseits aus allen Alterstheorien etwas zu nehmen, andererseits die Häuslichkeit ganz zentral bei Hilfen und Interventionen als Bezugspunkt ernst zu nehmen. Der Text orientiert immerhin als Einführungstext für unbeschlagene LeserInnen.

Das zweite Kapitel von K. Schneider und K. Welling ("Ältere Menschen in Deutschland. Eine gesellschaftliche Herausforderung") fasst einige demografische Aspekte – nebst Konzeptstichworten oder auch Rechtsnormen – zusammen und erschließt sie mit Konzepten zum Altersstrukturwandel, zur Lebensqualität und zu Pflege und Gesundheitsproblemen. Der Eindruck ist ein ausgesprochen zwiespältiger. Obwohl sehr bedenkenswerte Stücke zusammengetragen werden, die sich auch zu einer Art systemischer Sicht zusammenfügen, bleiben sie doch Stückwerk. Ein recht interessantes Sammelsurium von wichtigen Aspekten, das in vielen seiner Teile anderswo schon in besser durchgearbeiteter Form verfügbar ist, das nirgends ganz abwegig ist, aber in seiner Kombination nicht recht einleuchten mag und das doch in manchem durchaus auch Tiefenschärfe erreicht (etwa in Aspekten zum Thema Pflege/Pflegeübernahme).

Das dritte Kapitel von E.-M. Rothenburg sammelt die wesentlichen rechtlichen Grundlagen ein, die für eine netzwerkorientierte Arbeit mit älteren Menschen relevant sind. Dieser Aufsatz – vom Sozialhilfe- bis Pflegeversicherungsrecht – ist uneingeschränkt zu empfehlen. Er ist gut informiert und aktuell recherchiert und verdeutlicht die schwierige Situation: netzwerkorientierte Arbeit, sowohl in subjekt- wie institutionenorientierter Perspektive, wird vom "Geist" der Rechtsgrundlagen teilweise massiv eingefordert, wird in Teilelementen – etwa der Teil-Kommodifizierung weiblicher häuslicher Pflege in Gestalt des Pflegegeldes – konkret-prekär auch gefördert, wird in vielen anderen zentralen Belangen aber von der Rechtssubstanz nur sehr unzureichend gestützt und lässt sich schließlich – bei hartnäckigem und innovativem Einsatz der verstreuten Spielräume der gegebenen Rechtsgrundlagen – durchaus viel kräftiger befördern als dies deren Standardanwendung vorsieht! Diese Spur ist unbedingt noch viel differenzierter auszuarbeiten.

Das immerhin 40-seitige Kapitel vier (I. Bunzendahl/B. P. Hagen) beansprucht, in Theorie und Praxis der Netzwerkarbeit einzuführen, und zwar auf beiden Ebenen: "Einzelfallnetzwerken und themenbezogenen Netzwerken"! Nachdem es gar nicht so viele taugliche einfach-einführende Darstellungen zur sozialen Netzwerkförderung im Feld der Arbeit mit Älteren gibt, könnte dem Aufsatz hier etwa für Studierende oder auch für PraktikerInnen eine gewisse Berechtigung zukommen. Jedes etwas tiefergehende Interesse aber sähe sich enttäuscht – zu breit ist der thematische Bogen. Er reicht theoriebezogen von ökologischen bis zu systemischen Rahmungen, von der Individuumsperspektive – und hier in der ganzen Breite der sozialstrukturellen Netzwerkmorphologie einerseits und der Inhalte und Wirkungen im Kontext sozialer Unterstützung andererseits – bis zu institutioneller oder multiprofessioneller Vernetzung, von theoretischen Verortungen über empirische Kurz-Daten bis zu Fallbeispielen und deren Ausdeutung. Ergänzt wird das ganze nicht nur durch die Vorstellung von Praxisforschungsmethoden der Netzwerkerhebung und -interpretation, sondern auch noch durch Hinweise zum praxeologischen Management von Netzwerktreffen u.v.a.m. Die "vorgestellten Empfehlungen zur Netzwerkarbeit geben Hinweise zu den nötigen Rahmenbedingungen und ermöglichen ein strukturiertes Vorgehen beim Aufbau von Netzwerken" (10) – dieser für dieses Kapitel zu Beginn des Buches formulierte Anspruch kann wenn überhaupt nur so funktionieren, dass das Buch selbst möglicherweise erfolgreich als Appetizer funktioniert, die seriöserweise nötigen Fachinformationen aber anderswo ergänzend gewonnen werden müssen – beispielsweise im Rahmen einer ja laufenden gewinnbringenden sozialpädagogischen Aneignung der Netzwerkperspektive.

Kapitel fünf präsentiert Erfahrungen auf der Basis konkreter Umsetzungen und enttäuscht die Erwartungen innerhalb dieses Abschnitts (insgesamt ca. 50 Seiten) deshalb nicht, weil es sie realistisch benennt und konkrete Erfahrungen zum Buchthema weiterführend erschließt. Es geht um Pflegeberatung (G. Hinzen/H. Normann), um ein Berliner Modell regionaler Vernetzung (J. Pfeffer/G. Seibt), um die Bundesmodellprojekte "Gewalt im Alter" (B. P. Hagen) sowie "Ambulante Gerontopsychiatrische Zentren in Hannover" (B. Wolff). Dies alles ist erfahrungsgesättigt, verständlich und nützlich.

Der Gesamteindruck ist wesentlich schon im Durchgang durch die einzelnen Abschnitte deutlich geworden, denn beim vorliegenden Buch ist das Ganze keineswegs mehr als die Summe seiner Einzelteile. Unter letzteren sind einige bereichernd, einige deutlich ärgerlich oder bestenfalls zur einführenden Studienlektüre geeignet. Insgesamt tragen sie eher dazu bei, dass das überaus wichtige Potenzial verschenkt wird, das in Theorie und Praxis der Netzwerk- und Unterstützungsförderung liegt. Das ist schade und prägt das Gesamturteil. Das beste an dem Band ist, dass er im Titel ein wichtiges Thema transportiert und damit dazu beiträgt, es stärker auf die Tagesordnung zu bringen. Wer einige Spuren erkennen möchte, in welcher Hinsicht der Rekurs auf soziale Netzwerke und Unterstützung eine bessere Praxis ambulanter Pflege anleiten könnte, kann sie finden. Wer diese Spuren dürftig findet, sollte dagegen ermutigt werden, doch lieber andere Quellen zu recherchieren, die inzwischen - zwischen Gesundheits- und Pflegewissenschaft, Sozialpädagogik, Gemeindepsychologie und weiteren Disziplinen - substanzreicher und zusammen recht beeindruckend zeigen, welchen Sinn dies Referenzsystem gerade in einer multiprofessionellen Perspektive macht. Ob die Verortung in einer Reihe "Materialien" im Sinne von Redlichkeit gegenüber potenziellen KäuferInnen und LeserInnen ausreichend ist, um ein so durchwachsenes Produkt auf den Buchmarkt zu bringen, soll hier als Frage offen bleiben.
Ulrich Otto / Klaus Grunwald (Jena/Stuttgart)
Zur Zitierweise der Rezension:
Ulrich Otto / Klaus Grunwald: Rezension von: Bunzendahl, Iris / Hagen, Björn Peter (Hg.): Soziale Netzwerke fĂĽr die ambulante Pflege, Grundlagen, Praxisbeispiele und Arbeitshilfen, Weinheim und MĂĽnchen: Juventa verlag 2004. In: EWR 4 (2005), Nr. 1 (Veröffentlicht am 31.01.2005), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/77991666.html