EWR 4 (2005), Nr. 3 (Mai/Juni 2005)

Jörg Ruhloff / Andreas Poenitsch (Hrsg.)
Theodor Ballauf - Pädagogik der "selbstlosen Verantwortung der Wahrheit"
Weinheim/München: Juventa 2004
(256 S.; ISBN 3-7799-1901-X; 18,00 )
Theodor Ballauf - Pädagogik der "selbstlosen Verantwortung der Wahrheit" Seit ihrer aufklärerischen Selbstkonstitution als Wissenschaft befindet sich die Pädagogik in einer Grundlagenkrise, die durch mannigfache Anlehnungen an einige von der Philosophie gelöste Einzelwissenschaften bewältigt werden soll. Um welchen theoretischen Preis und mit welchen praktischen Folgen diese Annäherungen und Uminterpretationen des vorgängigen disziplinären Selbstverständnisses vollzogen wurden, blieb weitgehend unbedacht. Große einfache Fragen blieben ungestellt. Theodor Ballauff hat jahrzehntelang die Möglichkeiten und Schwierigkeiten einer sich selbst in einer Gliederung und Einheit stiftenden Idee begründenden Pädagogik bedacht. Nunmehr liegen wesentliche Partien dieses durch radikale Traditionen ermöglichten eigenständigen Denkens in einer alle systematischen Positionen klar und provokativ bezeichnenden Publikation vor. In ihr sind viele verstreute, kaum zugängliche Arbeiten Ballauffs mit Passagen aus seinen systematisch-bildungsphilosophischen und schultheoretisch-skeptisch-didaktischen Hauptwerken zu einer erheiternd radikalen Lektüre vereint, die den Leser nicht einfach Neues lernen lässt, das dann schnell von anderem Neuen in endloser Folge verdrängt wird, sondern in der Sichtung von Theorien grundsätzlich verändert. Dabei ist die Einleitung der Herausgeber eine gute, dem ballauffschen Ethos gemäße Einstimmung in dieses Geborgenheiten und Vertrautheiten mutig riskierende Denken, das seiner Selbstverpflichtung zur Selbstkritik immer eingedenk bleibt.

Am Anfang des Bandes steht die Frage nach der wissenschaftlichen, nach der im tiefsten Sinne theoretischen Begründung der Pädagogik. Wir finden uns einbezogen in eine radikale, ihrer geschichtlichen Bedingtheiten bewusste Kritik des bisherigen pädagogischen Denkens, die ihresgleichen sucht. Ballauff spricht deutsch. Jargon ist ihm als kaschierte Denkfeindlichkeit zuwider. Ihn zu lesen, bereitet Freude. Studierende könnten spüren, dass da jemand verborgene Einsichten und kaum zugestandene Einwände gegen die Theorie und Praxis ihres eklektizistisch gezimmerten Studiums in großen, Jahrtausende alten Gedanken mit faszinierender Einfachheit und Treue zu sich selbst vorbringt, ohne jemals dogmatisch zu werden.

Pädagogik ist nicht die Magd anderer Wissenschaften. Sie ist weder Philosophie noch Theologie. Aber auch die Konstitutionen in kategorial-perspektivischer Anlehnung an moderne Erfahrungswissenschaften – Ballauff kennzeichnet so die im Grunde unkritisch-dogmatische, Vorgaben unbedacht übernehmende Erziehungswissenschaft – verrät den Selbstbegründungsauftrag der Pädagogik (20-54). Zu einer Zeit, als die Zerschlagung der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik mit dem Hoffnungswort Erziehungswissenschaft mehr oder weniger besinnlich gefeiert wurde, bestand Ballauff, der gewiss kein Parteigänger der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik war, in freundlicher Unbekümmertheit darauf, dass in der heraufbeschworenen Erziehungswissenschaft das pädagogische Denken erstirbt. Auch daran mag es liegen, dass dieser tiefsinnige Denker zum Schaden der Pädagogik als Wissenschaft ein wenig an den Rand gedrängt wurde, was, wie zu hoffen ist, durch diese zugleich konzentrierte und umgreifende Edition seiner Grundgedanken behoben werden könnte. Um es knapp im Sinne Ballauffs zu sagen: Die Emanzipation der Pädagogik wird in der erziehungswissenschaftlich-sozialwissenschaftlichen Interpretation verspielt. Bildungstheoretische Entproblematisierung und sozialwissenschaftliche Ãœberproblematisierung gehen dabei Hand in Hand. Erziehungswissenschaft klärt keine Kategorien. Sie ist im absolut gesetzten Zweck-Mittel-Denken selbstisch verfangen. Es bedarf eines Denkens, das Modi des Denkens bedenkt. Diese Freiheit ist dem Denken ursprünglich eigen, wenn es auch fortwährend in Gefahr schwebt, sie abzuwerfen oder als unpraktikabel und gesellschaftlich überflüssig zu denunzieren.

Die Emanzipation der Pädagogik kann nur in radikalem Denken geschichtlich gültig und überholbar gelingen. Nur im Nachdenken großer, schwieriger, Epoche machender Gedanken, die man ernst nimmt und von denen man sich dennoch nicht überwältigen lässt, bildet sich der jeweils leitende Horizont des pädagogischen Denkens, der auch zur Kritik der pädagogischen Praxis taugt. Pädagogische Theorie bildet sich im Gespräch in der historischen Dimension. Alles Denken ist ein Gespräch, in dem Eigenständigkeit und eigentümliche Verantwortung aufscheint. Damit werden keine kommunikationswissenschaftlichen Übernahmen gemacht. Nichts anderes als die Geschichtlichkeit des pädagogischen Denkens, die Ballauff schon in seiner Systematischen Pädagogik so nachdrücklich umschrieb, wird in Erinnerung gerufen. Sofern die Geschichtlichkeit des pädagogischen Denkens marginalisiert wird, versiegen die Quellen und der Distanzierung ermöglichende Reichtum des pädagogischen Denkens, das sich auch der Geschichtlichkeit der jeweiligen Perspektive bewusst bleiben muss.

Die Herausgeber haben mit dem Blick fürs Wesentliche markante, geradezu provokative und wunderschön einfache Simplizitäten beleuchtende Passagen zur Verdeutlichung dieses denkphilosophischen pädagogischen Ansatzes ausgewählt, dessen tiefe Leidenschaft die Entdeckung und Zurückweisung metaphysischer Einsprengsel in empirischen und spekulativen scheinhaft-pädagogischen Begründungstheorien ist. Metaphysik tötet das (pädagogische) Denken. Auch der "geisteswissenschaftliche" Ausgang von der Erziehungswirklichkeit ist positivistische Metaphysik. Nur die Gründung in der (mit kantischer Systematik gedeuteten) Idee der Bildung und ihrer Abkömmlinge (Erziehung und Unterricht) eröffnet den Horizont des pädagogischen Denkens. Von der Idee der Bildung, in der der Gedanke der Menschlichkeit in all seinen Ausformungen vorweggenommen wird, muss die Pädagogik in ihrer Selbstbegründung ausgehen.

Wie die mit systematischem Blick gewählten, dem Anfänger ebenso wie dem erfahrenen Pädagogen zugänglichen Texte zeigen, ersetzt Ballauff die metaphysischen Schein-Begründungen durch ein antizipatorisches, an die Zeiten gebundenes sowie geschichtlich zu erfüllendes Apriori: die Idee der Menschlichkeit, um die wir grundsätzlich wissen und deren Ausgestaltungen und geschichtliche Herausforderungen wir dennoch nicht im Einzelnen kennen und um die wir miteinander oder in Einsamkeit ringen. Das Gespräch mit dem kantischen Transzendentalismus und dem relationierenden Historismus hat in diesem ballauffschen Ausgang vom ideenbestimmten und ideenbezogenen Denken seine Spuren hinterlassen. Kant zermalmte, wie Moses Mendelssohn betrauerte und Ballauff begrüßte, die dogmatische Metaphysik, um das Denken von fatale Folgen zeitigenden Verkrustungen zu befreien. Ballauff befreit sich auch von der Ungeschichtlichkeit des Transzendentalismus, indem er ihn zu einem geschichtlichen Entwurf umdeutet, dessen Ähnlichkeit mit manchen späten Arbeiten Theodor Litts (vgl. Das Allgemeine im Aufbau der geisteswissenschaftlichen Erkenntnis, 1941) nicht zu übersehen ist.

Mit seinem denkphilosophischen Pädagogik-Begriff überbietet Ballauff das in einer Subjekts- und Willensmetaphysik befangene emanzipatorische Bildungsideal, das sich in der Aufklärung konsolidierte und sich in den späten sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts mit sozialwissenschaftlichen Interpretationen der Pädagogik unkritisch verband. Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung avancierten in einer narzisstischen Trivialisierung des Autonomie erhoffenden Aufklärungsdenkens zu Wortgötzen. Ertüchtigungs- und Durchsetzungsideologien gesellten sich dazu. Über die gedanklichen Voraussetzungen solcher semantischen und institutionellen Entscheidungen wurde kaum ein Wort verloren. Sie zu klären ist Ballauffs Ansinnen. Was ist ein Selbst? Was bedeutet es, wenn es einem Selbst in erster Linie um sich selbst geht? Wie wurde Bildung als selbstlose, die Andersheit des Anderen und die eigensinnige Logizität der Wirklichkeiten wahrende Entsprechung gedacht und gelebt? In welchem Horizont erschlossener Möglichkeiten und Wirklichkeiten kann sich Selbst-Bestimmung ereignen? Gibt es einen bildungstheoretischen Begriff der Möglichkeit, der sich von dem naturwissenschaftlichen unterscheidet? Was sind Anlagen resp. psychische Dispositionen? Alltägliche und wissenschaftliche Sprache verführen zur Metaphysik. Wir müssen uns von der metaphysisch grundierten Sprache und der (aristotelischen) Potentialitätsmetaphysik frei machen, in denen sich das Denken zirkulär verrennt.

Denken befreit und knechtet über Jahrtausende. Denkend sich von plausiblen Vereinseitigungen und Auslegungen zu befreien ist der systematischen Pädagogik aufgetragen. Kategoriale Semantiken gilt es aufzubrechen und sich dem Würgegriff einer eingeschliffenen Sprache zu entziehen. Der Differenzierungsreichtum der natürlichen Sprache ist für ein neues kritisches Sprechen wiederzugewinnen, was, wie Ballauff zeigt, auch durch verlebendigende Anleihen an so genannte tote Sprachen vollzogen werden kann. Seine Skeptische Didaktik (1970) sperrte sich durch solche terminologischen Rückgriffe gegen die unerlässliche, das Gefüge der Pädagogik neu bestimmende und legitimierende Rezeption. Durch die in diesem Bande geleistete Kontextualisierung könnte sich endlich deren wissenschaftliche Wirkung in größerem Stil einstellen. Kategoriale Kritik muss sprachlich eigene Wege gehen. Sie riskiert prinzipiell das Missverständnis der vielen und die Nachbeterei der Adepten. Sie erfordert Mut zum Denken und Freiheit von der Verführung durch Bilder und Rituale, in denen Wirklichkeiten kunstvoll vorgetäuscht werden und freiheitsberaubend wirken.

Von welchem Standort aus kann diese kategoriale Kritik als Selbstbegründung und Selbstkorrektur der Pädagogik vollzogen werden? Die von den Herausgebern ausgewählten Texte machen deutlich, wobei die wenigen Überschneidungen für das Verständnis des Ganzen und des Tiefsten durchaus hilfreich sind, dass Ballauff ein hermeneutisches Mittleres, das zugleich ein Höchstes ist, ohne langatmige Wissenschaftsphilosophie und Wissenschaftstheorie anstrebt. Ballauff flieht nicht in die selbstgenügsame Metatheorie eines geschichtslosen Transzendentalismus, der sich als Überwelt vom Treiben der einer eigenen Logik folgenden Wissenschaften gelöst hat. Er setzt vielmehr an historischen Interpretationen des Gedankens der Bildung und seiner Bedeutung für die Begründung und Wahrung von Menschlichkeit an. Kritik und Klärung können nur in der historischen Dimension gelingen. Nur in der immanenten Kritik kann die Idee der Menschlichkeit geschichtlich aufscheinen. Letztgültigkeit ist eine Chimäre und der Nährboden des theoretischen Dogmatismus und praktischen Totalitarismus.

Wenn man die hier in überzeugender Auswahl zugänglichen begründungstheoretischen Schriften Theodor Ballauffs überblickt – dazu gehört auch die bildungstheoretische Begründung von Schule (199ff.) und Unterricht (91ff.) –, so fällt ins Auge, dass die Absolutheit des Denkens und die Geschichtlichkeit der interpretativen Selbstbegründung der Pädagogik zu einer Einheit gefügt sind, die weder im Historismus noch im Transzendentalismus versandet, denen sie sich dennoch verdankt. Damit gewinnt die Pädagogik eine neue zugleich einfache und komplexe Begründungsfigur, die sich in der konkreten interpretativen Arbeit von "Prinzipien" und Wirklichkeiten bewähren muss und die kritische Selbstüberschreitung dieser Arbeit ermöglicht. Die Eigentümlichkeit dieser Begründungsfigur, auch das wird sichtbar, lässt sich schwer fassen. Gewiss kommt dieser pädagogischen Denkgestalt eine formale Funktion zu: In ihr wird die Idee werdender, möglicher und gefährdeter Menschlichkeit entworfen. Aber sie kann nur in der konkreten interpretativen Auseinandersetzung mit bisherigen Interpretationen der Idee der Bildung und Menschlichkeit Gestalt gewinnen.





Erwin Hufnagel (Mainz)
Zur Zitierweise der Rezension:
Erwin Hufnagel: Rezension von: Ruhloff, Jörg / Poenitsch, Andreas (Hg.): Theodor Ballauf - Pädagogik der "selbstlosen Verantwortung der Wahrheit", Weinheim/München: Juventa 2004. In: EWR 4 (2005), Nr. 3 (Veröffentlicht am 20.05.2005), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/77991901.html