EWR 2 (2003), Nr. 4 (Juli/August 2003)

Peter Dudek
Fetisch Jugend
Walter Benjamin und Siegfried Bernfeld – Jugendprotest am Vorabend des Ersten Weltkrieges
Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2002
(268 Seiten; ISBN 3-7815-1226-6; 22,00 EUR)
Fetisch Jugend Peter Dudeks Studie konzentriert sich "auf ein kleines Segment in der Geschichte der bĂŒrgerlichen Jugendbewegung vor dem Ersten Weltkrieg, nĂ€mlich auf die sog. Jugendkulturbewegung" (8). Indem er zwei ihrer herausragenden Protagonisten – Walter Benjamin und Siegfried Bernfeld – in den Blick nimmt und ihre gemeinsamen AktivitĂ€ten sowie die verbindenden und trennenden Elemente in ihren Überzeugungen und Zielen erforscht, möchte Dudek einen Beitrag leisten zur Analyse und Erkenntnis der "konzeptionelle[n] und personelle[n] VerĂ€stelungen innerhalb der bĂŒrgerlichen Jugendbewegung" (9). Dementsprechend werden die Darlegungen zu Benjamin und Bernfeld von einer Vielzahl biographischer VerknĂŒpfungen begleitet, die Jugendkulturbewegung in den Zusammenhang der Reformbewegungen der Zeit gestellt und die personellen Netzwerke innerhalb und ausserhalb der Bewegung aufgezeigt.

Dudek beschreibt die Jugendkulturbewegung als eine "wirkliche Protestbewegung mit zum Teil fundamentaloppositionellen Bestrebungen" (9), deren Ziel in einer umfassenden Reform der Gesamtgesellschaft bestanden habe. Im Unterschied zum Wandervogel habe die Jugendkulturbewegung besonders die Förderung und Artikulation jugendlicher IntellektualitĂ€t sowie die Kritik und Reform der Schulen und Hochschulen und der Familienerziehung im Blick gehabt. Dagegen habe der Verdienst des Wandervogels stĂ€rker in der Entwicklung eines neuen KörpergefĂŒhls und Freizeitstils bestanden (vgl. 8, 69ff.). Zugleich artikulierten sich in der Jugendkulturbewegung besonders viele jĂŒdische Gymnasiasten und Studenten (vgl. 71). Mit dieser Feststellung verbindet sich die Absicht des Autors, die AktivitĂ€ten und Ziele der Jugendkulturbewegung insgesamt und der beiden aus jĂŒdischen ElternhĂ€usern stammenden Protagonisten im besonderen auch in den Zusammenhang der jĂŒdischen Problematik im deutschen Kaiserreich und in der österreichisch-ungarischen Monarchie zu stellen und ihre Haltung zum Zionismus, im Sinne einer möglichen Lösung der auftretenden Konflikte und begleitenden IdentitĂ€tsprobleme, zu kennzeichnen (vgl. 8, 162ff.).

Dudek verfolgt sein Ziel in thematischen Blöcken. Vorbereitend wird zunĂ€chst der geistige Mentor der beiden Protagonisten – Gustav Wyneken – mit seinem heilsgeschichtlich ausgerichteten Konzept einer Jugendkultur vorgestellt, deren sozialer Ort eine neue Schule nach dem Vorbild der Freien Schulgemeinde Wickersdorf werden sollte. Dudek unterlĂ€sst es dabei nicht, auch die Ă€ußerst problematischen Seiten des Schulreformers zu benennen: von der gerichtlichen Verurteilung wegen sexuellen Missbrauchs MinderjĂ€hriger bis zu den vehementen Protesten von Eltern, deren Kinder sich nach Aussagen der Eltern durch den ‚charismatischen Erzieher‘ Wyneken zunehmend gegen die eigene Familie wandten.

Nach zwei kurzen biographischen EinfĂŒhrungen zu Benjamin und Bernfeld stehen dann die AktivitĂ€ten der beiden Protagonisten in der Jugendkulturbewegung im Mittelpunkt. Die Medien der Bewegung zur Erzeugung einer – z. T. in ihren Aussagen radikalen (vgl. 84) – jugendlichen Gegenöffentlichkeit waren dabei einerseits die ĂŒberregionale Zeitschrift "Der Anfang" (1913/14) und andererseits die sog. "SprechsĂ€le" (ab 1913). Sowohl am "Anfang" wie an den SprechsĂ€len waren Benjamin und Bernfeld maßgeblich beteiligt. SchĂŒler und junge Studenten sollten sich in der Zeitschrift sowie in gemeinsamen Diskussionen in den SprechsĂ€len zur Aussprache ĂŒber jugendspezifische Fragen und Probleme, u. a. jugendliche SexualitĂ€t, Familie und Schule, sowie allgemeine ‚Kulturfragen‘ abseits der Kontrolle und Beeinflussung durch Erwachsene versammeln können. Dudek zeichnet in diesem Zusammenhang akribisch die Themen, Debatten und Krisen im "Anfang" und in den SprechsĂ€len nach. Deutlich wird, wie stark diese von Beginn an von rivalisierenden Gruppen und Personen und ihren z. T. kleinlichen Aktionen beeinflusst wurden (vgl. 85, 137ff.) und wie sehr die Protagonisten – u. a. Benjamin und Bernfeld – die Bedeutung ihrer Aktionen und der Gesamtbewegung ĂŒberschĂ€tzten (vgl. 144). Getragen wurde diese SelbstĂŒberschĂ€tzung allerdings durch die öffentlichen Debatten in diversen Landtagen, die jedoch, wie Dudek zeigen kann, nicht nur der EindĂ€mmung unkontrollierbarer Artikulationen höherer SchĂŒler dienten, sondern auch als Medium genuin parteipolitischer KĂ€mpfe zwischen Konservativen und Liberalen bzw. Sozialdemokraten genutzt wurden (vgl. 97ff.).

Vor dem Hintergrund der vor dem Ersten Weltkrieg unter jĂŒdischen Intellektuellen kontrovers gefĂŒhrten Debatte ĂŒber jĂŒdische ReligiositĂ€t und IdentitĂ€t unter den Bedingungen der Moderne – u. a. unter dem Eindruck antisemitischer Ressentiments, wobei Dudek diese m. E. als Beweggrund der Debatte zu einseitig betont – werden im Kapitel ĂŒber Jugendkulturbewegung und Zionismus die sich bereits in den vorangehenden Kapiteln abzeichnenden unterschiedlichen Positionen Benjamins und Bernfelds hinsichtlich der Aufgaben und Ziele der Bewegung deutlich. WĂ€hrend der erste einen Kultur-Zionismus favorisierte, der Differenzen zwischen jĂŒdischen BĂŒrgern und nicht-jĂŒdischer Umwelt markieren und diese Erfahrung zum Aufbau eines jĂŒdischen Geisteslebens nutzen sollte, ohne dabei die zentrale Idee einer Erneuerung der Gesellschaft durch die Jugend aufzugeben (vgl. 176ff.), nĂ€herte sich Bernfeld kurzzeitig dem politischen Zionismus. Bernfeld ĂŒbertrug – nachdem der "Anfang" mit Beginn des Ersten Weltkriegs verboten worden war und die Jugendkulturbewegung in dessen Gefolge zu zerfallen und in unterschiedliche Bewegungen zu diffundieren begann – die Ziele und Visionen der Jugendkulturbewegung zunĂ€chst auf die jĂŒdische Jugend (vgl. 170ff., 184ff.), bevor er sich nach dem Ersten Weltkrieg verstĂ€rkt wissenschaftlichen Projekten zur Jugendforschung und der Psychoanalyse widmete.

Nach der Darlegung der von Benjamin und Bernfeld unterschiedlich vorgenommenen Bewertungen des Treffens der Jugendbewegung auf dem Hohen Meißner (Oktober 1913) und der von beiden daraus gezogenen Folgerungen (vgl. 215ff.) werden abschließend die zentralen Unterschiede in der Auffassung von Jugendkultur, wie sie sich zwischen den Protagonisten im Verlauf der Ereignisse und Debatten am Vorabend des Ersten Weltkriegs entwickelten, pointiert markiert. So verfolgte Benjamin eine umfassende kulturelle Erneuerung durch Schulreform in ‚weltgeschichtlicher Absicht‘, wĂ€hrend Bernfeld eine theoretische Fundierung von Jugendforschung mit dem Ziel einer politischen und sozialen Implementierung von Jugendkultur beabsichtigte (vgl. 231ff.). Insgesamt gelingt es Dudek damit, den Zusammenhang von Biographie, persönlichen Kontakten und Theorieentwicklung der Protagonisten zu kennzeichnen und zugleich ein differenziertes, der KomplexitĂ€t der Jugendkulturbewegung Rechnung tragendes PortrĂ€t dieser Bewegung zu schreiben. Dazu trĂ€gt in nicht geringem Maße der Einbezug bisher nicht veröffentlichten oder schwer zugĂ€nglichen Quellenmaterials bei, das umfĂ€nglich zitiert wird.

Trotz der interessanten und durchweg sehr gut geschriebenen AusfĂŒhrungen sind jedoch abschließend einige kritische EinwĂ€nde zu erheben: die Kontexte der Jugendkulturbewegung, z. B. das BĂŒrgertum als soziales Milieu, die VerĂ€nderungen der Lebenswelt um 1900 oder aber die komplexe Problematik der jĂŒdischen Bevölkerung, werden nur an wenigen Stellen thematisiert. Dadurch wird dem Leser die Einordnung der Bewegung erschwert. Zugleich unterlĂ€sst der Autor an vielen Stellen eine explizite Deutung der dargestellten Ereignisse und ZusammenhĂ€nge. Man kann dies als eine spezifische Darstellungsstrategie vertreten, sie erfordert aber vom Leser ein sehr fundiertes Vorwissen und eine hohe Interpretationskompetenz. Schließlich hĂ€tte ein stĂ€rkerer Einbezug der inzwischen Ă€ußerst breiten Forschungsliteratur zum BĂŒrgertum und zur jĂŒdischen Problematik vor dem Ersten Weltkrieg den Wert der Studie insofern erhöht, als dies zu einer differenzierteren EinschĂ€tzung der Bedeutung der Jugendkulturbewegung gefĂŒhrt hĂ€tte, als sie der Autor abschließend in der kurzen Schlussbemerkung vorlegt.

Insgesamt kann Dudeks Studie jedoch den eingangs zitierten Anspruch voll erfĂŒllen: sie schließt auf komplexe Weise eine ForschungslĂŒcke innerhalb der Geschichtsschreibung zur bĂŒrgerlichen Jugendbewegung und eröffnet durch die Vielzahl von biographischen Verweisen und Hinweisen auf personelle Netzwerke zugleich die Erforschung weiterer kulturgeschichtlicher ZusammenhĂ€nge.
Carola Groppe (Bochum)
Zur Zitierweise der Rezension:
Carola Groppe: Rezension von: Dudek, Peter: Fetisch Jugend, Walter Benjamin und Siegfried Bernfeld – Jugendprotest am Vorabend des Ersten Weltkrieges, Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2002. In: EWR 2 (2003), Nr. 4 (Veröffentlicht am 01.08.2003), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/78151226.html