EWR 5 (2006), Nr. 4 (Juli/August 2006)

Renè Börrnert
Wie Ernst Thälmann treu und kühn!
Das Thälmann-Bild der SED im Erziehungsalltag der DDR
(Studien zur historisch-systematischen Erziehungswissenschaft)
Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2004
(210 S.; ISBN 3-7815-1321-1; 27,00 EUR)
Wie Ernst Thälmann treu und kühn! Mythen zeichnen sich aus durch „hochgradige Beständigkeit“ (Hans Blumenberg). Sie finden ihre Funktion darin, den Menschen Geschichten anzubieten, „die man sich erzählt, um sich über sich selbst und die Welt zu orientieren, eine Wahrheit höherer Ordnung“ zu finden (Jan Assmann). Zugleich sind Mythen wichtig für die Integration und die Konstitution des Selbstbildes einer Gemeinschaft. Einem Staat, der sich auf sinnstiftende Mythen berufen kann, verschaffen sie politische Legitimation. Mythen gründen dabei nicht vordergründig auf nachweisbarem Wissen, auch wenn sie einen rationalen Kern haben können, rankt sich darum in unterschiedlichen Variationen sehr viel Fiktives. Es fehlt den Mythen an einer „feste[n] Grenzscheide … zwischen Bild und Sache“ (Ernst Cassirer). Diese allgemeine Charakterisierung gilt auch für die politischen Mythen in der DDR. Ein mit Blick auf die Erziehung der nachwachsenden Generation besonders wichtiger war dabei der Thälmann-Mythos.

Ernst Thälmann (1886-1944), Sohn kleiner Ladenbesitzer und in Hamburg aufgewachsen, erst SPD-, dann USPD-Mitglied, unterstützte 1920 die Vereinigung der Unabhängigen Sozialdemokraten mit der KPD, seit 1925 war er dann ihr Vorsitzender. Im ‚Dritten Reich‘ wurde er aus politischen Gründen inhaftiert und 1944 schließlich im Konzentrationslager Buchenwald ermordet. Soweit die Fakten. Als Kommunist und Antifaschist war er aufgrund dieser Lebensstationen und der sich darum rankenden Erzählungen in doppelter Weise prädestiniert, nach Kriegsende in der SBZ/DDR zum Helden aufzusteigen und – im Kontext des antifaschistischen Gründungsmythos des jungen SED-Staates – zu einem eigenen Mythos aufgebaut zu werden.

Dass die SED das von ihr konstruierte Thälmann-Bild für die Erziehung und Bildung des „neuen Menschen“ nutzen, mehr noch den einstigen KP-Führer zum Vorbild der Jugend machen wollte, wird schon deutlich, wie Börrnert gleich eingangs zu Recht betont, in der Namensgebung der Pionierorganisation 1952. Von dieser Bedeutungszuschreibung inspiriert, formuliert Börrnert als Aufgabenstellung für seine Arbeit die Analyse des „von der SED vermittelten Thälmann-Bild[es]“, das er als „feste(n) Bestandteil“ eines „normativen Konstruktes einer ideologischen Erziehung, die den politischen Alltag in der DDR prägte“, identifiziert (12).

Bevor sich der Verfasser speziell der „Vermittlung des Thälmann-Bildes über Erziehung und Bildung 1971 bis 1989“ zuwendet (Teil C, 83 ff.), rekonstruiert er zunächst das „Thälmann-Bild in der DDR“ (Teil A, 17 ff.) und das „Verhältnis der SED-Führung zu Ernst Thälmann“. Börrnert will dabei in einem ersten Schritt auf der Basis unterschiedlicher Quellen (von Bildbänden und Monographien über literarische und filmische Beiträge bis hin zu den Schriften Thälmanns selbst) die Kernpunkte des von der SED konstruierten Thälmann-Bildes herausarbeiten. Eine solche Vorgehensweise ist plausibel, allerdings hinterlassen die Quellenanalysen insofern einen unbefriedigenden Eindruck, als sie oftmals an der Oberfläche bleiben. Der spezifische Erkenntnisgewinn der einzelnen Quellengattungen wird nur ganz am Rande reflektiert, auch die Präsentation der Ergebnisse mutet summarisch an und ist über die Maßen kurz gehalten. Gleichwohl ist dem Verfasser zuzustimmen, wonach die unterschiedlichen Teile, aus denen das Thälmann-Bild aus verschiedenster Richtung zusammengefügt wurde, am Ende auf eine deutliche „Idealisierung“ (58) Ernst Thälmanns hinausliefen und dabei mit wenigen Versatzstücken wie „Sohn und Führer seiner Klasse“, der „beste Freund der Sowjetunion“ oder „Unbeugsam hinter Kerkermauern“ auskam. Dass dabei Weglassungen bis hin zu Fälschungen legitim waren und politische Gegenspieler wie Ruth Fischer und Arkadi Maslow verschwiegen wurden, hat Hermann Weber schon 1964 nachgewiesen. Die jüngste zeitgeschichtliche Forschung hat auf Basis neuer Quellen weitere Belege für die Einseitigkeiten und Glättungen des Thälmann-Bildes zusammengetragen. Im Rückgriff auf diese Forschungen kann Börrnert schon hier die Differenz zwischen historischer Figur und idealisiertem Leitbild aufzeigen.

In dem vergleichsweise kurzen Abschnitt zum Verhältnis von SED-Führung und Thälmann (73-82) kommt noch einmal zum Ausdruck, dass es der SED in ihrem „Andenken“ an Thälmann primär um die Traditionslinie zur KPD und die schon von Thälmann herausgestellte Vorbildrolle der KPdSU ging, viel weniger um einen konkreten Menschen und die realistische Annäherung an eine historische Person. Darüber hinaus sollte aber auch der jeweilige SED-Führer von „Teddy“ (wie die volkstümliche Formulierung lautete) profitieren können. Ob Pieck, Ulbricht oder Honecker – ein tatsächlicher oder hergestellter Bezug zum „Arbeiterführer“ schien immer noch tauglich, um die eigene Legitimation im sozialistischen Arbeiter- und Bauernstaat herauszustellen.

Teil C nun umfasst den Kern der vorgelegten, insgesamt primär deskriptiv ausgerichteten Arbeit. In den breit gefächerten Quellen zum erzieherischen und schulischen Alltag in der DDR sucht Börrnert nach Belegen, die zeigen sollen, in welcher Weise das Thälmann-Bild an die junge Generation herangebracht werden sollte, und welche „Medien“ die SED einsetzte, um es „mit bestmöglichem Erfolg zu verbreiten“ (12). Mit Blick auf das Detail widmet sich der Verfasser hier den vielfältigsten Formen, die allesamt darauf hinausliefen, ein geglättetes, von Widersprüchen befreites und politisch instrumentalisiertes Bild eines kommunistischen Widerstandskämpfers und Helden zu vermitteln. Ob nun die Schulkinder Thälmann-Gedichte zu lernen, die Pioniere Lieder zu Ehren Thälmanns zu singen hatten oder in den Schulen wie selbstverständlich Thälmann-Ecken Einzug hielten, immer ging es darum auf möglichst vielfältige Weise das Gleiche zu vermitteln. Entsprechende Lehrpläne und thematisch ausgerichtete Kinderliteratur taten ein Übriges. Offenbar schien kein Schüler zu klein, um (in Abwandlung eines geläufigen Spruchs zur SED) „Freund Thälmanns zu sein“.

Auch hier sticht zuerst die Materialfülle ins Auge, systematischen Fragen geht der Verfasser nur bedingt nach, wie er auch kaum Bezüge herstellt zu den aktuell diskutierten Deutungsangeboten zur DDR-Geschichte und ihren Teilbereichen. Selbst einschlägige Texte zur Erforschung von Mythen und kulturellem Gedächtnis spielen eine nur untergeordnete Rolle.

Am Ende wirft Börrnert angesichts der dokumentierten langfristigen Einflussnahme und des in der erzieherischen Praxis vielfach präsenten Personenkultes um Thälmann die Frage nach den Wirkungen solcher Art Dauerkultes auf. Zumindest die „letzte DDR-Generation“ (Lutz Rathenow; gemeint sind die zwischen 1973 und 1978 Geborenen) könne aufgrund der geringen eigenen Erfahrung mit der DDR auf der „DDR-Erinnerungswelle“ mitschwimmen und „DDR-Klischees“ (auch zu Thälmann) weiterführen (187). Ob dies zutreffend ist bzw. ob diese Haltungen von Bestand sein werden, bleibt weiteren empirischen Forschungen vorbehalten. Freilich bleibt die Wirkungsfrage die eigentlich spannende, vermutlich aber hat die Penetranz des Thälmann-Bildes aufs Ganze gesehen doch eher zu einem Verschleiß und nachlassender Wirkung geführt. Und wenn heute möglicherweise im Kontext von „Ostalgie“, auf die Börrnert aufmerksam macht (187), der Mythos Thälmann wieder eine Rolle spielen sollte, dann ist dies nicht mehr der Mythos, den einst die SED-Führungsriege zur Legitimationsbeschaffung aus der Taufe gehoben hat, dann wäre es bereits ein neuer Mythos gegen „besseres Wissen“ (Ernst Cassirer).

Insgesamt ist dieses Buch gleichermaßen für an Zeitgeschichte interessierten Erziehungswissenschaftlern wie auch denjenigen zu empfehlen, die sich mit (Nach-)Wirkungen des Aufwachsens in der DDR beschäftigen.
Sonja Häder (Berlin/Dresden)
Zur Zitierweise der Rezension:
Sonja Häder: Rezension von: Börrnert, Renè: Wie Ernst Thälmann treu und kühn!, Das Thälmann-Bild der SED im Erziehungsalltag der DDR (Studien zur historisch-systematischen Erziehungswissenschaft). Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2004. In: EWR 5 (2006), Nr. 4 (Veröffentlicht am 27.07.2006), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/78151321.html