EWR 3 (2004), Nr. 5 (September/Oktober 2004)

Caroline Hopf
Die experimentelle Pädagogik
Empirische Erziehungswissenschaft in Deutschland am Anfang des 20. Jahrhunderts
Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2004
(344 Seiten; ISBN 3-7815-1331-9; 29,80 )
Die experimentelle Pädagogik 1989 erwarb Marc Depaepe in Leuven (Belgien) den Grad eines Speziellen Doktors der Pädagogik mit einer Arbeit mit dem Titel "Meten om beter te weten?". Vier Jahre später erschien eine deutsche Version dieser Arbeit unter dem Titel "Zum Wohl des Kindes?"[1]. Dass eine deutsche Version erschien, nimmt nicht wunder – obwohl in der Einführung der ursprünglichen Arbeit eine englische Version in Aussicht gestellt wurde. Deutschland ist eines der fünf Länder, die in dieser Arbeit behandelt werden (die übrigen sind: Belgien, England, Frankreich und die Vereinigten Staaten). Methodologisch ist diese Arbeit über die Entstehung und Entwicklung der Kinderforschung, der Pädologie und der experimentellen Pädagogik auch stark von Diskussionen innerhalb der deutschen Wissenschaftsforschung geprägt.

Das Buch von Caroline Hopf, das hier besprochen wird, knüpft ganz explizit an die von Depaepe publizierten Befunde an. Die Autorin präsentiert ihre Forschungsarbeit als eine Vertiefung und zum Teil auch eine Korrektion dieser Arbeit – insbesondere was die Lage in Deutschland am Anfang des 20. Jahrhunderts betrifft. Sie entscheidet sich dabei dafür, die experimentelle Pädagogik als Teil der vielköpfigen Hydra, die "Reformpädagogik" genannt wird, zu behandeln. Das Buch hat der Autorin in Erlangen-Nürnberg als Habilitationsschrift gedient; in diesem Sinne ist es formal gleichwertig mit der Arbeit von Depaepe (der belgische Grad des Speziellen Doktors war nach der deutschen Habilitation modelliert). Es zeugt von dem Dauerinteresse für wissenschaftshistorische Forschung im deutschen Sprachraum, speziell was den Anfang des 20. Jahrhunderts betrifft.

Die Arbeit von Hopf umfasst drei Teile. Zuerst wird die Vorgeschichte der experimentellen Pädagogik behandelt. Obwohl vieles herangezogen wird, wird hier doch vor allem auf die innige Verbindung zwischen der experimentellen Pädagogik und der experimentellen Psychologie hingewiesen. Das "Institut für experimentelle Psychologie", das von Wilhelm Wundt in Leipzig aufgebaut wurde, nachdem er 1875 an die Universität dieser Stadt berufen worden war, ist sozusagen die Brutstätte der experimentellen Pädagogik. Der zweite Teil, der das Hauptstück dieser Arbeit bildet, geht näher auf die Beiträge der Protagonisten auf diesem Gebiet ein, insbesondere auf die Beiträge von Wilhelm August Lay (1862-1926) und Ernst Meumann (1862-1915). Hopf bespricht die wissenschaftliche Grundlagenforschung der experimentellen Pädagogen und ihr zentrales Anliegen, die Schulpraxis in didaktischer und organisatorischer Hinsicht zu verbessern. Der dritte Teil, bietet zum Schluss eine Analyse der Wirkungsgeschichte dieser Bewegung. Die Autorin geht dabei ausführlich auf die Auseinandersetzungen mit der geisteswissenschaftlichen Pädagogik ein. Die experimentelle Pädagogik war im Verständnis der geisteswissenschaftlichen Pädagogen keine Pädagogik, sondern bloße Erziehungstechnologie. Sie wird – mit weitreichenden Folgen – von Autoren wie Nohl aus der Pädagogik ausgeschlossen und in Darstellungen der pädagogischen Bewegung ausgespart.

Der Ausgangspunkt und der Leitfaden dieser Studie ist eine Art von Vollständigkeitsbewusstsein: die Autorin will (noch zum größten Teil) weiße Flecke auf der Landkarte der historischen Pädagogik (weiter) ausmalen. Die Arbeit ist deswegen vor allem beschreibend aufgefasst. Es wird ein breiter Überblick über die Entstehungsgeschichte und Evolution dieser Bewegung geboten, die – sowohl in Deutschland wie anderswo – das Adjektiv "experimentell" bevorzugte, um sich von den empirischen Ansätzen des 18. und frühen 19. Jahrhunderts zu unterscheiden (die, so wurde behauptet, nicht über das Niveau einer praktischen, nicht-wissenschaftlichen Erziehungslehre hinausgegangen waren). Hopfs Analysen beruhen zum Teil auf primären Quellen, z.B. der Korrespondenz zwischen den Protagonisten. Dabei zeigt sich, nicht ganz überraschend, ein gespanntes Verhältnis: sowohl Lay als auch Meumann erheben zum Beispiel den Anspruch, der einzige Gründer der experimentellen Pädagogik zu sein. Das historische Material, und dann vor allem das, was im zweiten Teil dieser Arbeit präsentiert wird, macht den Reichtum dieser Arbeit aus. Hopf hat, was die deutsche Situation anbelangt, mehr Interesse für Details und Nuancen als Depaepe, der sich, trotz der vergleichenden Perspektive, doch vor allem auf Belgien fokussiert hat. Vor diesem Hintergrund kann man es der Autorin aber negativ anrechnen, dass sie kein Sachregister und kein Personenregister vorgesehen hat.

In methodologischer Hinsicht hat die Autorin meines Erachtens versucht bestimmte Entscheidungen zu vermeiden. Der Leser kann bestimmte neuere Themen aus der wissenschaftssoziologischen und -historischen Forschung erkennen, wie ein Interesse für die Konstruktion und Selektion ‚relevanter’ Daten, die Kommunikation von Ergebnissen mittels Fachzeitschriften, Bücher oder Tagungen, die Abgrenzung verschiedener Disziplinen und die ‚Disziplinierung’ der Wissenschaft, etc. Aber diese Themen sind für den Bereich der wissenschaftlichen Reformpädagogik nicht systematisch erkundet worden. Eher wird die Relevanz von Themen und Fragen, die einer klassischen ideenhistorischen Herangehensweise entsprechen, betont: wer kennt wen, wer war bei wem in der Lehre, wer hat mit wem zusammengearbeitet, wer hat was/wen gelesen, etc. Das Gesamtbild, das auf diese Weise entsteht, ist das eines stark personenbezogenen Wissenschaftsbetriebs, nicht das einer scientific community, die sich an wissenschaftlichen Standards orientiert und Autonomie zu erreichen versucht. Caroline Hopf hat – unbeabsichtigt? – die weißen Flecke, die festgestellt worden sind, ausgemalt mit einer Besprechung von individuellen Autoren, die bisher in der Geschichtsschreibung vernachlässigt worden sind, nicht aber mit einer Analyse der Art und Weise wie am Anfang des 20. Jahrhunderts versucht worden ist der Reformpädagogik in einem interdisziplinären Wissenschaftskontext ein eigenes Gesicht zu geben.

Das hier besprochene Buch bietet einen detaillierten Überblick über die Beiträge von zwei Protagonisten der experimentellen Pädagogik, Lay und Meumann, und geht auch auf ihre damaligen Gesprächspartner ein. Dem Leser wird eine Geschichte geboten, die beschreibt, wie diese positivistisch orientierten Denker zu einer Pädagogik "vom Kinde aus" beizutragen versuchten: mit experimenteller Grundlagenforschung über das Kind und die kindliche Entwicklung, und mit anwendungsbezogener Forschung, die die Professionalisierung der Lehrer (und der Eltern) vorantreiben wollte. Aber eine breitere Perspektive, die die Evolution der Pädagogik als wissenschaftliche Disziplin und/oder die Geschichte der neuzeitlichen Wissenschaft mit in den Blick kommen lässt, fehlt zum größten Teil. Unter Berücksichtigung der Kontroversen und Konflikte zwischen der experimentellen Pädagogik und der geisteswissenschaftlichen Tradition scheint mir eine solche Perspektive aber nicht ohne Relevanz. Diese Geschichte muss noch geschrieben werden.

[1] Marc Depaepe: Meten om beter te weten? Geschiedenis van de experimenteel-wetenschappelijke richting in de Westerse pedagogiek vanaf het einde van de 19de eeuw tot aan de Tweede Wereldoorlog. Leuven: Afdeling Historische Pedagogiek 1989; Marc Depaepe: Zum Wohl des Kindes? Pädologie, pädagogische Psychologie und experimentelle Pädagogik in Europa und den USA, 1890-1940. Weinheim: Deutscher Studien Verlag 1994.
Raf Vanderstraeten (Bielefeld)
Zur Zitierweise der Rezension:
Raf Vanderstraeten: Rezension von: Hopf, Caroline: Die experimentelle Pädagogik, Empirische Erziehungswissenschaft in Deutschland am Anfang des 20. Jahrhunderts, Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2004. In: EWR 3 (2004), Nr. 5 (Veröffentlicht am 05.10.2004), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/78151331.html