EWR 4 (2005), Nr. 4 (Juli/August 2005)

Rudolf W. Keck / Sabine Kirk / Hartmut Schröder (Hrsg.)
Bildung im Bild
Bilderwelten als Quellen zur Kultur- und Bildungsgeschichte
Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2004
(218 S.; ISBN 3-7815-1373-4; 19,80 EUR)
Bildung im Bild Der Band stellt eine langfristig angelegte Forschungsarbeit der Universität Hildesheim vor. Im Mittelpunkt steht der fünfundzwanzigjährige Aufbau eines Bildarchivs. Das Resultat der Zusammenarbeit zwischen dem Institut für Angewandte Erziehungswissenschaft und Allgemeine Didaktik Hildesheim, der Berliner Bibliothek für bildungsgeschichtliche Forschung und einem DFG-Projekt ist ein real erhobenes Bildarchiv, das heute auch in digitalisierter Form zugänglich ist. Das Buch spiegelt eine Vortragsreihe dazu.

Einmal mehr zeigt sich, wie sehr die öffentliche und die fachöffentliche Reflexion über Bildung auf Bilder angewiesen ist. Bilder und bildhafte Vorstellungen eilen in der Regel der sprachlichen Formulierung voraus oder sie begleiten diese. Es ist darum nicht erstaunlich, dass die historische Forschung Bilder als Quellen eigener Art versteht, um Auskunft über vergangene Alltagswelten zu erlangen – dabei manifestiert sich eine Bildern inhärente Verpflichtung: Bildquellen, das, was sie zeigen, bedarf der besonderen Interpretation, weil Bilder innere Mentalitäten, Denkweisen und Einstellungen nur unter der Oberfläche entdecken lassen.

Die Einführung von Rudolf W. Keck trägt bereits im Titel ein Ambigramm, in welchem die doppelte Bedeutung und Rolle des Bildes zum Ausdruck kommt: „Pädagogik im Bild – Das Bild in der Pädagogik oder: Bildung im Bild und Bildung durch das Bild“. Die Wortgläubigkeit im Mittelalter bis hin zur Aufklärung scheint auf optische Zutaten zum Wort nicht verzichten zu können. Dennoch wird das Bild verdächtigt, die Wahrheit für Nicht-Literalisierte zu verschleiern. Bilder können verstanden werden als Quellen aus zweiter Hand, welche dem Wissenden überflüssig sind. Sie sind auf Anschauung angewiesen. Wir sind geneigt, den illustrierten Bibeln für die Armen eine soziale Funktion zuzuschreiben. Es erstaunt darum nicht, dass einerseits historisch nachvollziehbar eine differentielle Bilderwelt entsteht und andererseits, dass die Pädagogik das Bild entdeckt als ein Medium, das mentale Wirklichkeiten sichtbar macht – dies freilich nicht ohne Entsprechung im Revier der Künste, wie die Kunstgeschichte spätestens seit Veroneses Urteil vor dem Inquisitionsgericht um 1573 weiß: Die Autonomie des Ästhetischen kann um diese Zeit einen zögerlichen Anfang finden. Rudolf W. Keck diskutiert die ikonologische Interpretationsarbeit am Beispiel von bildlichen Darstellungen von Lehrplänen vom 14.-16. Jahrhundert.

Sabine Kirk untersucht anhand von „Lehrer- und Schülerdarstellungen des 15. bis 17. Jahrhunderts“ die Möglichkeit einer „Schultheorie im Bild“. Ihre Frage richtet sich auf sozial- und kulturgeschichtliche Zusatzinformationen in Buchillustrationen. Aufgrund der Objekte im dargestellten Raum lassen sich unterschiedliche Lernorte finden: in der Kirche, im städtischen wie im privaten Bereich. Die Lernenden im kirchlichen Kontext sind meistens Erwachsene oder Jugendliche. Unterrichtsinhalte sind Latein, Kirchenlieder, Mathematik, Astronomie und Grammatik, Rhetorik, Dialektik bzw. Logik. Die Abbildungen lassen erkennen, dass mittels Vorsagen, Nachsprechen gelehrt und durch Auswendiglernen gelernt wird. Das ändert sich mit dem Buchdruck: Vorlesen und Nachlesen gewinnen an didaktischer Bedeutung ebenso wie das Schreiben, ohne dass darum auf die Lehrerzentrierung verzichtet wird – das zeigt das Bildmaterial eindeutig. In Unterscheidung zu den Lateinschulen, die wir später Gymnasien nennen, entstehen aus den Pfarrschulen „Deutsche Schulen“ in städtischen Bereichen, die auch Jugendliche zulassen. Finden sich Rute oder Stock in der Hand des Lehrers als Symbol für eine eigenständige Profession? Die Abbildungen zeigen deutlich, dass die Strafe in Form von Züchtigung oder Beschämung die Schule seit ihren ersten Gründungen begleitet. Seit dem 14. Jahrhundert sind etwa ein Drittel der Lehrer akademisch gebildet. Die Privatlehrer, wie wir sie heute nennen, scheinen bereits im 14. Jahrhundert eine eigene Zunft gebildet zu haben, die auf eine sozial gehobenere Stellung schließen lässt. Ihre Klientel sind das aufsteigende Bürgertum, handels- und gewerbetreibende Stadtbewohner, die sich bei den Privatlehrern arithmetische Kompetenzen erwerben, Lesen und Schreiben inklusive. In kirchlichen und städtischen Lateinschulen, in den Gymnasien also findet sich in den Abbildungen das Buch – was für eine Schultheorie, die sich an diesem Unterrichtsmittel orientierte, ein wichtiges Indiz wäre.

„Bilder als Spiegel einstiger Wirklichkeit“. Peter Müller erfragt den Realitätswert auf „Retabeln und in Bildchroniken aus dem Spätmittelalter“. Unser historisches Wissen, das sich in der klassischen Geschichtswissenschaft ausschließlich schriftlicher Quellen bedient, entdeckt seit den 1950er Jahren die Bildquellen. Es stellt sich heraus, dass sich die Details im Bild in ein Bild geschichtlicher Entwicklungen fügen lassen. Außerdem können Bilder auch mit Bildern verglichen werden. Die mittelalterliche Bilderwelt ist darum von Bedeutung, weil Pädagogisches der dargestellten Wirklichkeit inhärent ist. Müller zeigt dies anhand zahlreicher Bilder im Bereich Landschaft, Stadt, Dorf, Schichtzugehörigkeit, Wohnen, Wasserversorgung, Handwerk, Transport und Reise, Kirche, Rechtsordnung und Strafen bzw. Gerechtigkeit. Die vielen Abbildungen stammen aus verschiedenen Quellen und werden teilweise an Fotografien überprüft: Der Abbildcharakter der Retabeln und Chroniken kann den Quellenwert ermessen. Die ersichtlichen Transferleistungen der Maler zeigen, dass biblische Geschichten im Mittelalter oft in einer Gegenwartsszenerie inszeniert werden – die Symbolisierung ist und bleibt demnach ein Mittel, das Gemeinschaft stiftende Wirkungen erzeugen kann.

„Die Ansichtskarte als mentalitätsgeschichtliche Quelle“ von Otto May zeigt einen hervorragenden Einblick in die Entwicklung eines Massenmediums, das sich von allem Anfang an der Bildwirksamkeit sicher zu sein scheint. Die dargestellten Ansichten lassen nicht nur Rückschlüsse auf pädagogisch wie lebensweltlich relevante Themen zu, sie bezeugen auch veränderte Kommunikationsbedingungen, welche auf Bilder nicht verzichten können. Im dargebotenen Überblick von der Postkarte der 60er Jahre im 19. Jahrhundert bis zur Ansichtskarte im Dritten Reich finden sich nicht nur mentalitätsgeschichtliche Veränderungen und politische Propaganda, sondern auch Hinweise auf den Stand der Literalisierung der Bevölkerung. Unter Krisenbedingungen wie Verstädterung ist der Wunsch verständlich, mit den Zurückgebliebenen trotz geringem schriftlichen Ausdruck mittels Postkarte Verbindung aufzunehmen. Aber auch das Kommunizieren von ideologietragenden Ansichten ist während des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts beliebt. Dass dabei der gute Geschmack in Karikaturen zu kurz kommt, dass die Barbaren des Griffels auch Unwahres vermittelten, mag die kunsterzieherisch motivierte Kritik geweckt haben. Warum sollten nicht künstlerische Beiträge für die Hebung des Niveaus sorgen? Vielfältige Versuche schlagen fehl, die Postkarte entpuppt sich als erster Geschmack des Bürgers ohne Kunstverstand. In den Massen von Ansichtskarten finden sich handlungsleitende Einstellungen, Ideen und Leitbilder der Gesellschaft, Vorstellungen über Vergangenheit und Zukunft, aber auch Stolz, Sehnsucht und Angst bilden den herrschenden Zeitgeist ab. In der Ansichtskarte werden soziale und pädagogische Denkformen gespeichert. Es ist darum nicht erstaunlich, dass während der Weimarer Zeit die Freiheiten der Demokratie verunglimpft, die Hetze gegen die Juden propagiert und die Pädagogik des „Wachsen lassens“ zugunsten des „Führens“ als Bilder und im Bild kritisiert werden.

„Erhebung von Bildern I. Vom Foto zum Digitalisat“. Mit dem Hinweis auf Panofskys Unterscheidung von Ikonographie und Ikonologie stellt Hartmut Schröder seine eigenen analytischen Betrachtungen von Bilddokumenten dar. Der Autor würdigt den Aufbau des Hildesheimer Bildarchivs und dessen bildungshistorischen Gehalt, der sich Rudolf W. Keck und Mitarbeitern verdankt. Zu ihnen gehört auch der Autor. Ausgangspunkt ist die Gewissheit, dass nicht nur die Sprache und das Wort, sondern auch das Bild als Interpretations- bzw. Lesebasis für historische Forschung aufschlussreich ist. Bilddokumente der Pädagogik, in denen Lehren und Lernen zur Darstellung gelangen, werden ab 1978 gesammelt, kategorisiert und systematisiert. Wer nach pädagogischem Bildmaterial sucht, findet in Hildesheim zu den Feldern Lebensbilder, Berufsbilder, Lehr-, Lern- und Unterrichtsformen, Arbeitsmittel, Lehrplan- und Unterrichtstheorie, Erziehungsmittel, Lernort, Schulorganisation, Schulbau, Schulische Sonderprobleme, Schulleben, Schule, Kirche und Gemeinde ein umfangreiches Archiv, das fortlaufend ergänzt wird.

Es versteht sich, dass ein Archiv auch in der Version einer „Pictura Paedagogica Online“ wünschbar ist. Ein Kooperationsprojekt zwischen dem Institut für Angewandte Erziehungswissenschaft und Allgemeine Didaktik der Universität Hildesheim und der Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung (BBF) des Deutschen Instituts für internationale pädagogische Forschung in Berlin, das aus den Mitteln der DFG finanziert wird, sorgt für ein einheitliches System und für verbesserte Zugangsmöglichkeiten. Peter Müller beschreibt in seinem Aufsatz „Erhebung von Bildern II. Vom Digitalisat zur Web-Präsentation“ die Zusammenführung von mehreren Sammlungen und Tausenden von Exponaten. Bei der Online-Bildersammlung hat der Quellenwert der Abbildung den höchsten Stellenwert. Zu sehen sind sowohl intentionale pädagogische Abbildungen, als auch nicht-intentionale Bilder, die eine Vielzahl von Aspekten aus dem Bereich Erziehung und Bildung zeigen. Der Zugang findet sich unter www.bbf.dipf.de oder direkt unter www.bbf.dipf.de/VirtuellesBildarchiv. Erklärtes Ziel der „Pictura Paedagogica Online“ ist die Erweiterung pädagogischer Einsichten. Der Gewinn historischer Forschung als Bildinterpretation bemisst sich nicht zuletzt an der Zahl der zur Verfügung stehenden Bilder. Die qualitativ-ikonologische Methode (wie Panofsky sie vorschlägt) kann durch ein quantitativ-statistisches oder durch ein serielles Verfahren, das eine Motivgruppe zusammenfasst, unterstützt werden. Das abschließend dargestellte Kategoriensystem der „Pictura Paedagogica Online“ mag Suchenden das Finden erleichtern.

Ein hilfreiches Buch für alle Forscherinnen und Forscher, die in erziehungswissenschaftlicher Absicht nach Bildquellen suchen, darin Anleitung benötigen und zugleich Anregungen zu bilddetektivischer Sichtung und Interpretation nicht missen möchten.

Li Mollet (Bern)
Zur Zitierweise der Rezension:
Li Mollet: Rezension von: Keck, Rudolf W. / Kirk, Sabine / Schröder, Hartmut (Hg.): Bildung im Bild, Bilderwelten als Quellen zur Kultur- und Bildungsgeschichte, Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2004. In: EWR 4 (2005), Nr. 4 (Veröffentlicht am 10.08.2005), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/78151373.html