EWR 5 (2006), Nr. 5 (September/Oktober 2006)

Nicole Becker
Die neurowissenschaftliche Herausforderung der Pädagogik
Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2005
(244 S.; ISBN 3-7815-1436-6; 29,80 EUR)
Die neurowissenschaftliche Herausforderung der Pädagogik Seit einiger Zeit sieht sich die Erziehungswissenschaft mit Deutungs-, Erklärungs- und Geltungsansprüchen von Wissenschaftsbereichen konfrontiert, die zusammenfassend als Bio-Wissenschaften oder Lebens-Wissenschaften bezeichnet werden. Darunter findet sich eine ganze Reihe von Forschungsrichtungen, die für erziehungswissenschaftliche Fragestellungen von Bedeutung sind, z. B. Verhaltens- und Entwicklungsgenetik, Humanethologie oder die Evolutionspsychologie der Kindheit. Während diese Bereiche bislang noch wenig Interesse auf Seiten der Erziehungswissenschaft gefunden haben, werden Fragestellungen und Ergebnisse der Neurowissenschaften auf relativ breiter Ebene diskutiert. Diese Diskussion ist Gegenstand der Doktorarbeit von Nicole Becker. Insbesondere interessiert sie sich für die „bisherige Verwendung neurowissenschaftlicher Erkenntnisse in populären und wissenschaftlichen Diskursen, in denen erziehungswissenschaftliche und praktische pädagogische Fragen behandelt werden. Dazu zählen die Berichterstattung über das Verhältnis von ‚Hirnforschung und Pädagogik’ innerhalb der Printmedien, die Ratgeberliteratur über ‚hirngerechtes’ Lernen und Lehren sowie die Rezeptionsansätze innerhalb der erziehungswissenschaftlichen Literatur“ (10). Dieser Fragestellung entspricht der Aufbau des Buches.

Als Modell zur Untersuchung des Verhältnisses von Erziehungswissenschaft und Neurowissenschaften bedient sich die Verfasserin des Konzepts der Anwendungsforschung. Zu diesem Zweck geht das zweite Kapitel („Wissensverwendung als Gegenstand erziehungswissenschaftlicher Forschung“, 25-80) der Frage nach, wie überhaupt theoretisches, methodisches und Verfahrenswissen aus anderen Disziplinen in der pädagogischen Praxis und in der praxisbezogenen wissenschaftlichen Pädagogik rezipiert wird.

Gegenstand des dritten Kapitels sind die „pädagogischen Implikationen neurowissenschaftlicher Erkenntnisse als Thema der Printmedien“ (81-99). Hier werden die berechtigten und weniger berechtigten Forderungen nach einer neurobiologischen Ausrichtung der institutionalisierten Lehr- und Lernkultur, insbesondere der vorschulischen Erziehung, analysiert. Kritisiert werden die häufig völlig überzogenen, allenfalls disziplinpolitisch zu verstehenden Äußerungen von Neurowissenschaftlern, die den Eindruck zu erwecken suchen, ihr Wissenschaftszweig werde sich als neue Leitdisziplin für Lernen und Lehren etablieren und die die Pädagogik in toto „mit Negativzuschreibungen“ (91) überhäufen.

Große Resonanz haben neurowissenschaftliche Befunde und Forderungen in der pädagogischen Ratgeberliteratur gefunden; dem geht das vierte Kapitel nach („Hirngerechtes Lernen und Lehren als Thema der Ratgeberliteratur“, 100-167). Überzeugend weist die Verfasserin nach, dass pädagogische Rezipienten solcher Ratgeber nach der Lektüre vielleicht etwas mehr über das Gehirn, über Synapsen und Hemisphärenasymmetrie wissen, nicht aber in die Lage versetzt werden, neurowissenschaftlich fundierte Optimierungsprozesse in der Lehr/Lern-Organisation in Gang zu setzen. Ihr nüchterner Befund geht dahin, „dass das rezipierte Wissen in Ratgebern zum hirngerechten Lernen und Lehren einer Überprüfung nicht Stand halten kann. Ratgeber sind den Kontrollmechanismen wissenschaftlicher Diskurse entzogen und es ist diskussionswürdig, dass sie sich ausgerechnet unter Pädagogen großer Beliebtheit erfreuen“ (166).

Das fünfte Kapitel fragt nach Rezeptionsprozessen auf der disziplinären Ebene der Erziehungswissenschaft („Rezeption neurowissenschaftlichen Wissens in erziehungswissenschaftlichen Diskursen“, 168-209). Anders als bei der Ratgeberliteratur beobachtet die Verfasserin hier, dass die neurowissenschaftliche Forschung „in der erziehungswissenschaftlichen Literatur inhaltlich korrekt referiert“ werde (204). Andererseits aber gewinnt sie den „Gesamteindruck, dass die Rezeption neurowissenschaftlichen Wissens in der Erziehungswissenschaft einen marginalen Stellenwert einnimmt“ (171). Die als einschlägig identifizierbaren Studien werden zwei Diskursrichtungen zugeordnet: bildungstheoretischen und didaktischen Diskursen.

Bildungstheoretische Beiträge, die bis in die 1990er Jahre zurückreichen, beziehen sich auf neurowissenschaftliche Studien, „in denen Mechanismen der Hirnentwicklung, d. h. der Entstehung neuronaler Strukturen in Wechselwirkung mit der Umwelt, dargestellt werden“ (172). Im Mittelpunkt solcher Diskurse stehen Fragen nach Art und Reichweite der Plastizität des Nervensystems, aber auch die neurowissenschaftliche Reformulierung älterer pädagogischer Begriffe wie Selbsttätigkeit und Sinnlichkeit (Rezeptivität).

Neueren Datums sind Rezeptionsbemühungen im Bereich der Didaktik, was den anspruchsvollen aber operativ nicht einlösbaren Begriff der „Neurodidaktik“ (195ff.) hervorrief. „Ein Grundproblem bei der Bemühung, didaktische Schlussfolgerungen aus neurowissenschaftlichen Modellen zu ziehen, besteht darin, dass die Neurowissenschaften lediglich Wissen über Lernen bereitstellen können, - denn Lehre kommt in der bisherigen neurowissenschaftlichen Forschung nicht vor“ (207).

Das sechste Kapitel („Die Neurowissenschaften als Herausforderung für die Erziehungswissenschaft“, 210-230) fasst die Rezeptionsanalysen der vorhergehenden Kapitel zusammen und gibt einen Überblick über die internationale Debatte.

Das kompetent geschriebene Buch von Nicole Becker lässt sich unter zwei Perspektiven lesen. Die eine zeigt der Titel an: Die neurowissenschaftliche Herausforderung der Pädagogik. Wenn darunter der Anspruch einiger Neurowissenschaftler verstanden wird, Lehr- und Lernprozesse nicht nur zu erklären, sondern auch besser gestalten zu können als die Bildungs- und Lehr-/Lernforschung in der Erziehungswissenschaft, dann handelt es sich um den Versuch einer Provokation, unternommen in der zweifelhaften Absicht, Anwendungsmöglichkeiten der eigenen Disziplin zu popularisieren und Chancenvorteile im Umverteilungskreis von Forschungsmitteln zu erzielen.

Die andere Perspektive, obgleich verdeckter, ist die vielleicht interessantere; sie weist über den Einzelfall der Neurowissenschaften hinaus auf ein grundlagentheoretisches Problem. Seitdem die Pädagogik, spätestens mit Rousseau, die Natur des Kindes als konstitutiven Bezugspunkt pädagogischer Systematik gesetzt hat, befindet sie sich in einem Dilemma. Sie will als Anwalt für die selbsttätige Entwicklung dieser Natur auftreten, ohne deren wissenschaftliche Sachwalterin zu sein. Indem sie nun aber mit dieser Natur – theoretisch wie praktisch – umgeht, ist sie auf das Wissen solcher Disziplinen angewiesen, die naturwissenschaftlich und mit entsprechenden Methoden den Eigensinn der sich entwickelnden Natur des Menschen erforschen. Das macht die Pädagogik nicht nur abhängig, sondern auch angreifbar, wie die lange und wechselvolle Geschichte des Verhältnisses der Pädagogik zur Psychologie gezeigt hat und was sich jetzt mit den biowissenschaftlichen Disziplinen abzeichnet. Aus der Abhängigkeit wird sich die Pädagogik mit eigenen Mitteln nicht befreien können; aber ihre Angreifbarkeit kann sie – hier sind insbesondere Allgemeine Pädagogik und Pädagogische Anthropologie gefragt – minimieren, indem sie ihre immer noch gepflegte rhetorische Abwehrgestik gegenüber den Geltungsansprüchen humanbiologischer Subdisziplinen aufgibt und stattdessen ihre Diskurskompetenz ausbaut. Die Dissertation von Nicole Becker ist ein Beitrag dazu. Ihre Empfehlung an die Pädagogik, „Sachverstand und Diskurskompetenz“ (230) zu entwickeln, ist nicht nur mit Blick auf die Neurowissenschaften, sondern für ein breiteres Spektrum biowissenschaftlicher Forschungsbereiche berechtigt.
JĂĽrgen Reyer (Erfurt)
Zur Zitierweise der Rezension:
JĂĽrgen Reyer: Rezension von: Becker, Nicole: Die neurowissenschaftliche Herausforderung der Pädagogik. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2005. In: EWR 5 (2006), Nr. 5 (Veröffentlicht am 29.09.2006), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/78151436.html