EWR 5 (2006), Nr. 5 (September/Oktober 2006)

Yvonne Leimgruber
In pÀdagogischer Mission
Die PĂ€dagogin Rosette Niederer-Kasthofer (1779-1857) und ihr Wirken fĂŒr ein "frauengerechtes" Leben in Familie und Gesellschaft
(Studien zur historisch-systematischen Erziehungswissenschaft)
Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2006
(337 S.; ISBN 3-7815-1438-2; 36,00 EUR)
In pĂ€dagogischer Mission „Seine Frau ist ein braves Fraueli, das ihre Haushaltung und ihr Kinderzeug recht besorgt und darĂŒber aus in ihrem Leben nie gehen wird. [
] Ihr hĂ€usliches GlĂŒck wĂŒrden Viele mit hĂ€uslichem Schlaf vergleichen und verwechseln. Mir ist’s oft, ich mĂŒsse sie ins Leben schĂŒtteln [
]“ (187, Niederer-Kasthofer ĂŒber eine ehemalige SchĂŒlerin, 1813)

Eine Frau, die so ĂŒber eine Geschlechtsgenossin schreibt, denkt man, muss ein kritisches VerhĂ€ltnis zum Weiblichkeitsideal der bĂŒrgerlichen Gesellschaft haben. Yvonne Leimgruber zeichnet in ihrer Dissertation aber nicht das Bild einer ‚Pionierin‘ der Frauenbildung, sondern einer Frau, die – in Kontrast zum Eingangszitat – in Pestalozzis Tradition der republikanischen Mutterschaft Frauen mit Internatsbildung zu hĂ€uslichem GlĂŒck und gemeinnĂŒtzigem Engagement heranbilden wollte.

In pĂ€dagogischer Mission – so der Titel – setzte sich Rosette Niederer-Kasthofer (1779-1857) in einer Zeit der Wende fĂŒr ein ganz spezifisches „frauengerechtes“ Leben und Wirken in Familie und Gesellschaft ein, ihr selber wurde dieses genĂŒgsame hĂ€usliche GlĂŒck aber nicht zuteil. Folgerichtig formuliert die Autorin auch ihre zwei Hauptthesen: Niederer-Kasthofer war als PĂ€dagogin und Publizistin an der Ausformung der arbeitsteiligen Gesellschaft im bĂŒrgerlich-liberalen Bundesstaat der Schweiz des 19. Jahrhunderts maßgeblich beteiligt. Was sie fĂŒr das weibliche Geschlecht als Ideal propagierte, hat sie selber aber nicht gelebt.

Diesen Widerspruch versucht Leimgruber vor dem ideellen und religiösen Hintergrund des frĂŒhen 19. Jahrhunderts zu erklĂ€ren. Theoretisch verfolgt sie Bourdieus Ansatz des sozialen Feldes, um habituelle Dispositionen Niederer-Kasthofers in ihrer Lebenswelt aufzuspĂŒren und ergĂ€nzt diesen Ansatz durch eine Netzwerkanalyse und mit der Analysekategorie Gender. Leimgruber beabsichtigt die „grösseren ZusammenhĂ€nge von PĂ€dagogik und Geschichte“ (14) aufzuzeigen, eröffnet dann aber wie eine GeschichtenerzĂ€hlerin – „Rosette Niederer-Kasthofers Leben handelt von der Geschichte einer jungen Frau, die sich zur Berufsarbeit entschloss [
]“ (2) – ihre Untersuchung und bietet einen reichhaltigen und bunten Reigen an Verwandtschafts-, Ehe- und anderen Geschichten ĂŒber die (bildungs)politische Elite der ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts.

Die Arbeit ist in drei Hauptkapitel gegliedert: Biografie (19-154), Netzwerke (157-259) und publizistisches Werk (261-304) Niederer-Kasthofers. Leimgruber prĂ€sentiert eine dichte, quellennahe Beschreibung und rollt das Leben Niederer-Kasthofers im Prinzip aus drei verschiedenen Blickwinkeln auf, was allerdings verschiedentlich zu Wiederholungen fĂŒhrt. Mit einem Fazit werden die Kapitel zusammenfassend abgeschlossen. Ein Schlusswort, ein Personenverzeichnis, Stammtafeln der Familie Kasthofer und anderer in diesem Kontext wichtiger Familien, ein Quellen- und Literaturverzeichnis schließen die Arbeit ab.

Das erste, biographische Hauptkapitel ist das umfangreichste. Leimgruber erzĂ€hlt hier, wie Marie Rosette Kasthofer als jĂŒngstes Kind in eine Bernburgerfamilie geboren wurde, die einen standesgemĂ€ĂŸen Lebensstil pflegte, sich aber auch an vorderster Front am Aufbau einer bĂŒrgerlichen Gesellschaft engagierte. Durch den Besuch der privaten MĂ€dchenschule des Geistlichen David MĂŒslin konnte sie der beklemmenden familiĂ€ren AtmosphĂ€re entfliehen und erhielt eine an pietistischen GrundsĂ€tzen orientierte Erziehung fĂŒr MĂ€dchen bĂŒrgerlichen Standes. In einer gesellschaftlich-politischen Zeit des Umbruchs und der Unsicherheit holte sie ihr Bruder Rudolf nach Aarau. Durch die Bekanntschaft dieses Bruders mit Pestalozzi erfuhr sie von dessen TĂ€tigkeit und wurde in MĂŒnchenbuchsee von Johannes von Muralt in Pestalozzis „Methode“ eingefĂŒhrt. Mit Muralt, der spĂ€ter als PĂ€dagoge in Moskau wirkte, blieb sie ein Leben lang in unerfĂŒllter Liebe brieflich verbunden. Kasthofer beschloss, „Mutter an fremden Kindern zu seyn“, was Leimgruber im historischen Kontext als nicht untypisch verortet.

Kasthofer setzte sich mit Pestalozzi in Verbindung, der 1804 in Yverdon zuerst ein Knabeninstitut gegrĂŒndet hatte. Als vĂ€terlicher Freund beriet er sie und warb sie an. Schon 1809 ĂŒbernahm sie das zusĂ€tzlich eröffnete MĂ€dcheninstitut. Als große Verehrerin Pestalozzis war sie nach Yverdon gekommen, bald litt sie jedoch unter seinem schwerfĂ€lligen, nachlĂ€ssigen FĂŒhrungsstil, den amoureusen Verstrickungen zwischen Lehrern und SchĂŒlerinnen und den RivalitĂ€ten unter den Mitarbeitern. Ab 1813 fĂŒhrte sie das Institut selbststĂ€ndig, restrukturierte den Bildungsplan und bot eine Ausbildung fĂŒr MĂ€dchen zur Lehrerin und Erzieherin an. Erbittert gefĂŒhrte Auseinandersetzungen fĂŒhrten zum Bruch mit Pestalozzi. 1814 heiratete sie dessen Mitarbeiter Johannes Niederer, welcher als aggressiv-launischer, aber intellektuell brillanter Taktierer ihr Institut vermarktete. Über das Beziehungsnetz Niederers wurden Kontakte mit der bildungspolitischen Elite der sich formierenden schweizerischen Demokratie geknĂŒpft. Wegen wirtschaftlicher Schwierigkeiten und der zunehmenden Konkurrenz des in Entstehung begriffenen öffentlichen Schulsystems versuchte das Ehepaar, ihr Institut als staatlich-öffentliche Einrichtung weiterzufĂŒhren. Der „’wahre’ religiös fundierte Pestalozzianismus“ (204) der Niederer-Kasthofers verunmöglichte bei einer zunehmend liberal-radikalen Bildungspolitik eine solche AnnĂ€herung jedoch nachhaltig. Nach diesem Scheitern ĂŒbersiedelte Niederer-Kasthofer 1837 mit 20 Zöglingen nach Genf, wo das Institut 1847 verkauft wurde. Bis an ihr Lebensende verfolgte sie mit gnadenlosem Urteil das Wirken anderer PĂ€dagoginnen, z.B. dasjenige ihrer fortschrittlich-erfolgreichen ehemaligen SchĂŒlerin Josephine Stadlin.

Im zweiten Hauptkapitel ĂŒber Niederer-Kasthofers Netzwerke unterscheidet Leimgruber zwischen traditionellen und beruflichen Beziehungsformen. AusfĂŒhrlich beschreibt sie die Vernetzung schweizerischer PĂ€dagogen und PĂ€dagoginnen und wir lesen unter vielen anderen z.B. von Pater GrĂ©goire Girard und seinen Anstrengungen zur Lehrerinnenbildung (120), von Otto Hunziker, dem Großneffen Niederer-Kasthofers (166) und seinen BemĂŒhungen um eine Darstellung der Schweizer Schulgeschichte, von Augustin Keller, dem Neffen Niederers und seinem vernichtenden Urteil ĂŒber Niederer-Kasthofers „Heiligkeit“ (247) oder von Heinrich Zschokke, dem engen Freund von Niederer-Kasthofers Bruder Rudolf und Förderer Josephine Stadlins. Damit und mit der Darstellung der Schweizerischen GemeinnĂŒtzigen Gesellschaft (SGG) als Forum und Drehscheibe neuester Konzepte im Sozial- und Bildungswesen veranschaulicht die Verfasserin einen entscheidenden Bereich schweizerischer Bildungspolitik.

Mit geschultem Blick und psychologischem GespĂŒr hat Niederer-Kasthofer ĂŒber Jahrzehnte hinweg schwierige Töchter aus gutem Haus zu tugendhaften Jungfrauen, Töchter aus ökonomisch unsicheren VerhĂ€ltnissen zu eigenstĂ€ndigem Lebensunterhalt gefĂŒhrt. Ein wichtiger Bestandteil ihrer Erziehungsarbeit war auch die briefliche Kontaktpflege mit Familien von Zöglingen. Auf diesem Weg wurden ehemalige PensionĂ€rinnen mit pĂ€dagogischen RatschlĂ€gen bedacht und zukĂŒnftige Klientel angeworben. Gleichzeitig versuchte Niederer-Kasthofer so, ĂŒber politisch einflussreiche Familienangehörige ihre Anliegen in bildungspolitische Gremien einzubringen. Der umfangreiche Briefwechsel der PĂ€dagogin zeigt die Bedeutung von brieflicher Korrespondenz als zentralem Kommunikationsmittel und es wĂ€re interessant, in einem grĂ¶ĂŸeren Zusammenhang genauer zu erforschen, wie damalige pĂ€dagogische Konzepte auf diese Art diffundierten.

Im dritten Hauptkapitel fasst Leimgruber das publizistische Werk der PĂ€dagogin inhaltlich zusammen. Niederer-Kasthofers Hauptwerk „Blicke in das Wesen der weiblichen Erziehung. FĂŒr gebildete MĂŒtter und Töchter“ umfasst 500 Seiten. Es soll – auf „religiös fundierter pĂ€dagogischer Anthropologie“ (264) basierend – einerseits die „Bildung und Veredelung des Menschen in und durch sich selbst“ (ebd.) befördern und anderseits frauengerechte Bildung vermitteln. Wie sie das praktisch umsetzte, zeigen z.B. Niederer-Kasthofers TheaterstĂŒcke „Dramatische Jugendspiele fĂŒr das weibliche Geschlecht“.

Das publizistische Werk wird anschließend mit einigen zeitgenössischen PĂ€dagogen und PĂ€dagoginnen „im pĂ€dagogischen Diskurs kontextualisiert“ (285). Die Auswahl wirkt zufĂ€llig, ein systematischer BegrĂŒndungszusammenhang fehlt hier leider.

Quellengrundlage der biographisch-pĂ€dagogischen Analyse bildet der Briefwechsel (BriefkopierbĂŒcher) Niederer-Kasthofers mit Ehemann, Freunden, Bekannten und Zöglingen, ihre TagebĂŒcher ab 1843 und weitere institutsbezogene Unterlagen. Daneben hat Leimgruber das publizistische Werk der PĂ€dagogin und zusĂ€tzliche zeitgenössische Dokumente zur Thematik der weiblichen Bildung und Erziehung miteinbezogen, um Niederer-Kasthofers pĂ€dagogische Position zu erschließen. SorgfĂ€ltig interpretiert Leimgruber Werk und Leben der PĂ€dagogin und lĂ€sst da, wo es angebracht scheint, Fragen offen.

Bedeutsam scheint mir aber eine eingangs gemachte Bemerkung Leimgrubers, dass der umfangreiche Quellenbestand zu Niederer-Kasthofer „weniger glĂŒcklicher Zufall als Ausdruck der Bedeutung ihres einstigen Mentors Pestalozzi fĂŒr die Nachwelt“ (17) sei. Der Bedeutung ihres mĂ€nnlichen Zeitgenossen ist es zu verdanken, dass auch von dieser PĂ€dagogin viele dokumentarische Spuren erhalten geblieben sind. Niederer-Kasthofers publizistisches Werk nimmt in der zeitgenössischen Flut der Ratgeberliteratur, die den MĂ€dchen unter Einsatz normativer Konzepte die „weibliche Natur“ beibringen wollte, keine Sonderstellung ein. Die PĂ€dagogin bleibt verhaftet in den engen Standes- und Geschlechtergrenzen der SpĂ€taufklĂ€rung. Auch die dramatische Form der Jugendspiele ist nicht neu, finden sich doch schon bei Esther Gad Briefform und Drama, bei Caroline Rudolphi 1807 fiktiver Briefwechsel mit Dialogen als Möglichkeit der MeinungsĂ€ußerung ĂŒber weibliche Bildung [1].

Die Untersuchung liefert somit weniger die „Aufarbeitung einer fĂŒr die Bildungsgeschichte wichtigen Biografie“, auch nicht eine „Auseinandersetzung mit Geschlechtermodellen dieser Zeit“ (15), sie bietet aber die beispielhafte Darstellung einer ambitiösen, strategisch denkenden Unternehmerin und eine vielfĂ€ltige und detailreiche Beschreibung der Seilschaften, Netzwerke und vielfĂ€ltigen Machenschaften und AnimositĂ€ten der (bildungspolitischen) Elite in der ersten HĂ€lfte des 19. Jahrhunderts. Hier erfĂ€hrt man viel Neues.

Allerdings irritieren auch gewisse LĂŒcken: Warum liest man z.B. nichts ĂŒber Friedrich Fröbel, der zeitgleich mit Niederer-Kasthofer von 1808-10 bei Pestalozzi in Yverdon wirkte und das Konzept der „geistigen MĂŒtterlichkeit“ prĂ€gte, dem – laut Leimgruber (66) – auch Niederer-Kasthofer huldigte? Interessant wĂ€re zu erfahren, wo sich die (un)beabsichtigte Auslassung befindet, bei Niederer-Kasthofer oder bei Leimgruber.


[1] Vgl.: Kleinau, Elke/Mayer, Christine (Hg.) (1996): Erziehung und Bildung des weiblichen Geschlechts. Eine kommentierte Quellensammlung zur Bildungs- und Berufsbildungsgeschichte von MĂ€dchen und Frauen. 2 BĂ€nde. Weinheim: Deutscher Studien-Verlag.
Katharina Kellerhals (Bern)
Zur Zitierweise der Rezension:
Katharina Kellerhals: Rezension von: Leimgruber, Yvonne: In pĂ€dagogischer Mission, Die PĂ€dagogin Rosette Niederer-Kasthofer (1779-1857) und ihr Wirken fĂŒr ein "frauengerechtes" Leben in Familie und Gesellschaft (Studien zur historisch-systematischen Erziehungswissenschaft). Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2006. In: EWR 5 (2006), Nr. 5 (Veröffentlicht am 29.09.2006), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/78151438.html