EWR 8 (2009), Nr. 1 (Januar/Februar)

Werner Nickolai / Cornelius Wichmann (Hrsg.)
Jugendhilfe und Justiz
Gesucht: Bessere Antworten auf Jugendkriminalität
Freiburg: Lambertus 2007
(150 S.; ISBN 3-7841-1670-1; 12,00 EUR)
Jugendhilfe und Justiz Der vorliegende Band versammelt die Referate einer Tagung zum Thema „Jugendhilfe und Justiz“, die 2005 von der Katholischen Bundes-Arbeitsgemeinschaft Straffälligenhilfe (KAGS) und vom Bundesverband katholischer Einrichtungen und Dienste der Erziehungshilfe e.V. (BVkE) veranstaltet wurde. Zusätzlich zu den Referaten der Tagung wurden zwei weitere Beiträge in den Band aufgenommen. Das Ziel der Tagung bestand den Herausgebern zufolge darin zu prüfen, „ob aus dem Blick der Jugendhilfe eine Zusammenarbeit mit der Justiz möglich ist und wo die Grenzen der Zusammenarbeit verlaufen“ (6). Genau genommen geht es in den Beiträgen jedoch vor allem um Möglichkeiten, Jugendhaftstrafen durch Maßnahmen der Jugendhilfe zu ersetzen; in diesem Zusammenhang werden rechtliche, konzeptionelle und praxisbezogene Chancen und Schwierigkeiten diskutiert. Dabei wird immer wieder Bezug auf ein Modellprojekt genommen, bei dem versucht wird, neue Wege der Strafhaftvermeidung bei Jugendlichen zu gehen und dessen Ansatz in einem eigenen Beitrag vorgestellt wird: Das „Projekt Chance“ des Christlichen Jugenddorfes Creglingen.

Die einzelnen Beiträge betrachten das Thema der Tagung aus unterschiedlichen Perspektiven:

Heinz Cornel beschäftigt sich mit dem Verhältnis von Jugendhilfe und Justiz aus historischer und rechtlicher Perspektive. Diese Darstellung der historischen Entwicklung bietet einen interessanten Einstieg in die Thematik des Bandes und so manch neue Perspektive. Dabei zeigt sich beispielsweise, dass unsere aktuellen Debatten und Kontroversen zum Umgang mit Kinder- und Jugendkriminalität so neu nicht sind, sondern ganz ähnlich schon früher geführt wurden – z.B. zum Strafmündigkeitsalter.

Hans Thiersch nähert sich dem Thema aus pädagogischer Perspektive, indem er das Verhältnis von Grenzen und Strafen grundsätzlich erörtert. Dabei kommt er zu einer skeptischen Einschätzung hinsichtlich der Möglichkeiten einer gleichberechtigten Kooperation zwischen Jugendhilfe und Justiz. Für das justizielle System sieht Thiersch eine Orientierung an der Gesellschaft, während Jugendhilfe und Pädagogik Individuen bei der Erfüllung ihrer Aufgaben zu unterstützen haben.

Albert Scherr, der in seinem Beitrag fragt, ob die Jugendhilfe als bessere Form des Strafvollzugs anzusehen ist, sieht in der gegenwärtigen Entwicklung Tendenzen zu einer Verwischung der Grenzen zwischen Jugendhilfe und Justiz. In Hinblick auf das „Projekt Chance“ mahnt er eine konzeptionelle Klärung des Widerspruchs zwischen vertrauensgestützten Beziehungen und sanktionsgestützten Einwirkungen, um sicherzustellen, dass Angebote der Jugendhilfe im Kontext des Strafvollzugs ihren genuinen Charakter nicht verlieren (81).

Thomas Trapper stellt das „Projekt Chance“ vor und geht detailliert auf Fragen der Projektorganisation und auf die konzeptionellen Überlegungen ein, die dem Projekt zugrunde liegen. Leider findet in diesem Zusammenhang keine Einbindung des Projekts in die Fachdiskussion statt, was sich in Hinblick auf Überlegungen und Kontroversen zur konfrontativen Pädagogik (vgl. Weidner/Kilb 2004) [1] angeboten hätte. Auch wäre es interessant gewesen, etwas über die Ergebnisse der Evaluation des Projekts zu erfahren.

Joachim Walter beschäftigt sich mit dem Jugendstrafvollzug als Weg zur Resozialisierung junger Straftäter. Im Rahmen seines Beitrags vermittelt er eine Reihe interessanter Daten zum Strafvollzug und seinen Klienten in Baden-Württemberg. Außerdem geht er auf diverse Bildungs-, Qualifizierungs- und Resozialisierungsangebote im Rahmen des Strafvollzugs ein, informiert differenzierend über deren Erfolgsquoten und leitet vor diesem Hintergrund eine Reihe konkreter Forderungen ab.

Jochen Goerdeler befasst sich aus juristischer Sicht mit dem Verhältnis von Jugendhilfe und Justiz im Jugendstrafrecht. Dabei gelingt es ihm, verschiedene Diskrepanzen und Unklarheiten im Verhältnis zwischen unterschiedlichen Gesetzen herauszuarbeiten und verständlich darzustellen – wofür der Rezensent als juristischer Laie dankbar ist. Plausibel wird dargelegt, dass die Kooperation von Jugendhilfe und Justiz nicht nur durch Unklarheiten im Verhältnis dieser beiden Rechtssysteme erschwert wird, sondern auch noch durch so manchen fiskalischen oder föderalistischen Fallstrick.

Der Fokus der Beiträge liegt auf grundsätzlichen Erörterungen und konzeptionellen Diskussionen einerseits und einer Projektvorstellung auf der anderen Seite. Diese beiden Ebenen sind im Rahmen des vorliegenden Bandes nicht systematisch miteinander verknüpft, sondern stehen überwiegend unverbunden nebeneinander – sieht man einmal von den Überlegungen Albert Scherrs ab. Einen Bezug auf Daten und Ergebnisse empirischer Untersuchungen sucht man in der Publikation vergeblich, lediglich Joachim Walter bezieht in seine Darstellung empirische Informationen ein. Angeboten hätten sich beispielsweise Verweise auf empirische Studien zum Thema Strafvollzug – so etwa auf die Längsschnittstudie „Gefängnis und die Folgen“, die am Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen durchgeführt wurde (vgl. Bereswill 2006; Hosser/Grewe 2005) [2].

Zusammengenommen bietet der Sammelband eine Fülle interessanter Einzelinformationen und ein heterogenes Spektrum an Perspektiven unterschiedlicher Disziplinen. Angesichts dieser Heterogenität wäre es wichtig gewesen, den Band durch einen integrierenden Beitrag zu ergänzen, der die Bezüge zwischen den Beiträgen verdeutlicht und der Publikation ein prägnanteres Profil verleiht. Angesichts der Bedeutung des Themas und des Bedarfs an informativen Darstellungen wäre es gut gewesen, nicht nur Grußworte und Beiträge einer Tagung abzudrucken und durch zwei weitere Beiträge zu ergänzen, sondern die Beiträge zu überarbeiten, um den Leserinnen und Lesern formal vereinheitlichte und inhaltlich aufeinander bezogene Darstellungen zu bieten. Thematisch kundige Leserinnen und Leser können sich aus dem Band die für sie relevanten Informationen selektiv erschließen. Doch wer mit dem Thema noch nicht vertraut ist und eine übersichtliche Einführung oder eine klare Positionierung erwartet, dürfte enttäuscht werden.

[1] Weidner, Jens/Kilb, Rainer (Hg.) (2004): Konfrontative Pädagogik. Konfliktbearbeitung in Sozialer Arbeit und Erziehung. Wiesbaden.
[2] Bereswill, Mechthild (2006): Begrenzte Autonomie. Die biographische Erfahrung von Geschlossenheit zwischen Bindung und Bindungslosigkeit. In: DVJJ (Hg.): Verantwortung für Jugend. Dokumentation des 26. Deutschen Jugendgerichtstags vom 25.-28. September 2004 in Leipzig. Godesberg, S. 240-261; Hosser, Daniela/Greve, Werner (2005): Jugendliche im Gefängnis - Strafhaft als Entwicklungsfolge und Entwicklungsbedingung. In: Schlottke, Peter et al. (Hg.): Störungen im Kindes- und Jugendalter - Verhaltensauffälligkeiten. Göttingen/Bern/Toronto/Seattle, S. 655-680
Peter Rieker (Halle)
Zur Zitierweise der Rezension:
Peter Rieker: Rezension von: Nickolai, Werner / Wichmann, Cornelius (Hg.): Jugendhilfe und Justiz, Gesucht: Bessere Antworten auf Jugendkriminalität. Freiburg: Lambertus 2007. In: EWR 8 (2009), Nr. 1 (Veröffentlicht am 04.02.2009), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/78411670.html