EWR 2 (2003), Nr. 6 (November/Dezember 2003)

Astrid Kaiser / Mitarbeiterinnen
Projekt geschlechtergerechte Grundschule
Erfahrungsberichte aus der Praxis
Opladen: Leske und Budrich 2003
(244 Seiten; ISBN 3-8100-3764-8; 14,90 EUR)
Projekt geschlechtergerechte Grundschule Astrid Kaiser und ihre Mitarbeiterinnen Maria Wigger und Barbara Kubesch geben in ihrem Buch "Projekt geschlechtergerechte Grundschule. Erfahrungsberichte aus der Praxis" einen Einblick in die im Kontext des niedersächsischen Schulversuchs "Soziale Integration in einer jungen- und mädchengerechten Grundschule" entwickelten Maßnahmen zur Förderung einer geschlechtergerechten Pädagogik im Unterricht. Der im Jahr 2002 abgeschlossene Schulversuch zielte darauf, Jungen und Mädchen im Unterricht spezifische Anregungen zu geben und somit einer Vereinseitigung durch geschlechtsstereotype Anforderungen entgegenzuwirken. Der bei Leske+ Budrich erschienene Band ist dabei die letzte von mehreren Veröffentlichungen zu diesem Schulversuch, die sich - trotz einiger inhaltlicher Überschneidungen - durchaus ergänzen: In der vom Niedersächsischen Landesinstitut für Schulentwicklung und Bildung (NLI) herausgegebenen Broschüre "Beispiele für die Arbeit in einer jungen- und mädchengerechten Grundschule" (2000)[1] standen hauptsächlich unterrichtsnahe und -praktische Umsetzungsvorschläge im Vordergrund, in dem Band von Kaiser, Nacken und Pech (2002)[2] wurden die zentralen empirischen Ergebnisse des Projekts berichtet und die nun vorliegende Veröffentlichung legt den Akzent stärker auf die konkret unternommenen Maßnahmen zur Qualifizierung von Lehrerinnen und Lehrern durch Supervision und Fortbildung und beschreibt eher allgemein die praktische Erprobung einzelner Unterrichtselemente einer geschlechtergerechten Grundschule.

Mit dieser Ausrichtung finden insbesondere Leserinnen und Leser Anregungen, die sich zunächst übergeordnet mit der Thematik einer geschlechtergerechten Grundschule beschäftigen wollen. Interessant ist das Buch aber auch für all jene, die alltagsnah Schulentwicklungsprozesse begleiten und erforschen. Das Buch leidet etwas darunter, dass die Kapitel zu Fortbildung und Supervision in Co-Autorinnenschaft geschrieben wurden und dabei Einheitlichkeit des Aufbaus und Klarheit der Aussage verloren gingen. Kritisch anzumerken ist zudem, dass die ersten beiden Kapitel dem Band von Kaiser, Nacken und Pech entnommen wurden und somit jene Leserinnen und Leser, die diese Veröffentlichung schon kennen, 1/5 des vorliegenden Buches "umsonst" gekauft haben. Hier hätte ich mir entweder eine gekürzte Darstellung der übernommenen Passagen oder aber eine neue inhaltliche Akzentsetzung gewünscht.

Die ersten beiden Kapitel umreißen die theoretischen und konzeptionellen Grundlagen des Schulversuchs, indem sie zentrale Forschungsergebnisse zu Koedukation, Geschlechterdifferenz und Geschlechtersozialisation skizzieren, einzelne pädagogische Bearbeitungsversuche aufführen und dabei auf die entsprechenden Forschungen verweisen. Im Sinne einer kompensatorischen Erziehung sollte in den vier teilnehmenden Versuchsschulen in einem geschlechtergerecht zu gestaltenden Unterricht auf Seiten der Mädchen die Fähigkeit zur Durchsetzung der eigenen Interessen und bei Jungen der Erwerb spezifischer sozialer Kompetenzen gefördert werden. Zugleich wurden Gemeinsamkeiten der Schülerinnen und Schüler durch eine für beide Geschlechter definierte "Soziale Kompetenz" in der Schule - und damit Ansätze eines nicht-stereotypen Denkens - betont. Ein wichtiges Element der Arbeit bestand dabei darin, die Reflexion der Geschlechterstereotypen und -hierarchisierungen durch die Lehrerinnen und Lehrer zu initiieren und auf den Umgang mit Geschlechterfragen in den alltäglichen Erziehungssituationen in der Familie hinzuweisen.

Wie die Bewusstmachung der geschlechtsspezifischen Rollenstereotype durch die Lehrkräfte in der Praxis umgesetzt wurde, beschreiben Astrid Kaiser und Maria Wigger im dritten Kapitel des Buches. Die Fortbildungen setzen dabei an der Einsicht an, dass eine geschlechtergerechte Grundschule nur dann realisiert werden kann, wenn die dort unterrichtenden Lehrerinnen und Lehrer sich im Sinne einer reflexiven Koedukation bewusst werden, dass sie – auch wenn sie eine ganz andere Intention haben – unbewusst durch ihr Verhalten und ihre Interaktionsmuster dazu beitragen, Rollenstereotype zu zementieren. Diese Erkenntnis ist nicht neu, die Beschreibung der Fortbildung gibt jedoch einen guten Einblick in die Möglichkeiten und Grenzen von Schulbegleitforschung. Die einzelnen Bausteine lassen sich dabei als eine Mischung aus direkt unterrichtsunterstützenden Maßnahmen und konzeptionellen und theoretischen Anregungen zur Arbeit am Thema der Geschlechterpädagogik beschreiben. Nun ist aus der einschlägigen Forschung bekannt, dass Lehrerinnen und Lehrer die Qualität der Fortbildung anhand ihrer Verwertbarkeit für den Unterricht beurteilten und nur wenig Interesse an einer theoretischen Auseinandersetzung haben. Dies war auch im Schulversuch der Fall. Im Rückblick gaben die Lehrerinnen und Lehrer allerdings an, dass sie sich über die Praxis durchaus eine differenzierte Wahrnehmung der Interaktionsprozesse in der Klasse erworben hätten.

Offensichtlich kommt die Theorie über die Praxis in die Klassenzimmer. Schade fand ich hier, dass im Schulversuch die Unterrichtspraxis und die qualitative Entwicklung des Unterrichts nicht systematisch evaluiert wurden und sich deswegen keine Aussagen darüber machen lassen, ob es über die angestrebte Fähigkeit zur Reflexion der eigenen Geschlechtsstereotype zu einer dauerhaften Veränderung der Unterrichtspraxis gekommen ist.

Die Erkenntnis, dass sich an der Art des Unterrichtens durch Schulentwicklungsprozesse und Schulreformen nur wenig verändert, bildet den Aufhänger für das folgende Kapitel zur Supervision (Kapitel 4). Die an sich spannende Frage, ob und welchen Einfluss Supervision auf den Verlauf des Schulversuchs hatte, wurde jedoch nur unzureichend beantwortet. Zudem machte dieser Abschnitt einen uneinheitlichen Eindruck auf mich. An vielen Stellen vermisste ich die Stringenz im Aufbau und die Klarheit bei der inhaltlichen Beschreibung. Dies mag u.a. daran gelegen haben, dass sich zwei Autorinnen die einzelnen Unterkapitel geteilt haben. Während Astrid Kaiser theoretisch erörterte, welchen Zweck Supervision in Schulentwicklungsprozessen haben kann und ihre Einsatzfähigkeit im Kontext der Geschlechterthematik erläuterte, war Barbara Kubesch für die Beschreibung der unternommenen Supervisionen zuständig. Wie die Supervisionen letztendlich konkret umgesetzt wurden, lässt sich aus ihren Ausführungen allerdings nicht genau ableiten.

Deutlich informativer sind die Ausführungen zur praktischen Erprobung einzelner Elemente des Schulversuchs in Kapitel 5. Hier wird für die Leserinnen und Leser anhand der Beschreibungen von Jungen- und Mädchenstunden und der Schilderung von einschlägigen Projekten im Sachunterricht sowie der Einführung in die Umsetzung eines die Bedürfnisse der Geschlechter berücksichtigenden Computerunterrichts gut nachvollziehbar, wie eine geschlechtergerechte Grundschule realisiert werden kann. Aufgelockert und kurzweilig ist dieses Kapitel, da die jeweiligen Beschreibungen durch Ausschnitte aus Unterrichtsprotokollen und Interviewpassagen der Kinder anschaulich illustriert werden. Dabei wird deutlich, dass die unternommenen Anstrengungen in den unterschiedlichen Klassen zu unterschiedlichen Ergebnissen führen und viele kleine Schritte notwendig sind, um eine geschlechtergerechte (Grund-)Schule zu erreichen. Das Buch endet deswegen im zusammenfassenden Kapitel 6 mit der so unspektakulären wie erwartbaren Erkenntnis, dass es insbesondere auf die Einstellung und die Motivation der in den Schulen unterrichtenden Lehrerinnen und Lehrer ankommt, diesen Weg zu beschreiten.

Insgesamt halte ich das Buch von Kaiser, trotz inhaltlicher Überschneidungen zu vorangegangenen Veröffentlichungen und einer manchmal fehlenden Stringenz im Aufbau einzelner Kapitel, insbesondere wegen der Beschreibungen der praktischen Erprobung des Schulversuchs für lesenswert.

Anmerkungen

[1] Kaiser, Astrid u.a.: Beispiele für die Arbeit in einer jungen- und mädchengerechten Grundschule. Ergebnisse des niedersächsischen Schulversuchs zum Thema "Soziale Integration". (Hrsg. NLI). Hildesheim 2000.
[2] Kaiser, Astrid/Nacken, Karola/Pech, Detlef (Hrsg.): Soziale Integration in einer jungen- und mädchengerechten Grundschule. Abschlussbericht zum niedersächsischen Schulversuch. Münster 2002.
Katja Koch (Göttingen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Katja Koch: Rezension von: Kaiser, Astrid / Mitarbeiterinnen,: Projekt geschlechtergerechte Grundschule, Erfahrungsberichte aus der Praxis, Opladen: Leske und Budrich 2003. In: EWR 2 (2003), Nr. 6 (Veröffentlicht am 01.12.2003), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/81003764.html