EWR 5 (2006), Nr. 4 (Juli/August 2006)

Gudrun Hackenberg-Treutlein
Professionelles Handeln in der religiös-spirituellen Erwachsenenbildung
Münster: Lit 2004
(254 S.; ISBN 3-825-88062-1; 25,90 EUR)
Professionelles Handeln in der religiös-spirituellen Erwachsenenbildung Die Erziehungswissenschaft präsentiert sich seit je her als eine vielfach zerstrittene Disziplin. Derzeit leben wir – dem „PISA-Schock“ sei Dank – schon seit Jahren im Zeichen eines selbst für die Erziehungswissenschaft ungewöhnlichen Fanatismus, der beinahe ausschließlich die empirisch ausgerichtete Erziehungswissenschaft als wissenschaftlich plausibel deklariert und jegliche geisteswissenschaftlichen Bezüge als unwissenschaftlich disqualifiziert. Effektreich konnten denn auch die Ergebnisse der Pisastudien politisch „vermarktet“ werden, haben doch Bildungspolitiker allzu gerne etwas Quantifizierbares „in der Hand“. Fraglos haben Paradigmenwechsel in der Erziehungswissenschaft nicht nur Auswirkungen auf die Auswahl von Bildungsinhalten, sondern ebenso auf die Ausbildung derjenigen, die diese Inhalte vermitteln sollen, auf die Lehrenden, und damit zugleich auf deren berufliches Selbstverständnis, ob in der Schule oder in der Erwachsenenbildung. Auch die Erwachsenenbildung ist im didaktisch-methodischen Bereich inzwischen hoch technisiert, kaum eine Bildungseinrichtung, die nicht über einen Beamer verfügt. Diese Entwicklung hat zur Folge, dass viele, zu viele Erwachsenen- und Weiterbildner mittlerweile ihr Verständnis von Professionalität einerseits aus dem Grad ihrer vermittlungstechnischen Kompetenz beziehen und ihre Profession weit weniger als zu Zeiten „selbstsorgender“ Didaktik und Methodik mit bestimmten unabdingbar notwendigen Einstellungen und Haltungen verknüpfen und andererseits daraus, ob sie ihre jeweiligen Bildungsprogramme mit standardisierbaren und damit leicht überprüfbaren Wissensinhalten zu füllen in der Lage sind.

Die vorliegende Publikation von Gudrun Hackenberg-Treutlein knüpft an diesen Zusammenhang an und zeigt, dass ein im Gefolge von PISA gefordertes „Mehr an standardisierbarem, überprüfbarem und objektivierbarem Wissen oder auch an Handlungsrepertoire nicht zwangsläufig den Königsweg zu einem gekonnten beruflichen Handeln darstellt“(81). Basierend auf Einzelfallstudienergebnissen stiftet sie mit ihrer Untersuchung zu einem „Nach“- und „Vor“denken bezüglich der Ausgestaltung eines beruflichen Selbstverständnisses von Erwachsenenbildnern an.

Ausgangspunkt ihrer Studie ist dabei die Tatsache, dass sich „die Lebensläufe ... entstandardisieren, die Menschen (...) an ihren Biografien (basteln)“ (12) und für die daraus folgenden individuellen biografischen Inszenierungen einer bildnerischen Unterstützung bedürfen, die eben weit über die Vermittlung eines standardisierbaren, überprüfbaren und objektivierbaren Wissens oder Handlungsrepertoires hinausgehen muss und mit bloßen Vermittlungstechniken nicht sinnvoll gestaltet werden kann. Aufgrund des Alleinstellungsmerkmals der Erwachsenenbildung hinsichtlich einer ausgeprägten Wechselseitigkeit der pädagogischen Beziehung, gilt das Gesagte sowohl für Lernende als auch für Lehrende. Denn „gerade im Erwachsenenalter erlangen Prozessmerkmale des Lernens wie Eigenaktivität, Interessensbezug, Eigenverantwortlichkeit sowie die Integration gemachter Erfahrungen und bestehender Überzeugungen (...) ein besonderes Gewicht“ (19).

Die Autorin versteht ihre Studie als einen Beitrag zur allgemeinen Professionsforschung. Sie untersucht exemplarisch auf diesem Hintergrund das berufliche Selbstverständnis und Professionswissen von ErwachsenenbildnerInnen in der spirituell-religiösen Erwachsenenbildung, exemplarisch, weil die Ergebnisse der Studie durchaus einen Transfer auch auf das professionelle pädagogische Handeln von KursleiterInnen in anderen Bereichen der Erwachsenenbildung erlauben. Hackenberg-Treutlein geht davon aus, dass „mittlerweile die kulturelle Bildung (...) (zu der auch die religiös-spirituelle Bildung gerechnet werden kann)“ (23) eine Orientierungsfunktion in einer unübersichtlich gewordenen Welt (Jürgen Habermas) übernimmt. Sie kann anhand von Forschungsergebnissen nachweisen, dass sich zwar Postmaterialisten von der traditionellen Religion zunehmend entfremden, aber dass sie weitaus mehr als Materialisten eine gewisse Zeit damit verbringen, über Sinn und Zweck des Lebens nachzudenken, gerade oder auch obwohl religiöse Überzeugungen und Verhaltensweisen der Tendenz nach rückläufig sind. Die Autorin sieht in Anlehnung an Urs von Balthasar Spiritualität als Grundhaltung des Menschen an, die zugleich Folge und Ausdruck eines religiös oder ethisch-engagierten Daseinsverständnisses ist. Hackenberg-Treutlein liest ein verstärktes Verlangen nach Sinnorientierung und Sinnstiftung vor allem an der allenthalben vorfindbaren Sehnsucht nach individuellem Erleben und Erfahren auf allen Gebieten menschlichen Lebens ab. Doch geht es der Verfasserin in ihrer Studie nicht darum, etwaige Fluchtbewegungen aus einer vorwiegend rational, technisch und ökonomisch gesteuerten Lebenswelt nachzuzeichnen, sondern darum, „gegen den Objektivismus wissenschaftlicher Betätigung die 'leitende Subjektivität' wiederzugewinnen und einen Weg zu finden, wie die umfassende Unverfügbarkeit des Menschen anerkannt werden kann“(22).

Die Verfasserin beschreibt und analysiert im Zuge ihrer Ausführungen prägnant und pointiert die religiös-gesellschaftliche Situation zu Beginn des 21. Jahrhunderts und deren Einfluss auf die Situation der Erwachsenenbildung, um sich daran anschließend mit den neuen religiösen Themen in der Erwachsenenbildung auseinanderzusetzen. Die Autorin vermutet, dass „die Vernachlässigung der Erfahrungsdimension des westlichen Christentums eine Sakralisierung profaner Bedürfnisse zur Folge hatte“ (14) und dass dies zugleich auch der Grund dafür sei, dass Erwachsenenbildung mit ihrer Forderung nach Befähigung aller Menschen zu Teilhabe und Mitwirkung an Gesellschaft und Kultur diese Entwicklung offensiv aufgreift. Als Beleg dafür führt Hackenberg-Treutlein die seit Jahren mit steigender Tendenz in Bildungsprogrammen auftauchenden Themengebiete an, die sich mit quasi-religiösen Bereichen befassen, angefangen von Themen zu ostasiatisch beeinflussten Kulten und Meditationspraktiken bis hin zu New-Age-Themen.

Ihrem subjektorientierten Ansatz folgend, wählt die Verfasserin in methodologischer Hinsicht für ihre Studie den Weg der qualitativen Forschung und verwendet demgemäß zur Erfassung von professionellem Handeln im Bereich spirituell-religiöser Erwachsenenbildung v.a. nicht standardisierte und damit subjektorientierte Verfahren: Sie rekonstruiert auf diesem Hintergrund mit Hilfe des qualitativen Experteninterviews, „auf welche Weise ErwachsenenbildnerInnen, die in historisch und sozial entwickelten Routinen und Deutungen ihres jeweiligen Handlungsfeldes hineingestellt und sozialisiert sind, diese einerseits vorfinden und sich aneignen, andererseits aber immer wieder neu ausdeuten müssen“ (10).

Erwachsenenpädagogische Professionalität definiert sich – wie die Verfasserin richtig hervorhebt – vor allem über deren konstitutive Interaktionsabhängigkeit, die in einen subjekt-, situations- und kontextspezifischen Rahmen eingebettet ist und nur in geringem Umfang quantitativ erfassbar ist. Die individuelle Einstellung und Haltung, das Ausmaß der Begeisterung, welches ein Kursleiter seinem Fach entgegenbringt oder auch Kategorien zur Feststellung von Sozialkompetenz eignen sich in der Tat kaum zur quantitativen Erhebung. Die Autorin geht in ihrer Studie denn auch von einem Bildungsverständnis aus, „das (...) jenseits von Objektivismus (das heißt jenseits eines Bildungsdogmatismus) und jenseits eines Subjektivismus (und damit einer gewissen Beliebigkeit) angesiedelt ist“ (10) und möchte ihr Verständnis von Bildung in einem forschungspraktischen Pendant spiegeln. „Eine Theorie der Erwachsenenbildung kann nur dann praxisrelevant sein, wenn sie auf die vorhandene pädagogische Realität unserer derzeitigen gesellschaftlichen Situation bezogen ist und im Dialog mit Praktikern entwickelt wird“ (20).

Die von der Autorin durchgeführten Experteninterviews mit haupt-, neben und freiberuflichen Erwachsenenbildnern aus dem religionswissenschaftlichen bzw. religiösen Bildungsbereich beziehen sich auf handlungstheoretisch orientierte Fragen zum beruflichen Werdegang, „also auf den Prozess ihrer individuellen Verberuflichung“ einerseits und andererseits „auf deren Professionalitäts- bzw. Bildungsverständnis“ (19). Im Zuge dessen kann die Verfasserin - um die stets qualitativen Interviews inhärenten Risiken wohl wissend - folgende Muster der beruflichen Motivation bzw. des beruflichen Selbstverständnisses, des Bildungs- und Spiritualitätsverständnisses sowie den Bezug zu den institutionellen Rahmenbedingungen unter idealtypischer Perspektive herauskristallisieren: den Helfertypus, den theologisch-wissenschaftlichen Typus, den dialogischen Typus, den existentiellen Typus. Dabei vermag sie zu zeigen, dass es verkürzt wäre, „Professionalisierung jeweils ausschließlich mit einer wissenschaftlichen Berufsausbildung, einer permanenten Weiterbildung, mit dem Verberuflichungsstatus der Hauptberuflichkeit, der Konstituierung eines Berufsverbandes oder einer zunehmenden Verwissenschaftlichung in einen inneren sachlogischen Zusammenhang zu bringen, in Kurssituationen lediglich Rekurs auf wissenschaftliches Wissen zu nehmen, da es sich hierbei um Wissen handelt, das nicht ohne Weiteres in die Persönlichkeitsstruktur der Teilnehmerklientel eingeordnet, integriert werden kann“ (203). Zudem verfügen nach den Ergebnissen dieser Studie Erwachsenenbildner, die im religiös-spirituellen Bereich tätig sind, über ein differenziertes Authentizitätsprofil im personenbezogenen Umgang mit ihrer Klientel. Mit Ausnahme des als wissenschaftlich-theologischen Typus herausgearbeiteten Kursleiters wird die erwachsenenbildnerische Profession im Bereich der spirituell-religiösen Erwachsenenbildung als Berufung empfunden.

Hackenberg-Treutlein fasst zusammen: „Professionalität stellt keinen Zustand dar, über den man verfügt oder nicht, sondern entwickelt sich zum einen historisch auf der Ebene des Berufsstandes und zum anderen individuell auf der Ebene des Berufsinhabers selbst“ (208). Der Verfasserin geht es im Fazit darum, die Bedeutung der individualbiografischen Genese für ein normatives Konzept pädagogischer Professionalität herauszustellen und dieses bereichsübergreifend bereitzustellen. Denn viel zu häufig werden gerade „jene für die Professionalität in der Erwachsenenbildung konstitutiven Merkmale (relative Autonomie des Handelns, curriculare Offenheit und persönliches Engagement) als Anzeichen mangelnder Professionalität gewertet und mit der Forderung nach einem Mehr an Standardisierung verbunden“ (20). Zu Recht warnt die Autorin vor einem das professionelle Handeln in der Erwachsenenbildung aushöhlenden Pisaeffekt. Ihr geht es in ihrer Studie vor allem um die „Erarbeitung einer Handlungshermeneutik, welche professionelles Handeln unterstützen kann“ (20).

Nur einige Pädagogen haben in Zeiten eines „Pisafanatismus“ den Mut, sich mit guten Gründen – und derer gibt es viele – von einer den Menschen vermessenden Pädagogik zu distanzieren. Die vorliegende Publikation setzt genau an diesem „kritischen Punkt“ an und hält eine Fülle von gewichtigen Argumenten auf diesem Hintergrund bereit. Angesichts dessen nimmt sich die erziehungswissenschaftlich nicht saubere Unterscheidung zwischen Sozialformen und Bildungsmethoden allenfalls als marginale Unebenheit aus, die den durch diese Arbeit gewonnen Erkenntnisgewinn in keiner Weise schmälert. Hackenberg-Treutlein demonstriert mit ihrer Studie anschaulich, wie wichtig es ist, Bildung Erwachsener nicht in die Sphäre routiniert standardisierten Tuns abgleiten zu lassen.
Margret Fell (Eichstätt-Ingolstadt)
Zur Zitierweise der Rezension:
Margret Fell: Rezension von: Hackenberg-Treutlein, Gudrun: Professionelles Handeln in der religiös-spirituellen Erwachsenenbildung. Münster: Lit 2004. In: EWR 5 (2006), Nr. 4 (Veröffentlicht am 27.07.2006), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/82588062.html