EWR 3 (2004), Nr. 4 (Juli/August 2004)

Christian Schönherr
Skepsis als Bildung?
Skeptisch-transzendentalkritische Pädagogik und die Frage nach ihrer Konstruktivität
Würzburg: Königshausen & Neumann 2003
(197 Seiten; ISBN 3-8260-2441-9; 34,50 )
Skepsis als Bildung? Die Frage nach seinem konstruktiven Potential muss sich ein jeglicher pädagogischer Entwurf immer zweimal vorlegen, erstens, und dies gilt für wissenschaftliche Theoriebildung insgesamt, im Hinblick auf logische Stringenz und erkenntniskritische Selbstreflexivität, zweitens, und dies ist typisch für praktisch orientierte Wissenschaften, im Hinblick auf die realen, praktischen Konsequenzen. Dieses Verfahren der doppelten kritischen Prüfung wendet Christian Schönherr insofern durchgehend an, als er in einem ersten Schritt die von Wolfgang Fischer begründete skeptisch-transzendentalkritische Pädagogik historisch systematisch rekonstruiert und zwar unter besonderer Berücksichtigung des Einflusses des Neukantianismus. Sodann untersucht er die beiden Eckpfeiler einer skeptisch-transzendentalkritischen Pädagogik, nämlich die Erkenntnistheorie Kants und das methodische Nichtwissen des Sokrates, um abschließend die Notwendigkeit des "skeptischen Einsatzes" sowohl für den gegenwärtigen erziehungswissenschaftlichen Theoriediskurs als auch für die jeweilige pädagogische Praxis zu begründen (vgl. 157-158).

Unzweifelhaft steht fest, dass ein pädagogisches Theoriemodell, das sich mit Begriffen wie "skeptisch" und "kritisch" schmückt, keine pädagogische Praxis im Geleit führen kann, welche normativ bzw. affirmativ orientiert wäre (65). Ein affirmatives Konzept von Erziehung, das sich ausschließlich an traditionellen Werthorizonten orientieren würde, kann schlechterdings nicht jene skeptische Distanz gegenüber den Selbstverständlichkeiten des Alltags aufbringen, die unabdingbar ist, um jenen kritischen Reflexionsstandpunkt einzunehmen, der einer reformorientierten gesellschaftlichen Praxis immer vorangeht. Daher, so schlussfolgert Schönherr völlig richtig, lässt eine nicht-affirmative Pädagogik sich weder in den Dienst der bloßen Wissensvermehrung noch der sogenannten Wertevermittlung stellen (61). Das heißt, die Gewissheit, dass es keine absolute Wahrheit und keine letzten Antworten gibt, setzt pädagogische Praxis einer "rückhaltlosen sokratischen Gedanklichkeit" (164) aus, die eine grundsätzlich problemorientierte Didaktik einfordert. Hier orientiert sich Schönherr an Ruhloffs "Pädagogik des problematisierenden Vernunftgebrauchs" (159), die, in der Tradition des Aufklärungsprojekts stehend, auch ihren eigenen Legitimationsanspruch überprüft (161) und sich gewissermaßen in einem diskursiv organisierten Unterricht praktisch niederschlagen würde.

Die von mir hier angebotene Lesart einer "Pädagogik des problematisierenden Vernunftgebrauchs" vor dem Hintergrund einer von Kant ins Leben gerufenen Diskursethik widerspricht allerdings der Intention Schönherrs, die skeptische Methode als die der Transzendentalkritik überlegene Methode auszuweisen (vgl. 44). Zwar sieht es nach Kant so aus, als sei Skepsis nur eine "Zwischenstufe vom Dogmatismus zur Kritik" (63) und insofern vor allem von propädeutischer Bedeutung im Hinblick auf den noch einzunehmenden Reflexionsstandpunkt der reinen Vernunft, dennoch trägt der transzendentalphilosophische Vernunftbegriff aus der Sicht Wolfgang Fischers und seines Apologeten Schönherr einen unnötigen metaphysischen Ballast mit sich (vgl. 57), dessen man sich offenbar entledigen kann, wenn die skeptische Haltung als das den kritischen Vernunftstandpunkt umfassende Gerüst betrachtet wird. Dann geht es im pädagogischen Verhältnis nämlich nicht mehr um Letztbegründungen im Horizont des Faktums der Vernunft bzw. des moralischen Sollens, sondern um die Einübung einer skeptischen "Lebensführung", für die Sokrates beispielhaft steht (163).

Entgegen der von Schönherr in der Einleitung formulierten Absage, die skeptisch-transzendentalkritische Pädagogik im Kontext postmoderner Strömungen zu rekonstruieren (13), vermutlich um nicht in den Sog eines postmodernen Relativismus zu geraten, der sich, wie Benner vermutet, an die Stelle des geisteswissenschaftlichen gesetzt habe (12), läuft Schönherr Gefahr, durch die Favorisierung der sokratischen Methode gegenüber der diskursiven, in einen postmodern Eklektizismus zu verfallen. Wenn der Begriff der Bildung und mit ihm die Bestimmung einer pädagogischen Zielgerichtetheit nur im Horizont einer "Idee der Menschlichkeit" herauszuarbeiten ist (vgl. 160), die von dem höchst metaphysisch besetzten Begriff der "Idee der Menschheit" abhängt, der wiederum nichts anderes als ein Baustein der unterstellten zweckmäßigen Anordnung der Natur ist, dann erscheint die Höherbewertung der skeptischen Haltung gegenüber der kritischen Prüfung von Argumenten hinsichtlich der Bedingungen ihrer Möglichkeit eher willkürlich und weniger systematisch. Dies stärkt ungewollt postmodernen Eklektizismus, weil eine Errungenschaft der Moderne, nämlich die "Idee der Menschlichkeit" im Horizont einer natürlichen Rechtsgleichheit aller Menschen der sokratischen Methode gar nicht zugrunde liegen kann. Denn in einem war sich Sokrates als Zeitgenosse der antiken Sklavengesellschaft ganz sicher: wirklich menschlich konnte nur der Bürger sein, und damit waren all jene Menschen von der Paideia und von der anvisierten skeptischen Haltung ausgeschlossen, die nicht in den Status des Bürgers qua Geschlecht oder Herkunft gelangen konnten.

Mag es vordergründig als ein Vorteil für die moderne pädagogische Theoriebildung erscheinen, anstelle einer nur metaphysisch zu begründenden Naturabsicht hinsichtlich menschlicher Bildungsprozesse das "Nichtwissen" um jegliche verborgene Absichten zu veranschlagen, so wird aus diesem Vorteil schnell ein Eigentor, wenn unterschiedliche skeptische Haltungen untereinander abgewogen und als vernünftig oder unvernünftig beurteilt werden sollen. Der Anhänger einer Sekte muss nicht weniger skeptisch dem technologischen Fortschritt gegenüberstehen als ein Kritiker des wissenschaftlichen Positivismus, und dennoch scheint das Verfassen eines Essays gegen den ungezügelten Gebrauch der instrumentellen Rationalität vernünftiger als der Rückzug in eine vormoderne Glaubensgemeinschaft. Skeptische Haltung allein bewahrt die heranwachsende Generation nicht vor ideologischen Übergriffen, aber sie ist, und hier hat Kant recht, Voraussetzung für die kritische Prüfung von Argumenten vor dem Richterstuhl der Vernunft. Dies bedeutet vor allem, die eigenen Argumente so zu prüfen, dass sie dem Anspruch der allgemeinen Verbindlichkeit standhalten, und Geltungsansprüche können bekanntermaßen nur diskursiv überprüft und eingelöst werden.

Nun tendiert die sokratische Methode zwar genau in diese Richtung, unterstellt im Unterschied zum kantischen Richterstuhl der Vernunft als maieutisches Verfahren dennoch ein sicheres Wissen, das nur herauszubringen sei. Dieses vormoderne Spezifikum der Maieutik wird auch nicht dadurch ausgehebelt, dass sie im Gewand der Elenktik (75 ff) oder des "elenktisches Pragma" (86) als Vorbote des modernen Rationalismus zur Geltung gebracht wird. Die sokratische Methode, ob als Maieutik oder Elenktik identifiziert, kann als angewandte nicht scheitern, da sie notwendig soviel Wahrheit hervorbringt, wie gefasst bzw. begriffen werden kann. Darum wird im maieutischen Verfahren nicht "Menschlichkeit" erzeugt, sondern unhinterfragt als natürliches Qualitätsmerkmal des Bürgers vorausgesetzt. Sklaven, Barbaren und Frauen können entsprechend der ontologisch vorgezeichneten Ordnung eben sowenig wissend wie der Blinde sehend gemacht werden, d.h. die Paideia und mit ihr das gesamte maieutische oder elenktische Verfahren stehen im Dienst eines ontologischen Gesamtsystems, welches vom Menschen wohl perfektioniert, nicht aber gesprengt werden kann.

Schönherr vermeidet es, das skeptische Verfahren, wie Kant es vorzugsweise nennt, als sokratische Methode zu identifizieren. Denn der Preis für die Wiederbelebung der Maieutik wäre hoch, müsste doch das moderne Prinzip der unbestimmten Bildsamkeit des Menschen, welches der Skeptiker Montaigne als einer der ersten gegen die traditionelle Ontologie in Anschlag brachte, aufgegeben werden. So beschränkt Schönherr sich darauf, analog zu Kants Differenzierung, Skepsis vom Skeptizismus zu unterscheiden und die skeptische Methode ersterer zuzuordnen. Obgleich er im weiteren Verlauf seiner Untersuchung zunehmend von Skepsis als Methode spricht und damit der kantischen Methodendiskussion folgt, die den methodischen Zweifel als Bedingung des vernunft- und wissenschaftskritischen Standpunkts ausweist, zieht Schönherr sich am Ende auf die phänomenologische Ebene der skeptischen Haltung bzw. der skeptischen Lebensführung zurück und wird dadurch zum Apologeten einer postmodernen Lebensästhetik, welche in Anlehnung an Nietzsche die Bestimmung des Menschen darin erkennt, sich selbst einen Stil zu geben.

Nun wird nicht Nietzsche, sondern Platons Sokrates zitiert, um zu zeigen, dass Kants Erkenntniskritik um die skeptische Haltung erweitert werden muss, damit sie ihrem eigenen kritischen Anspruch in der praktischen, das ist in diesem Kontext in der pädagogischen Wirklichkeit, gerecht wird. Dadurch entsteht eine eigentümliche Spannung innerhalb der Argumentation, wenn die historisch vorgängige Position zugleich als systematisch reifere Position dargestellt wird. Sind unterschiedliche Positionen nicht nur durch Jahrzehnte, sondern durch historische und kulturelle Epochen getrennt, dann muss der Interpret schon gute Gründe angeben, warum Bildungsprozesse zuallererst auf eine vormoderne skeptische Haltung und Lebensführung ausgerichtet sein sollten und nicht auf die verantwortungsvolle Teilnahme am Projekt der Moderne.

Die vorgebrachten Gründe haben die Rezensentin nicht überzeugt, weil das vorgelegte Material eigentlich eher die kritische als die skeptische Methode stützt. Letztere bleibt nämlich, wenn es in letzter Konsequenz nur um eine im Zögling zu erzeugende skeptische Haltung geht, auf halber Strecke stehen. Denn von der Skepsis bis zum vernünftigen Argument ist es noch ein weiter Weg. Es ist der lange Weg der Bildung und nicht der Rhetorik, (vgl. 141 ff), die auf sich allein gestellt nichts über den Vernunftgehalt eines Arguments aussagt.

Auch wenn die Rezensentin sich der Argumentation insgesamt nicht anschließt, steht außer Zweifel, dass es sich um ein gut geschriebenes, äußerst lesenswertes Buch handelt, dem man es nicht anmerkt, dass es eine Dissertation ist. Es ist ebenso systematisch wie problemorientiert strukturiert, gibt einen anspruchsvollen Einblick in die Argumentationsfiguren der skeptisch-transzendentalkritischen Methode und glänzt durch eine bildungstheoretische Interpretation von Kants Methodenlehre (48-68). Vielleicht hätte ich mir gerade deshalb gewünscht, dass Christian Schönherr am Ende nicht maieutisch, sondern dialektisch argumentiert hätte, wodurch das negative Potential, das die Kritik der Skepsis voraus hat, in seiner praktischen Bedeutung erkannt worden wäre. Denn Gesellschaften werden nicht durch Haltungen, sondern, mit Hegel und Marx gesprochen, durch Arbeit verändert.

Abschließend möchte ich noch einmal betonen, dass ungeachtet aller vorgebrachter Einwände, wie sie für einen wissenschaftlichen Diskurs typisch sind, Christian Schönherr eine hoch interessante bildungstheoretische Analyse der skeptisch-transzendentalkritischen Pädagogik vorlegt und damit unter Beweis stellt, dass das weite Feld der Bildungsphilosophie, trotz ihrer Niederlage gegenüber dem Positivismus, noch auf hohem Niveau bearbeitet wird. Es ist aus der Perspektive Allgemeiner Pädagogik zu wünschen, dass Christian Schönherr den eingeschlagenen Weg fortsetzt und das interessierte Publikum bald über den Fortgang seiner Forschungen unterrichtet.
Ursula Reitemeyer (Münster)
Zur Zitierweise der Rezension:
Ursula Reitemeyer: Rezension von: Schönherr, Christian: Skepsis als Bildung?, Skeptisch-transzendentalkritische Pädagogik und die Frage nach ihrer Konstruktivität, Würzburg: Königshausen & Neumann 2003. In: EWR 3 (2004), Nr. 4 (Veröffentlicht am 05.08.2004), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/82602441.html