EWR 3 (2004), Nr. 2 (März/April 2004)

Kim Sang Sup
Die Selbstkonstituierung des moralischen Subjekts und das Faktum der Vernunft
Ăśberlegungen zu einer nicht-empirischen Grundlegung von Bildung im AnschluĂź an Kant
MĂĽnster u.a.: Waxmann 2003
(240 Seiten; ISBN 3-8309-1251-X; 25,50 EUR)
Die Selbstkonstituierung des moralischen Subjekts und das Faktum der Vernunft Mit seiner Studie "Die Selbstkonstituierung des moralischen Subjekts und das Faktum der Vernunft" legt Sang Sup Kim eine bildungstheoretische Deutung zur praktischen Philosophie Immanuel Kants vor. Aus Anlass gegenwärtiger Infragestellungen autonomer Subjektivität durch ‚postmodernes’ Denken und ‚postindustrielle’ global-gesellschaftliche Entwicklungen sucht Kim nach verbliebenen Möglichkeiten, Bildung und gesellschaftliche Praxis im Horizont von Humanität zu begründen (vgl. 2f.). Hierzu sei Kant in Betracht zu ziehen, nicht zuletzt, weil er mit seiner Philosophie der Freiheit, Autonomie, Moralität sowie des sittlichen Weltbürgertums "die ‚moderne’ Idee der Menschwerdung des Menschen durch Erziehung und Bildung [...] entscheidend mitgeprägt" habe. Bei dem Versuch, das ethisch-praktische Denken des Philosophen im Hinblick auf eine "nicht-empirische Bildungstheorie" zu rekonstruieren, ist es freilich mit einer affirmativen Nachzeichnung nicht getan. Neben den genannten Herausforderungen stehen dem auch ernst zu nehmende Einwände entgegen, die im Laufe der Rezeptionsgeschichte gegen Kants "Rigorismus" erhoben worden sind.

Kims Interpretation zielt daher von Beginn an darauf ab, die "dynamischen", "kreativen" Momente der Kantischen Ethik und Anthropologie herauszuarbeiten (Teil II). Nach dieser Lesart sind Subjektivität und Moralität nicht als gegeben, sondern als aufgegeben zu denken. Es geht Kim darum, die Spielräume sichtbar zu machen, die es im "Selbstkonstituierungsprozeß" des moralischen Subjekts und die es in der konkreten Ausgestaltung sittlichen Handelns, im "Diskurs der Maximen" gibt (vgl. z.B. 69ff.). Gerade auch die fundierende Lehre vom Faktum der Vernunft gelte es aus "statischer Verklammerung zu befreien", und das "Faktum" als "Tätig-sein" der reinen Vernunft (vgl. 54ff.), als "permanente Aufforderung zur moralischen Selbstbildung" (125) zu begreifen.

Im zweiten Hauptteil der Arbeit (= III.) steht die Entfaltung der bildungs- und erziehungstheoretischen Implikationen im Vordergrund. Wenn man, wie Kim, Bildung wesentlich als moralische Bildung auffasst, sieht man sich vor die Schwierigkeit gestellt, dass nach Kant eine Moralisierung des Menschen nur durch eine "Revolution der Gesinnung" initiiert werden kann. Jegliche erzieherische Einflussnahme auf diesen nur vom Bildungssubjekt selbst vollziehbaren Freiheitsentschluss, dem "Hang zum Bösen in der menschlichen Natur" entgegen zu treten (vgl. Kants Religionsschrift), erscheint ausgeschlossen. Der entscheidende Schritt zur Moralisierung entzieht sich offenbar pädagogischer Einwirkung.

Will man es bei diesem ernüchternden Resultat nicht bewenden lassen, kommt man um eine systematische Auseinandersetzung mit dem Spannungsfeld von Fremd- und Selbstbestimmung nicht umhin. Folgerichtig rückt Kim im weiteren Verlauf seiner Untersuchung jenes "pädagogische Paradox" in den Mittelpunkt, das Kant paradigmatisch in die Frage kleidet: Wie kultiviere ich die Freiheit bei dem Zwange? Kims Überlegungen zu einer Auflösung des Widerstreits, der in dieser pädagogischen Kernfrage enthalten ist, können hier nicht im einzelnen nachvollzogen werden. Sie münden ein in eine Verlagerung der bildungstheoretischen Problematik auf die gattungsgeschichtliche Ebene. Insbesondere die Kantische Geschichtsphilosophie eröffnet Kim zufolge eine Möglichkeit, die (unendliche) Annäherung des Menschen an seine moralische Bestimmung, an seine Bildungsidee, denkbar zu machen (vgl. 144, 190f.). Die Perspektivierung eines sittlichen Weltbürgertums erlaube – mit Kant gegen Kant –, den Pessimismus hinsichtlich einer Erziehung zur Moralität zumindest partiell zu revidieren (vgl. 176f.).

Durch Kims Studie wird einmal mehr aufgezeigt, wie vielfältig die Anknüpfungspunkte für eine fruchtbare pädagogische Auseinandersetzung mit Kant bis heute sind. Wie Ursula Reitemeyer in ihrer einleitenden Einordnung des Buches in die Reihe "Ethik im Unterricht" bemerkt, geht Kim dazu den "langen Weg" einer eigenständigen Rekonstruktion von Kants reiner Moralphilosophie. Hervorzuheben ist ferner, dass der Autor es nicht bei einer im Oberflächlichen verbleibenden Zusammenfassung der Quellen belässt, sondern sich durchweg um eine philosophisch-pädagogische Durchdringung bemüht. Leider bleiben dabei auch wichtige Problemaspekte unterbelichtet. So hätte gerade eine Untersuchung, die die (moralische) Bildung des Menschen im Anschluss an Kant thematisiert, stärker die zahlreichen Stellen berücksichtigen können, an denen der Philosoph – auch und gerade in seinen ethischen Hauptschriften – explizite und mitunter recht konkrete Erörterungen zu den Grenzen, aber auch zu den Möglichkeiten einer "Ethischen Didaktik" anstellt (vgl. die zeitgleich erschienene Arbeit von Lutz Koch: Kants Ethische Didaktik. Würzburg 2003.) Dort, wo Kim immerhin die u.a. in der Methodenlehre der KpV diskutierte "moralische Übung" erwähnt, unterbietet er Kants Intention und Gedankengang, wenn er sie als eine Maßnahme zur Anpassung des Handelns an die "gelebte Sitte" deutet, die allenfalls akzidentell mit moralischer Bildung verbunden sei (vgl. 76, Anmerkung).

Abgesehen von solchen Fragen der Kantauslegung hätte Kims Arbeit auch durch den einen oder anderen Seitenblick an Problemweite und Differenziertheit gewinnen können, beispielsweise durch eine intensivere inhaltlich-kritische Diskussion jener ‚postmodernen’ Problematisierungen menschlicher Subjektivität, die eingangs als ein Anlass für die Untersuchung angeführt werden. Eine Auseinandersetzung mit der im pädagogischen Diskurs, z.B. bei Theodor Ballauff, vorliegenden Kritik an einer ethischen Vereinseitigung des Bildungsproblems hätte ebenfalls wertvolle Aufschlüsse erbringen können (vgl. dazu Christiane Thompson: Selbständigkeit im Denken. Opladen 2003, Kapitel VI.) Womöglich wäre dann etwa die bildungstheoretische Unterordnung von Kants theoretischer gegenüber der praktischen Philosophie noch einmal zu überdenken gewesen. Freilich kann gerade eine Dissertation nicht alles leisten. Bei Verzicht auf einzelne eher redundante Passagen hätte jedoch die Berücksichtigung dieser oder jener Antithese den Rahmen des Vorhabens nicht ohne weiteres sprengen müssen. Trotz der gewissen Einseitigkeit bleibt Kims Buch lesenswert, weil es manchem Kenner eine neue Sicht auf die bildungsphilosophische Relevanz der Kantischen Ethik eröffnen mag und weil es den allgemeiner interessierten Leser mit einer Reihe von "nicht-empirischen" Fragen konfrontiert, die für die Pädagogik in hohem Maße virulent sind und bleiben.
Christian Schönherr (Bayreuth/Wuppertal)
Zur Zitierweise der Rezension:
Christian Schönherr: Rezension von: Sup, Kim Sang: Die Selbstkonstituierung des moralischen Subjekts und das Faktum der Vernunft, Ăśberlegungen zu einer nicht-empirischen Grundlegung von Bildung im AnschluĂź an Kant, MĂĽnster u.a.: Waxmann 2003. In: EWR 3 (2004), Nr. 2 (Veröffentlicht am 31.03.2004), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/83091251.html