EWR 2 (2003), Nr. 5 (September/Oktober 2003)

Barbara Stambolis
Mythos Jugend. Leitbild und Krisensymptom
Ein Aspekt der politischen Kultur im 20. Jahrhundert
Bad Schwalbach/Ts: Wochenschau-Verlag 2003
(271 Seiten; ISBN 3-87920-191-9; 24,80 EUR)
Mythos Jugend. Leitbild und Krisensymptom Habent sua fata libelli – Bücher haben ihre Geschichte. Wenn dieser Satz zutrifft, dann in besonderem Maße auf die 1982 an der Universität Bochum eingereichten und von Hans Mommsen und Jürgen Reulecke – damals noch junger Privatdozent – begutachteten Dissertation von Barbara Stambolis. Über 20 Jahre wird sie in Studien zur Historischen Jugendforschung zwar kontinuierlich zitiert, war aber bisher nur in einer maschinenschriftlichen Fassung im Umlauf und sehr schwer erreichbar, zählte also ungerechtfertigter Weise zur "grauen Literatur". Es gilt hier nicht die Gründe zu diskutieren, warum der Text so lange nicht in einer ordentlichen Druckfassung vorlegt wurde – nun ist sie da und kann einer breiteren wissenschaftlichen Öffentlichkeit vorgestellt werden.

Ende der siebziger und Anfang der achtziger Jahre hatte das Thema "Jugend als Generationserfahrung" in der Historischen Jugendforschung eine gewisse Konjunktur erlangt und es waren Historiker wie Hans Mommsen und Michael Kater, die im Kontext von Generationskonflikten und Jugendrevolten den politischen Aufstieg der NS-Bewegung interpretierten und die starke Generationenfragmentierung als einen Grundzug der deutschen Gesellschaft im frühen 20. Jahrhundert deuteten. Solche Überlegungen greift Barbara Stambolis Untersuchung auf, um zu zeigen, wie in der Weimarer Republik "Jugend" und "Jugendlichkeit" ins Zentrum politischer Heilslehren und neuer Gesellschaftsentwürfe rückten, wie mit dem "Mythos Jugend" Politik gemacht werden konnte. Dies gilt nicht nur für die konservativen und rechtsextremen Kräfte, sondern seit Ende der zwanziger Jahre auch für die Sozialdemokratie, die allesamt die Generationsspannungen politisch instrumentalisierten. Stambolis hat ihre Arbeit in 11 Kapitel gegliedert und der aktuellen Fassung einen Nachtrag angefügt, in dem sie den "Mythos Jugend" in mentalitäts- und sozialgeschichtlichen Deutungsmustern diskutiert. Die zentrale These ihrer Studie stellt sie gleich zu Beginn vor und sie lautet: Die Zuspitzung des Generationskonfliktes "in der Endphase der Republik trug erheblich zur Delegitimierung der bestehenden politischen Institutionen und Parteien und auch zur Zurückdrängung eines pragmatischen Politikverständnisses und der Popularisierung des politischen Irrationalismus bei, mit dessen Hilfe die Nationalsozialisten nach 1929 ihre Erfolge errangen" (S. 10). Um ihre These fundiert zu begründen, streift sie zunächst sehr knapp ihre beiden Schlüsselbegriffe "Jugend" und "Generation", um dann ebenso knapp die Entstehung des Mythos der jungen Generation um die Jahrhundertwende zu rekonstruieren. Dies geschieht weniger mit Blick auf die bürgerliche Jugendbewegung, Gustav Wyneken und die von ihm inspirierte Jugendkulturbewegung, deren führende Protagonisten überhaupt nicht vorkommen, sondern primär mit eingeschränktem Blick auf die Anhänger der Konservativen Revolution. Arthur Moeller van den Bruck ist hier ihr zentraler Stichwortgeber, an dem sie sich abarbeitet, ohne entsprechende Strömungen in anderen nationalrevolutionären Gruppierungen und im Jungsozialismus zu vernachlässigen. Gleichzeitig arbeitet Stambolis aber auch heraus, dass prominente Protagonisten der Konservativen Revolution, etwa Ernst Günther Gründel mit seinem Buch über die "Sendung der jungen Generation", in der Selbsterziehungspraxis der bündischen Jugend durchaus eine Vorbildfunktion bei der Ausbildung künftiger heroischer Führergestalten sah. Die Frontjahrgänge, schreibt Stambolis, "waren die Generation, in der der Mythos Jugend politisch mobilisiert wurde. Angehörige der 1890er Alterskohorten identifizierten sich mit den Ideen Moeller van den Brucks, verhalfen ihnen nach dem Krieg zu großer Verbreitung. Sie teilten das Bewußtsein des Außenseitertums, der Entwurzelung und Entfremdung von den Traditionen des 19. Jahrhunderts" (S. 197).

Weitere Kapitel behandeln Generationsmodelle und –theorien der zwanziger Jahre, untersuchen den Frontmythos in der fiktionalen Literatur, um dann knappe Einblicke in die Lebenssituation der Nachkriegsjugend zu geben, welche diese – so die Autorin – in eine politische Radikalisierung und zu einer entschiedenen Republikfeindlichkeit gebracht hat. Hier konzentriert sie sich einerseits auf die Zuspitzung des Generationskonfliktes innerhalb der SPD Ende der zwanziger und Anfang der dreißiger Jahre sowie auf die NS-Bewegung als einer jungen Bewegung. In Kapitel 10 rekonstruiert Stambolis dann die zeitgenössischen Einschätzungen des Jugendmythos vor dem Hintergrund der politischen Erfolge der NS-Bewegung. Die beiden letzten Kapitel dieser die jüngere Forschungsliteratur nur peripher, weil vorwiegend in den Fußnoten beachtenden Arbeit bieten den Lesern ein doppeltes Fazit, nämlich einmal den Ertrag der eigenen Studie aus der Sicht der Doktorandin zusammenfassend und zum anderen geschrieben in der langjährigen Distanz zum eigenen Text. Dabei rückt sie noch einmal die vielschichtigen Aspekte des Mythos Jugend in den Zusammenhang mit den politischen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten der Weimarer Republik, betont den klassenübergreifenden Charakter dieses "generation game" (Stambolis) mit seinen extremen Sozialisationsbedingungen und den längerfristigen gesellschaftlichen Umbrüchen mit einer ausgeprägten Mythen- und Heilsempfänglichkeit, welche letztendlich zu einer von Generationsdenken bestimmten Krisendeutung geführt hat. Und diese hat einen Namen: Vaterlosigkeit. Dieser von Peter Suhrkamp in die damaligen Debatten eingebrachte Begriff, so Stambolis, steht als Metapher für den Autoritätsverlust der älteren Generation und er steht für die damalige Orientierungslosigkeit weiter Teile der jüngeren Generation, die nicht selten ihre messianischen Erwartungshaltungen auf Hitler projizierten.

In ihrem Nachtrag betont Stambolis selbstkritisch, dass angesichts des gegenwärtigen Forschungsstandes manche Passagen ihres Buches analytisch klarer formuliert werden müssten. Dem ist nichts hinzuzufügen außer der Einschätzung des Rezensenten, dass es sich noch immer – trotz mancher Engführung und Einseitigkeit – um ein lesenswertes Buch handelt.
Peter Dudek (Frankfurt/M)
Zur Zitierweise der Rezension:
Peter Dudek: Rezension von: Stambolis, Barbara: Mythos Jugend. Leitbild und Krisensymptom, Ein Aspekt der politischen Kultur im 20. Jahrhundert, Bad Schwalbach/Ts: Wochenschau-Verlag 2003. In: EWR 2 (2003), Nr. 5 (Veröffentlicht am 01.10.2003), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/87920191.html