EWR 1 (2002), Nr. 2 (April/Mai 2002)

Martha Friedenthal-Haase (Hrsg.)
Erwachsenenbildung im 20. Jahrhundert — was war wesentlich?
Beiträge zu einer Ringvorlesung an der Friedrich-Schiller-Universität Jena
MĂĽnchen/Mehring: Hampp 2001
(310 Seiten; ISBN 3-87988-530-3; 24,80 EUR)
Erwachsenenbildung im 20. Jahrhundert — was war wesentlich? Eine kritische Bilanz der Erwachsenenbildung des 20. Jahrhunderts vorzulegen, ist die nicht unbescheidene Ankündigung, die dem Leser im Titel und in der Vorbemerkung der Herausgeberin versprochen wird. Es geht vorwiegend um die Erwachsenenbildung aus einer Fachperspektive. Weniger die steigenden Teilnehmerzahlen an Volkshochschulkursen, noch der Anstieg betrieblicher Weiterbildungsaktivitäten, noch die gewachsene Bedeutung der Erwachsenenbildung in der nationalen, internationalen oder supranationalen (bildungs-)politischen bzw. ökonomisch ausgerichteten Diskussion sind ihr oder einem der Beiträger weiterer Erörterung wert. Solcherlei Kenntnis wird stillschweigend vorausgesetzt. Stattdessen geht es um die Befindlichkeit der deutschen Erwachsenenbildung aus der Perspektive ihrer universitärer Fachvertreter.

Aus diesem Rahmen fällt ein Beitrag der das europäische Integrationsproblem und die Erwachsenenbildung in Slowenien thematisiert und ein dokumentarischer Anhang, der sich der Thüringer Erwachsenenbildung widmet und in welchem Forumsgäste aus der regionalen Politik und Wirtschaft wie auch Weiterbildungseinrichtungen ihre Sicht der Dinge kundtun. Überraschender Weise findet sich, als grenzüberschreitender Dialog etikettiert, auch ein Beitrag der emeritierten britischen Erwachsenbildungsforscherin Lalage Bown zur Lage der Erwachsenenbildung in den Entwicklungsländern.

All dies wird durch bilanzierende Bemerkungen der Herausgeberin abgerundet, in welchen sie Konsens und Dissens, Argumentationsmuster, wie auch offene Fragen erörtert. Bereits diese Komposition verdeutlicht, dass die Veröffentlichung vielerlei Ansprüchen oder auch Zwängen genügen wollte, nämlich über einen längeren Zeitraum im Rahmen einer Ringvorlesung stattgefunden Vorträge und Diskussionsbeiträge in Buchform zu publizieren. Warum nur wurden die bilanzierenden "Bemerkungen" der Herausgeberin lediglich auf den regionalen Teil bezogen und in den Anhang verbannt? Wäre es für eine solch anspruchsvolle Thematik nicht geboten gewesen, auch die Sichtweisen der deutschen erziehungswissenschaftlichen Vertreter zu bündeln und in Hinsicht auf die angekündigte Frage des "wesentlichen" als Bilanz zu erörtern?

Belassen wir es bei diesen nicht ohne weiteres nachvollziehbaren Editionsentscheidungen und widmen wir uns nun dem als "Hauptteil" bezeichneten und umfangreichsten Bestandteil der Veröffentlichung! In diesem sind einige der Protagonisten der ersten Stunde der deutschen Erwachsenenbildung, Hans Tietgens, Franz Pöggeler, Horst Siebert und Günther Dohmen vertreten, darüber hinaus kommen auch "mittlere" (Werner Lenz, Wiltrud Giesecke, Rainer Brödel) und jüngere Jahrgänge (Wolfgang Seitter und Klaus Götz) zu Wort.

Bereits diese Auswahl ergibt eine eingeschränkte Optik, wenn lediglich aus fachinterner Sicht von den Akteuren selbst eine Bilanz eingefordert wird. Obwohl die Herausgeberin darauf verweist, dass es darum ginge, was die Fachvertreter als bewahrenswert und als geistigen Bestand ansehen, besteht bei einer solchen Herangehensweise stets die Gefahr einer Selbstüberhöhung, sowohl im Hinblick auf das Fach, wie auch bezogen auf die eigene Rolle. Ein fachexterner Blick und ein den Stand der Theorie und Erwachsenenbildungsforschung international vergleichender Beitrag wäre hierbei wohl dem Anspruch des Titels gerechter geworden, als der Zuschnitt und die Art der Beiträge, die den Eindruck einer zufälligen Auswahl vermitteln. So finden sich Themen wie Edutainment, Gender, das Verhältnis von Allgemeinbildung und beruflicher Bildung thematisiert als Liebe auf den zweiten Blick, "Menschenbildner unterwegs": alles Fragestellungen die inhaltlich und vom Zeithorizont zu eng argumentieren. Ausserdem fühlen sich einzelne Fachvertreter eher der assoziativen Narration, Bonmots und teilweise auch der Kolportage zugeneigt. Etwas gar flüchtig, hurtig und wenig kenntnisreich wird der Zustand des Faches in der Regel behandelt, obwohl im Beitrag von Brödel interessante Details oder bei Seitter eine bedenkenswerte Periodisierung vorgenommen wird.

Am informativstem im Hinblick auf eine Bilanzierung sind nun tatsächlich die Vertreter der ersten Generation im Buch. So verteidigt Siebert den Konstruktivismus bzw. seine konstruktivistische Wende, indem er auf seine Kritiker unter den Erwachsenenbildnern eingeht. Oder Pöggeler: er zeichnet die Konjunkturen der erwachsenenbildnerischen Thematisierungen und Selbstthematisierungen am Beispiel der Demokratisierungsidee nach, indem er auch auf das nicht immer spannungsfreie Verhältnis zur geisteswissenschaftlichen Pädagogik bzw. zu den Erziehungswissenschaften in den Nachkriegsjahren eingeht. Am aufschlussreichsten bezogen auf den Stand der Erwachsenenbildung im 20. Jahrhundert ist wohl Tietgens’ Beitrag, der den 1921 von Leopold von Wiese herausgegebenen Sammelband "Soziologie der Volksbildung" aus heutiger Sicht kommentiert und vor allem dessen Nicht-Rezeption moniert. Da der empirisch-nüchterne Zugriff von Wiese den damaligen Opinion-Leaders (Erdberg u.a.) nicht in den Kram passte, wurde das Werk einfach ignoriert, bzw. wie Tietgens schreibt, skandalöser Weise totgeschwiegen.

Inwiefern eine solch restriktive, selbstbezügliche und einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung völlig abträgliche Attitüde auch die heutige Diskurslage der Erwachsenenbildung prägt, wäre als Frage für eine Bilanz doch eine Diskussion Wert gewesen. Der vorliegende Band ist jedenfalls kaum geeignet, kritische und selbstkritische Diskussionen auszulösen.
Philipp Gonon (Trier)
Zur Zitierweise der Rezension:
Philipp Gonon: Rezension von: Friedenthal-Haase, Martha (Hg.): Erwachsenenbildung im 20. Jahrhundert — was war wesentlich?, Beiträge zu einer Ringvorlesung an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, MĂĽnchen/Mehring: Hampp 2001. In: EWR 1 (2002), Nr. 2 (Veröffentlicht am 00.04.2002), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/87988530.html