EWR 1 (2002), Nr. 1 (Januar bis März 2002)

Peter Drewek/Anke Huschner/René Ejury (Hrsg.)
Politische Transformation und Eigendynamik des Schulsystems im 20. Jahrhundert
Regionale Schulentwicklung in Berlin und Brandenburg 1890-1990
Weinheim: Deutscher Studien Verlag 2001
(304 Seiten; ISBN 3-89271-931-4; 32,00 EUR)
In wenigen Jahren wird die Historische Bildungsforschung die Tiefenstruktur des Bildungswachstums der deutschen Gesellschaft aufgehellt haben. Die quantitativ orientierte Historische Bildungsforschung hat inzwischen zuverlässige methodische Ansätze entwickelt, um sich Stück für Stück bis zu lohnenswerten Ergebnissen durcharbeiten zu können. In diesem Kontext ist der Sammelband mit 11 Beiträgen zu sehen.

Tosch (Entwicklungsmuster des höheren Knabenschulwesens 1890-37), Herrmann (Bedeutung der Reformanstalten 1890-1932), Huschner (die mittleren und höheren Schulen Ost-Berlins 1948-1958), Hampel (Strukturwandel des brandenburgischen Schulwesens 1945-1989) und Köhler (Realisierung der achtjährigen Grundschule) präsentieren Forschungsergebnisse zur langfristigen Wechselbeziehung zwischen der Eigendynamik des Schulsystems von 1890 bis 1989 und der wechselvollen politischen Umwelt. Müller-Hartmann zeigt in einem instruktiven Beitrag an Hand der Volkszählung von 1981, dass das Beharrungsvermögen historisch gewachsener Bildungsdisparitäten auch in 40 Jahren DDR durch staatliche Steuerung nicht aufgehoben werden konnte. Kuhn beleuchtet die Bildungspolitik und Bildungsplanung im Land Brandenburg seit 1990. Drewek als Leiter eines DFG-Projekts zur Regionalanalyse, von deren Arbeiten her der Band konzipiert wurde, leitet den Band mit einer komprimierten Darstellung der Ergebnisse ein. Die Forschungsergebnisse werden von Experten (Zymek, Harney, Tenorth) kommentiert bzw. in einen größeren Zusammenhang eingeordnet - ein überzeugendes Konzept für die Präsentation von Forschung.

Lässt man sich von den politischen Ideologien nicht beeindrucken und prüft wie die Forschungsgruppe die Verhältnisse, dann werden in der Tiefenstruktur des Bildungswesens im westdeutschen und ostdeutschen Teilstaat überraschende historische Kontinuitäten, strukturelle Gemeinsamkeiten und wichtige Unterschiede sichtbar. Die Verhältnisse im Schulwesen sind politisch besonders vernebelt, weil nach den Zäsuren im 20. Jahrhundert jede neue Regierung eine Abkehr vom "Geist" der Vorgänger behauptete. Die Forschungsgruppe untersuchte über die Umbrüche hinweg die institutionelle Seite von Bildungsprozessen.

Mit Recht betont Zymek den in der Zwischenkriegszeit durch Weltwirtschaftskrise, NS-Diktatur, Krieg und Nachkriegselend auf allen Ebenen des Bildungssystems aufgestauten Nachholbedarf. Er wirkte im Westen wie im Osten als untergründige Erbschaft. Alle Daten, das bestätigen auch andere Langzeit-Forschungen, weisen auf eine beträchtliche Öffnungsdynamik in den 1920er Jahren hin. In der Historischen Bildungsforschung stellt sich deshalb die Frage nach dem Stellenwert der Bundesrepublik und der DDR im Kontext der europäischen Modernisierungspfade. Die "Funktion der Elitenreproduktion durch das Bildungssystem" (Drewek) war auch in der DDR nicht außer Kraft gesetzt. Ähnlich wie nach 1918 wurde in der frühen DDR die Bildungsbeteiligung in den unteren Schichten kräftig mobilisiert ("Öffnungsdynamik"). Deren gesellschaftsverändernde Konsequenzen liefen allerdings nach der Anfangsmobilisierung nicht weiter. Das bekannte langfristige Muster von Expansion und Differenzierung zeigt sich also auch im Kontext der politischen Umbrüche im 20. Jahrhundert in Form von Bildungsmobilisierung und rückgehender Beteiligung an weiterführenden Bildungsgängen. Der Bildungsbedarf im sozialistischen Teilstaat, nach der Befreiung vom Nationalsozialismus so etwas wie ein Gegenmodell, war seit den 1970er Jahren nicht an der sozialen Nachfrage, sondern in geradezu umgekehrter Weise eng an ökonomischen Bedarfskriterien ausgerichtet. "Die DDR war damit das einzige Industrieland, das in den 1970er Jahren die Bildungsoffensive der 1950er und 1960er Jahre zurücknahm" (Müller-Hartmann, S. 227). Die Kontraktionsphasen des Schulsystems bestätigen bisher eher politische Erklärungen, nach denen die Elitenrekrutierung in der DDR auf einer schmalen Ausgangsbasis betrieben wurde. Nach den erweiterten Chancen für die "Aufbaugeneration" bewirkte die drastische Beschränkung der Zulassung zum Abitur nach 1972 eine politische Auskühlung der Generationen, die nach 1960 geboren wurden.

Wie Tenorth mit Recht einwendet, sind an Drewek zwei Rückfragen zu stellen. Wird die Systemkonstruktion der DDR-Wirklichkeit hinreichend gerecht? Nach dem Selbstverständnis der DDR gab es keine "höhere" Bildung und die Berufsausbildung wurde nicht vom allgemeinbildenden Schulwesen getrennt. Die bei der Analyse vorausgesetzten Kategorien ("allgemeinbildendes Schulwesen", "höheres Schulwesen") sind deshalb kritisch zu sehen. Zweitens stellt sich die Frage, ob die verfügbaren Daten eine Überprüfung der von Bourdieu inspirierten Thesen zur Bildungsbeteiligung gestatten. Drewek und seine Mitarbeiter seien zwar mit allen listigen Deutungen Bourdieus vertraut, die "höchst schwierigen Berechnungen" deuten aber auch an, dass sie nicht über die nötigen Daten verfügen, um solche Thesen auch "angemessen prüfen zu können".

Die DDR wurde nicht zuletzt auch durch ihre am vermeintlichen Bedarf orientierte kurzsichtige Bildungspolitik seit den 1970er Jahren immer weiter abgehängt. Das Bildungswachstum setzte sich in der BRD weiter fort, holte dynamisch den aufgestauten Bedarf nach und gewann Anschluss an internationale Entwicklungstendenzen. Vor dem Hintergrund der dynamisierten Sozial- und Berufsstrukturen wurden die Auslesemechanismen in den europäischen Bildungssystemen horizontal neu strukturiert, während die Expansion in Deutschland vielfach noch traditionsbefangen ("Niveauverlust") und nicht als normale Erscheinung thematisiert wird (Zymek). Aufschlussreich ist der Beitrag von Köhler zur Reform des Landschulwesens. Zwischen 1926 und 1939 gab es hinsichtlich des Stadt-Land-Gefälles bei den Volksschulen im Deutschen Reich kaum Veränderungen. Im Westen setzte die äußere Schulreform hier rund zehn Jahre später ein als in der DDR, verlief aber strukturell ähnlich. In der Bundesrepublik folgte die Reform eher den gesellschaftlichen Veränderungen, während dieser Prozess in der DDR eher umgekehrt war. Auch der vergleichende Blick auf die Berufsbildung führt zu interessanten Einsichten. "Hinter der ständig gegenwärtigen Appellpraxis verbarg sich der Verlust an institutionellen Steuerungsmöglichkeiten und ihr gleichzeitiger Ersatz durch eine an die Person gerichtete Moralisierung des öffentlichen Raums" (Harney).

Die Historische Bildungsforschung darf sich selbstverständlich nicht in der Inventarisierung von Systemgeschichten erschöpfen. Die aus der Lektüre des lohnenden Forschungsberichts resultierenden Fragen deuten insofern letztlich an, "daß Bildungsgeschichte einen größeren Satz an Fragen und Problemen kennt, als sie mit langen Zeitreihen über Bildungssysteme und Schülerströme erörtert und abgebildet werden" (Tenorth). Aber die quantifizierende Forschung über das Bildungswachstum und die Bildungsteilhabe vermag hier die sicheren Fundamente zu legen, auf denen die qualitativ orientierte Bildungsforschung weiter aufbauen kann.
Hartmut Titze (Lüneburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Hartmut Titze: Rezension von: Drewek, Peter / Huschner, Anke / Ejury, René (Hg.): Politische Transformation und Eigendynamik des Schulsystems im 20. Jahrhundert, Regionale Schulentwicklung in Berlin und Brandenburg 1890-1990, Weinheim: Deutscher Studien Verlag 2001. In: EWR 1 (2002), Nr. 1 (Veröffentlicht am 01.01.2002), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/89271931.html