EWR 1 (2002), Nr. 3 (Juli 2002)

Klaus Peter Horn / Christian Ritzi (Hrsg.)
Klassiker und Außenseiter
Pädagogische Veröffentlichungen des 20. Jahrhunderts
Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren 2001
(224 Seiten; ISBN 3-89676-482-9; 18,50 EUR)
Klassiker und Außenseiter Die beiden Berliner Erziehungswissenschafter Klaus Peter Horn und Christian Ritzi haben eine Umfrage zwischen zwei Buchdeckel gebracht, die nach den "pädagogisch wichtigsten" Büchern des 20. Jahrhunderts fragte. Herausgekommen ist, im Falle der Umfrage, eine Rangliste der am häufigsten genannten Titel und, im Falle des Buches, eine Präsentation der top ten durch zehn Erziehungswissenschaftler: Es schreiben Ingrid Lohmann über Sisyphus oder die Grenzen der Erziehung, Andreas von Prondczynsky über Demokratie und Erziehung, Eva Mattes über Führen oder Wachsenlassen, Margret Kraul über Die pädagogische Bewegung in Deutschland und ihre Theorie, Hans-Georg Herlitz über Begabung und Lernen, Maike Sophia Baader über Das Jahrhundert des Kindes, Jürgen Zimmer über Pädagogik der Unterdrückten, Katharina Rutschky über Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung – Das Beispiel Summerhill, Gernot Barth über Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, und Heidemarie Kemnitz über Ein pädagogisches Poem – Der Weg ins Leben.

Ergänzt wird die Reihe dieser Vorstellungen durch einen kleinen Beitrag von Rüdiger von Bruch zur Eröffnung. Hier ist zu erwähnen, daß Anlage, Durchführung und Ergebnisse der Untersuchung nicht zu einem repräsentativen Ergebnis geführt haben – die Rücklaufquote des Fragebogens, der u.a. an die Mitglieder der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft ging, war zu gering. Weitläufigere Mutmaßungen über "das" Klassiker-Selbstverständnis "der" heutigen Erziehungswissenschaft verbieten sich also. Insofern bedürfte das Büchlein keines weiteren Kommentars als den, der einem selbst immer dann entfährt, wenn man auf Hitlisten die eigenen Favoriten nicht findet und sich statt dessen über den schlechten Geschmack der anderen ärgern muss (und darf) – wenn nicht die Herausgeber ihrem Vorhaben, die zehn am häufigsten genannten Bücher durch Fachkollegen vorstellen zu lassen (was für sich sicherlich ein lesbares Bändchen abgegeben hätte) durch den hintersinnigen, oder sollte man sogar sagen hinterhältigen Titel "Klassiker und Außenseiter" eine höchst produktive Leseanregung mitgegeben hätten.

Das Büchlein erhält durch diese Titelei tatsächlich für den Leser ein Spannungsmoment: Wie wird denn nun die Klassizität dieses oder jenes Buches behauptet oder sein Außenseitertum; geht gar beides zusammen? Wie wird das eine und wie wird das andere begründet? Durch "die Sache selbst", die (noch immer) auch die unsere ist oder sein soll? Durch den Nachweis einer kontinuierlichen oder so und so bestimmten Rezeptions- und Wirkungsgeschichte (oder durch deren skandalöses Ausbleiben)? Wo fängt Rezeptions- und Wirkungsgeschichte an und wie weit geht sie? Beginnt sie auf der Wortebene (bei der Hälfte der Texte handelt es sich immerhin um Übersetzungen.), und gibt es in der Rezeptionsgeschichte die DDR (noch) oder nurmehr die im Nachhinein erweiterte alte Bundesrepublik? Welche methodischen Zugriffe wählen die Autoren für die Analyse "ihrer" Bücher? Spielt das Alter des Textes eine Rolle? Seine Sprache? Und wenn ja, wie verhalten sich Sprache und die mit ihr gemeinte Sache zueinander? – "Klassiker und Außenseiter" gibt Gelegenheit, auf engstem Raum an interessanten Gegenständen anhand von zehn sehr unterschiedlichen Beiträgen all dieses als Leser durchzubuchstabieren.

Die Bandbreite der Zugangsweisen und der Berücksichtigung der eben genannten und weiterer Aspekte ist erstaunlich. Nur wenige Hinweise seien daher mit Blick auf dieses insoweit höchst lesenswerte Büchlein, über das man sich, wie bei Hitparaden üblich, natürlich auch sehr ärgern kann, gegeben: Ingrid Lohmann, die "Sisyphus oder die Grenzen der Erziehung" und den Autor vorstellt, sieht sich veranlasst, zunächst einmal den Generaleinwurf gegen Bernfeld anzuführen, sein Text entginge der für die Wissenschaft eigentlich selbstverständlich erwägenden Tonart wegen ihrer "Leidenschaftlichkeit" (H. E. Tenorth). Wusste sie, als sie dies schrieb, dass der Referent P. Freires, Jürgen Zimmer, in seinem Beitrag eine nachgerade mimetische Begeisterung für den pädagogischen Revolutionär an den Tag legen würde, bei der die üblichen wissenschaftlichen Standards hintenangesetzt bleiben, und die, man traut seinen Augen kaum, den Autor sich zu dessen Hermes stilisieren lässt ("Schönen Gruß von Paulo" – (S. 170))?

Einen anderen Aspekt ergibt die philologische Basis, mittels derer die Referenten ihren Texten zu Leibe rücken. So zeigt Andreas von Prondczynsky, dass alle Übersetzung Interpretation ist, was wir alle, im allgemeinen, natürlich wissen, aber in einem jedem wirklichen Einzelfall bei einer nur übersetzungsabhängigen Lektüre nicht wissen können: Wer "growth" bei Dewey mit "Entwicklung" übersetzt, der findet, so macht von Prondczynsky plausibel, vermutlich das Selbsterhaltungskonzept des Amerikaners befremdlich (wie es beispielweise Kerschensteiner getan hat); aber gerade diese Anti-Teleologie ist die Pointe von "Demokratie und Erziehung".

Eine andere Art von Philologie betreibt die Klassiker-Exegese im Falle von Theodor Litt: Ein jedes Wort gilt! So Eva Mattes zu "Führen oder Wachsenlassen", der ein Zitat von Litt schon als ein Argument zählt, denn Litt hat "nichts an Relevanz eingebüßt" und "genau erkannt...", er ist "auch heute noch" wichtig; deshalb reichen Zitatanhäufungen wie "Litt hierzu:". Und was, wenn jemand Litt nicht zustimmt? Dann "mag er sich mit Litt nicht einlassen" oder kann "damit nichts anfangen" (S. 101).

So wörtlich haben die Herausgeber die inhaltliche Beliebigkeit der auf ihrer Hitparade auftauchenden top ten vermutlich doch nicht verstanden wissen wollen. - Das ließe sich so fortsetzen. Das Buch enthält einige Miniaturen, die allerdings auch unabhängig von solchen Erwägungen sehr lesenswert sind. So Margret Krauls Statement zu Herman Nohl, Meike Sophie Baaders Blick auf Ellen Key oder der mit ironischen und polemischen Seitenhieben nicht sparende Beitrag von Katharina Rutschky über Alexander Neill.

Alles in allem: Lesen!
Alfred Langewand (Flensburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Alfred Langewand: Rezension von: Horn, Klaus Peter / Ritzi, Christian (Hg.): Klassiker und Außenseiter, Pädagogische Veröffentlichungen des 20. Jahrhunderts, Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren 2001. In: EWR 1 (2002), Nr. 3 (Veröffentlicht am 01.07.2002), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/89676482.html