EWR 2 (2003), Nr. 6 (November/Dezember 2003)

Luc Stevens
Denkpause
Ein Arbeitsbuch für Lehrer zum Umgang mit Schülern beim Lehren und Lernen
Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren 2002
(72 Seiten; ISBN 3-89676-622-8; 9,80 EUR)
Der niederländische Hochschullehrer Luc Stevens aus Utrecht präsentiert in 12 knappen Kapiteln ein lesefreundliches und praxisorientiertes Arbeitsbuch, in dem es ihm nicht primär um die Auflistung von umrissenen Wissensbeständen und Herangehensweisen für die pädagogische Praxis geht. Vielmehr soll sich die Leserin/der Leser durch die Lektüre für sich selbst oder gemeinsam mit anderen neue Möglichkeiten des Nachdenkens über Pädagogisches erarbeiten. Ausgangspunkt für ein solches "Überdenken und Handeln" ("Overdenken en doen") der eigenen Einstellungen und Herangehensweisen ist das bildungspolitische Ziel, die Zahl der Überweisungen von Kindern mit Lern- und Verhaltensschwierigkeiten auf Sonderschulen zu reduzieren. Das mit diesem Ziel seit 1994 in den Niederlanden gesetzlich verankerte Programm "Wieder zusammen zur Schule" ("Weer Samen Naar School – WSNS") umfasst unter anderem auch die Kompetenzerweiterung von Pädagoginnen und Pädagogen im Umgang mit Schülern, die Lern- und Verhaltensschwierigkeiten haben.

Die Entwicklung solcher Kompetenzen nimmt der hier zu besprechende Band in den Blick, indem das Konzept eines "adaptiven Unterrichts" entwickelt wird, in dem alle Schülerinnen und Schüler mit ihren unterschiedlichen Fähigkeiten und Begabungen angenommen werden. Der von Stevens vorgeschlagene "adaptive Unterricht" erkennt stabile Unterschiede zwischen Schülerinnen und Schülern an und berücksichtigt die in einer Lerngruppe vorhandenen heterogenen Entwicklungsvoraussetzungen und –Möglichkeiten. Da die Schwierigkeit der Berücksichtigung von Heterogenität in Schulklassen ebenso wenig ein Problem allein des niederländischen Schulsystems ist wie die steigende Zahl der Überweisungen auf die Sonderschulen für Lernbehinderte und Verhaltensauffällige, ist die im hier zu besprechenden Band empfohlene "Denkpause" auch für die Diskussion um Bildung, Schule und Unterricht in Deutschland relevant. Insbesondere im gemeinsamen Unterricht von Kindern und Jugendlichen mit und ohne Behinderungen sowie im Rahmen der inzwischen in vielen Bundesländern etablierten Veränderten Schuleingangsphase werden Lehrerinnen und Lehrer mit Situationen konfrontiert, in denen sie kompetent auf heterogene Lernbedürfnisse eingehen müssen.

Das Konzept das "adaptiven Unterrichts" basiert auf der Überzeugung, dass die pädagogisch-didaktische Bewältigung von Heterogenität im Unterricht nicht nur die Berücksichtigung der individuellen Unterschiede zwischen Schülern in den Blick nehmen muss, sondern ebenso auch die individuellen Verhaltensmöglichkeiten und Einstellungen auf Seiten der Lehrer. Deshalb schlägt Stevens, gewissermaßen als Form der "Selbstfürsorge", so genannte "Denkpausen" vor, die Lehrenden Zeit für Reflexionen über sich selbst, ihre Arbeit, über Kollegen, die Schule u.a.m. einräumen. Dieser Vorschlag berücksichtigt, dass Lehrerprofessionalität Lehrende voraussetzt, die wissen, womit sie sich beschäftigen, die wissen, was sie wollen und was sie können - und welche Hilfe von außen sie gegebenenfalls benötigen (vgl. 10).

Für die Initiierung dieser "Denkpausen" bietet Stevens zahlreiche diskussionsanregende Statements, klare Fragen und Anforderungen an, die jeweils in einen konkreten Rahmen verschiedener z.B. schul- und unterrichtsbezogener Themenkomplexe eingebettet sind. So wird beispielsweise die Frage thematisiert, welche Meinung Schüler und Lehrer voneinander haben und welchen Einfluss die in dieser Meinungsbildung enthaltenen Erwartungen und Attribuierungen auf Lehren und Lernen haben können. Die von Stevens in diesem Zusammenhang exemplarisch aufgezeigten Impulse verdeutlichen, dass nicht allein die Selbstreflexion, sondern auch die Fähigkeit des sach- und problembezogenen Dialogs mit Kollegen als professionelle Kompetenz anzusehen ist, die durch "Denkpausen" gestärkt werden kann.

Stevens gelingt es darüber hinaus, den Zusammenhang zwischen individuellen Überzeugungen und erfolgreichen Interaktionen aufzuzeigen. Gerade die heterogenen Lern- und Sozialisationsvoraussetzungen der Schülerinnen und Schüler verlangen die differenzierte Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Grundbedürfnissen auf Seiten der Lernenden im Abgleich mit den normativen Erwartungen auf Seiten der Lehrenden. Lehrerinnen und Lehrer werden hier notwendigerweise als Experten für die Gestaltung von Interaktionen aufgefasst, die Beziehungen, Kompetenzen und Autonomie stärken können mit dem Ziel, Unterricht und Lernen für beide Interaktionspartner erfolgreicher und befriedigender realisieren zu können.

Das von Stevens vorgelegte Arbeitsbuch dient somit der Verbesserung der Verhältnisse zwischen Schülern, Lehrern und Schule. Aus erziehungswissenschaftlicher und entwicklungspsychologischer Perspektive widmet es sich mit der Vermeidbarkeit der Sonderschulüberweisungen für lern- und verhaltensschwierige Kinder und Jugendliche einem Überschneidungsbereich zwischen Sonder- und Sozialpädagogik. Die im Arbeitsbuch vorgeschlagenen Reflexions- und Handlungsvorschläge bieten keine klaren Handlungsanweisungen, sondern vielmehr Orientierungen für Lehrerinnen und Lehrer, um die eigenen (alltags-) theoretischen Positionen, das eigene pädagogische Denken und Handeln zu hinterfragen und auch verändern zu können. Empirische Ergebnisse der Schulforschung – wenn auch bereits bekannte – untersetzen argumentativ die Relevanz der erwünschten individuellen Einstellungs- und Erwartungsänderungen der in der pädagogischen Praxis Tätigen. Leider finden sich im Text für den empirisch bzw. theoretisch orientierten Leser keine konkreten Literaturhinweise für das eigenständige Weiterlesen.

Abschließend kann festgehalten werden, dass das Buch hält, was es verspricht: Eine Gelegenheit zum Innehalten und zum Nachdenken über das pädagogische Alltagsgeschäft in heterogenen Lerngruppen, das das Nachdenken der Lehrerin/des Lehrers über sich selbst einschließt. Der hier vorgestellte Band, der zugleich der erste Band der Reihe "Sozialpädagogik und Schulreform" ist, kann nicht nur Lehramtsstudierenden sowie Lehrer/innen an Grund-, Sonder- und Regelschulen empfohlen werden, sondern auch Sozialpädagogen, die sich für zieldifferentes Lernen in heterogenen Gruppen interessieren.
Simone Börner (Erfurt)
Zur Zitierweise der Rezension:
Simone Börner: Rezension von: Stevens, Luc: Denkpause, Ein Arbeitsbuch für Lehrer zum Umgang mit Schülern beim Lehren und Lernen, Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren 2002. In: EWR 2 (2003), Nr. 6 (Veröffentlicht am 01.12.2003), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/89676622.html