EWR 4 (2005), Nr. 1 (Januar/Februar 2005)

Klaus Zierer
Grundschule als pÀdagogischer gestalteter Lebensraum
Am Beispiel: Außenanlagen
Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren 2003
(294 Seiten; ISBN 3-89676-742-9; 25,00 )
Grundschule als pĂ€dagogischer gestalteter Lebensraum Laut Vorwort des Verfassers waren es zwei Interessen, die ihn zur Auseinandersetzung mit dem Thema "PĂ€dagogisch gestalteter Raum" veranlasst haben, zum einen die missliche Situation, die bei der Besichtigung zahlreicher Schulhöfe vorgefunden wurde und zum anderen die Vorliebe fĂŒr philosophische Fragestellungen. Als Ergebnis des praxisorientierteren Teils seiner Arbeit verspricht der Autor, einen "Leitfaden zur Um- beziehungsweise Neugestaltung der Außenanlagen einer Grundschule" (15) anzubieten. Erwartet der Leser daraufhin eine Darstellung der verbesserungsbedĂŒrftigen Ist-Situation, eine Analyse der GrĂŒnde fĂŒr zugrundeliegende Fehlplanungen, konkrete LösungsvorschlĂ€ge oder allgemeine Planungshilfen, so wird er allerdings enttĂ€uscht. Das Interesse fĂŒr philosophische Fragestellungen dominiert die Arbeit eindeutig. Darum bleibt die im Untertitel angekĂŒndigte BeschĂ€ftigung mit "Außenanlagen", was allein schon eine stĂ€rkere Konkretisierung nahe legen wĂŒrde, eher der abstrakten Ebene verhaftet.

ZunĂ€chst wird weit ausholend die existentielle Grunddimension "Mensch und Raum" dargestellt, wobei die gleichlautende Bezeichnung fĂŒr den ersten inhaltlichen Gliederungspunkt der Arbeit auch die enge inhaltliche Anlehnung an das gleichnamige Werk Otto Friedrich Bollnows widerspiegelt. Wie in einem Rahmen rekurriert der Verfasser zum Schluss wieder auf Bollnow und sein Anliegen der Geborgenheit als raumĂŒbergreifenden Gesichtspunkt. Der Verfasser beeindruckt dabei durch breite Literaturkenntnis, ordnet und gliedert in der Ă€ußeren Form auffallend kleinschrittig, bemĂŒht sich aber mithilfe von Zusammenfassungen an den Kapitelenden um inhaltliche Klarheit. In weiten Teilen referiert er den Forschungsstand, setzt aber durchaus eigene Schwerpunkte. So betont er z.B. in besonderem Maße die Bedeutung von "Heimat" gerade fĂŒr das heutige Schulkind in seiner verĂ€nderten Lebenswelt. Statt des in der philosophischen Literatur gebrĂ€uchlichen Ausdrucks "erlebter Raum" bevorzugt er – wie schon im Titel - den Terminus "Lebensraum", wodurch eine Abgrenzung zum instrumentalisierten, politisch missbrauchten Begriff nötig wird. Insgesamt kennzeichnet die wissenschaftlich fundierte Arbeit eine erfreuliche Klarheit der Begriffe in ihrem fĂŒr das Thema spezifischen Bedeutungsumfang. So werden pĂ€dagogische Grundbegriffe wie "Erfahrung", "Handeln", "Erziehung", "Unterricht" und "Bildung" u.a. jeweils etymologisch hergeleitet und literaturgestĂŒtzt umschrieben. Orientiert an den Habermas`schen Typen des Handelns wird pĂ€dagogischer Lebensraum so als Erfahrungs-, Handlungs- und sozialer Raum nĂ€her bestimmt, in dem Unterricht und Erziehung miteinander verschmelzen. Auch fĂŒr die ĂŒbrigen Termini kommt der Verfasser nach seinen Explikationen zu dem Ergebnis, dass die Begriffe letztlich nicht voneinander zu trennen sind, sondern sich gegenseitig bedingend korrespondieren.

Mit seinem Bekenntnis zum konstruktivistischen VerstĂ€ndnis von Lehren und Lernen bezieht der Verfasser eindeutig Position. Ebenso deutlich wird das zugrundeliegende Menschenbild als christlich-abendlĂ€ndisch apostrophiert. In philosophisch-anthropologischer Tradition ist danach der Mensch als Leib-Seele-Geist-Einheit zu verstehen, gekennzeichnet durch Selbstbestimmung, ReflexivitĂ€t, Freiheit, InterpersonalitĂ€t und Sinnverwiesenheit. Hier hĂ€tte gerade im Hinblick auf die fĂŒr das Grundschulkind so wichtige Leiblichkeit die Habilitationsschrift von Klaudia Schultheis [1] wertvolle ErgĂ€nzungen liefern können.

Die Studie zur Grundschule als pĂ€dagogisch gestaltetem Lebensraum von Klaus Zierer wurde als Dissertation angenommen und weist einige fĂŒr Qualifkationsschriften typische Merkmale auf. Viele Fußnoten (dankenswerterweise auf der betreffenden Seite selbst) belegen die verwendeten SekundĂ€rzitate aus der einschlĂ€gigen Fachliteratur. Immer wieder wird der Anspruch auf VollstĂ€ndigkeit fĂŒr das Behauptete relativiert und viele Aussagen werden durch "meines Erachtens" subjektiv eingeschrĂ€nkt. Im Fließtext hĂ€ufen sich PrimĂ€rzitate, wobei offensichtliche "LieblingssĂ€tze" bis zu drei mal an verschiedenen Stellen wörtlich zitiert sind (EugĂšne Minkowski: "Das Problem der Zeit und des Raumes ist das Hauptproblem der Psychologie, der Philosophie und, ich möchte fast sagen, der ganzen gegenwĂ€rtigen Kultur. Da es in unserer Existenz tiefe Konflikte erzeugt, muß (!) sich jeder von uns mit ihnen auseinandersetzen" oder Martin Buber: "Der Mensch wird am Du zum Ich."). Kernaussagen wie "wesensgemĂ€ĂŸe und seinsgerechte Bildungshilfe" werden besonders in der zweiten HĂ€lfte der Arbeit auffallend hĂ€ufig und nachdrĂŒcklich wiederholt. Irritierend sind die mannigfachen, manchmal rĂ€tselhaften Ausrufezeichen in Klammern innerhalb von Zitaten, die möglicherweise die Unterschiede zwischen neuer und alter Rechtschreibung kennzeichnen sollen. Daneben blieben etliche Tippfehler unkorrigiert.

Erst nach ungefĂ€hr der HĂ€lfte des gesamten Textumfangs ist der Verfasser mit seinem verdienstvollen BemĂŒhen, den "Begriffswirrwarr" in der PĂ€dagogik zu klĂ€ren, zufrieden und beschĂ€ftigt sich konkreter mit der Rolle des Raums. Hier skizziert er allerdings wieder auf theoretischer Ebene ein Raumprogramm, das der Erziehung im weiten VerstĂ€ndnis des Verfassers dienen soll, nĂ€mlich Lebenshilfe von Mensch zu Mensch mit dem Ziel der Bildung zu ermöglichen. Als Forderung und Ergebnis der Untersuchung ist dafĂŒr ein halboffener Charakter des Raums nötig, der die spezifisch kindliche Raumerfahrung berĂŒcksichtigt, ein AnknĂŒpfen an die Lebensgeschichte des Kindes ermöglicht, es als Leib-Seele-Geist-Einheit annimmt, kognitive und instrumentelle Kompetenzen fördert und gleichzeitig Wertungen und Haltungen grundlegt, dabei den Stimmungscharakter nicht außer Acht lĂ€sst und so zwischen Vertrautem und Fremdem vermittelnd Geborgenheit erleben lĂ€sst.

Mit Hilfe einer Auswahl menschlicher GrundbedĂŒrfnisse, die gleichzeitig Grundkategorien menschlicher Bildung darstellen, nĂ€mlich Erholung, Bewegung, Spiel und Arbeit, gelingt es dem Verfasser, deutlich strukturierend die Bedeutung des Raums fĂŒr die vita activa und die vita contemplativa in der Schule nachzuweisen. Zu den einzelnen Gebieten wĂ€hlt er aus dem weiten Feld der Literatur auch aus den verschiedenen Bezugswissenschaften passende Belege aus.

Abgesehen vom Schulgarten der Arbeitsschule Kerschensteiners ist die historische Perspektive kindgemĂ€ĂŸer Schulraumgestaltung jedoch vernachlĂ€ssigt. Dabei wurde zur Zeit der ReformpĂ€dagogik bekanntlich auch die VerĂ€nderung des Schulhofs in Lage, Aufteilung und Ausstattung als Teil der Gesamtanlage ein Charakteristikum fĂŒr den Wandel des pĂ€dagogischen Konzepts. Schon damals wurde der Schulhof in Zusammenhang mit der Architektur des SchulgebĂ€udes in der zeitgenössischen Literatur ausfĂŒhrlich besprochen. Anstelle von vielen Beispielen sei lediglich ausgefĂŒhrt, dass die neuen Winkelformen der GebĂ€ude, die einen geschĂŒtzten Innenhof fĂŒr die Pausenzeit erzeugen sollten, diskutiert wurden, aber auch Fragen des Lichteinfalls, der GebĂ€udehöhe oder der BegrĂŒnung [2]. Unter dem Einfluss der Kunsterziehungsbewegung mit ihrem moralischen Anspruch der Versittlichung der Gesellschaft gewann schließlich der Ă€sthetische Aspekt in der AusfĂŒhrung der baulichen Maßnahmen bisher ungekannte Bedeutung. Ein Rekurs auf die Geschichte der PĂ€dagogik hĂ€tte einige dieser Gesichtspunkte, die auch Gegenstand philosophischer Betrachtungen waren, fĂŒr die gegenwĂ€rtige Diskussion fruchtbar machen können. In der vom Verfasser geforderten ganzheitlichen Sichtweise des Kindes hĂ€tte es zudem nahegelegen, auch den Ă€sthetischen Bedeutungsgehalt der Schulanlage stĂ€rker zu thematisieren.

Doch Zierer verzichtet darauf genau so wie er die architektonische Gesamtanlage der Grundschule als pĂ€dagogisch gestalteten Lebensraum außer Acht lĂ€sst und auch das weitere Umfeld der Schulen nicht in den Blick nimmt. Das hĂ€tte freilich erwartet werden dĂŒrfen, wenn die naturnahe Gestaltung der FreiflĂ€chen (die schon ein Ziel reformpĂ€dagogischer Schularchitektur war) ein Endpunkt der modernen BemĂŒhungen um die pĂ€dagogische Gestaltung der Außenanlagen einer Grundschule sein soll.

Erstaunlicherweise kommt das Buch ohne jedes Bildmaterial aus. Gerade Fotos, Zeichnungen oder PlĂ€ne von gelungenen oder auch negativen Beispielen hĂ€tten der Veranschaulichung der weitgehend abstrakten VorschlĂ€ge und Forderungen dienen können und manche verbale Explikation ĂŒberflĂŒssig gemacht. Selbst wenn die pĂ€dagogische Hermeneutik als wissenschaftliche Methode gewĂ€hlt wurde und auf empirische Folgeuntersuchungen verwiesen wird, hĂ€tten wohl schon kleine Anleihen an die Empirie das Anliegen der Studie unterstĂŒtzt, zumal nach ausdrĂŒcklicher Intention des Verfassers möglichst rasch positive VerĂ€nderungen in der praktischen Schulhofgestaltung eingeleitet werden sollen. Dazu mĂŒssten Praktiker wie z.B. Architekten vom Anliegen des Buches ĂŒberzeugt und angeregt werden, bestehende VerhĂ€ltnisse zu verbessern.

Wer mit weniger praktischem Interesse zu diesem Buch greift, wird es freilich mit Gewinn lesen. Denn - von genannten WĂŒnschen und sicher auch Defiziten abgesehen - trĂ€gt das Buch unzweifelhaft dazu bei, die pĂ€dagogische Gestaltung des Schulraums wie der Außenanlagen von Schule in ihrer Bedeutung erkennbar zu machen.



[1] Klaudia Schultheis: Leiblichkeit - Kultur- Erziehung. Zur Theorie der elementaren Erziehung. Weinheim 1998.
[2] Vgl. beispielsweise Lindemann, Fedor: Das kĂŒnstlerisch gestaltete Schulhaus. Leipzig 1903 oder Hilsdorf, Theodor: Das moderne Schulhaus. Leipzig und Berlin 1913 oder die einschlĂ€gigen Artikel in der Zeitschrift "Das Schulhaus" 1899-1930.
Andrea Richter (Augsburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Andrea Richter: Rezension von: Zierer, Klaus: Grundschule als pĂ€dagogischer gestalteter Lebensraum, Am Beispiel: Außenanlagen, Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren 2003. In: EWR 4 (2005), Nr. 1 (Veröffentlicht am 31.01.2005), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/89676742.html