EWR 5 (2006), Nr. 2 (März/April 2006)

Michael J. Kater
Hitler-Jugend
Darmstadt: Primus 2005
(288 S.; ISBN 3-89678-252-5; 29,90 EUR)
Hitler-Jugend Laut Klappentext möchte der international renommierte Historiker Michael J. Kater mit dem hier zu rezensierenden, von Jürgen Peter Krause aus dem Englischen übersetzten Buch einen „neuen und fundierten Überblick“ zur „Hitler-Jugend“ und zur „Jugend unter Hitler“ vorlegen. Dabei sollen die Ziele der Hitler-Jugend, ihre Organisationsstrukturen, die dort stattfindende Indoktrination, die Rolle der HJ im Krieg und auch die Situation von Jugendlichen im aktiven wie passiven Widerstand berücksichtigt werden.

Diesen Anforderungen versucht Kater in sechs Kapiteln zu entsprechen, die durch ein Abkürzungsverzeichnis, ausführliche (aber nicht alphabetisch sortierte) Quellenangaben sowie ein Personenregister ergänzt werden. Ein die Orientierung erleichterndes Sachregister ist allerdings leider nicht vorhanden.

Im einleitenden Kapitel, das mit dem provokant klingenden und den jugendlichen Zeitgeist wiedergebenden Slogan „Macht Platz, Ihr Alten!“ überschrieben ist, skizziert Kater die Wurzeln der HJ in den politisch wie wirtschaftlich unruhigen Jahren der Weimarer Republik und versucht mittels biographischer Beispiele den Reiz der nationalsozialistischen Jugendorganisation für Mädchen wie Jungen zu erklären.

Das zweite Kapitel berichtet über den von den männlichen Kindern und Jugendlichen zu verrichtenden Dienst in der Hitler-Jugend. In drei Unterkapiteln werden – gestützt auf die Darstellung von Einzelfällen – die gegenüber anderen Jugendorganisationen, der Familie und der Schule bestehenden Gleichschaltungsbemühungen der HJ, die auf Autoritarismus, Militarismus und Imperialismus abzielenden paramilitärischen Übungen und Dienste sowie die im Hinblick auf Schulung, Disziplin und Führung innerhalb der nationalsozialistischen Jugendorganisation bestehenden Schwierigkeiten behandelt.

Der Bedeutung der Mädchen und Frauen für die NS-Politik widmet sich - wiederum unter Berücksichtigung von Lebenserinnerungen - das dritte Kapitel. Anknüpfend an die im vorangehenden Kapitel vermittelten Kenntnisse über die Verhältnisse im männlichen Teil der HJ werden zunächst im Unterkapitel „Der Bund Deutscher Mädel im Frieden“ neben den geschlechtstypischen nationalsozialistischen Rollenbildern die Beteiligung der Frauen am Aufstieg der NSDAP, das stark auf Gemeinschaftsgefühle und Ästhetik setzende Freizeitangebot des BDM und die beispielsweise innerhalb des Pflichtjahres erfolgende Vorbereitung auf das Dasein als Hausfrau und Mutter thematisiert. Nachfolgend werden spezielle Herausforderungen beschrieben, denen sich die Mädchen und jungen Frauen während des Zweiten Weltkriegs, z.B. als Helferinnen im Lazarett oder bei der Ansiedlung von „Volksdeutschen“ in den Ostgebieten, gegenübergestellt sahen. Im letzten, mit „Eugenik als Rassenpflege“ betitelten Unterkapitel wird dann nicht nur das Projekt „Glaube und Schönheit“ portraitiert, sondern es wird darüber hinaus basierend auf zahlreichen, für ein Sachbuch teilweise auffallend voyeuristisch anmutenden Beispielen das Bild einer promiskuitiven Jugend gezeichnet.

Anschließend stellt das Kapitel „Dissidenten und Rebellen“ in einem ersten Unterkapitel verschiedene Formen des Dissidententums vor, wobei Kater der ausführlich dargestellten „Weißen Rose“ eine höhere moralische Qualität zuspricht als den Angehörigen der „Blasen“, „Edelweißpiraten“, „Meuten“ und „Swing-Jugend“, für die er statt einer selbst aufopfernden eine eher hedonistische Orientierung annimmt. Die von der sozialen Ächtung bis zur Haft im Jugendschutzlager und KZ reichenden Gegenmaßnahmen des NS-Staates folgen im zweiten Unterkapitel, das plakativ mit „Das Reich schlägt zurück“ überschrieben ist.

Das mit 68 Seiten umfangreichste Kapitel schildert sodann illustriert durch drastische Zeitzeugenberichte die Erfahrungen von „Hitlers Jungen und Mädels an der Front“. Militärhistorisch unterfüttert werden in vier Unterkapiteln parallel zum Niedergang des Dritten Reiches und zum Schicksal von Tätern wie Opfern die abflauende Kriegsbegeisterung der beispielsweise im Reichsarbeits- oder Flakhelferdienst für den totalen Krieg instrumentalisierten Jugend und die Auswirkungen der Kriegserlebnisse auf die Persönlichkeit der betroffenen Jugendlichen nachvollzogen.

Abschließend beschäftigt Kater die Frage nach der Verantwortung der Jugend, die von ihm bereits im Einleitungskapitel aufgeworfen wird und sich als „roter Faden“ durch den gesamten Text zieht. Er geht auf Konzepte der Besatzungsmächte zur Resozialisierung der Jugendlichen ein und befasst sich mit dem von Schelsky beobachteten „krassen Egoismus“ (219) der sog. „skeptischen Generation“ der 1950er- und 1960er-Jahre, der zurückgeführt wird auf das Reifedefizit einer Jugend, die infolge der politischen Umstände zu rasch erwachsen werden musste. Ausgehend von dem Auftritt, mit dem Baldur von Schirach im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess die alleinige Verantwortung für die Taten der Jugend übernahm, kommt Kater zu dem Ergebnis, dass die Jugendlichen „in eigenem Namen verantwortlich“ (224) seien und sieht in deren Diskussionen über einen eventuell vorhandenen eigenen Opferstatus „ein starkes Indiz dafür, dass sie ein schlechtes Gewissen hatten und gerne die Teile ihrer Biographie ausgeblendet hätten, die in der Zeit vor der demütigenden Kapitulation der Nationalsozialisten lagen“ (ebd.). Die Frage nach der moralischen Schuld allerdings lässt sich für Kater nicht so leicht wie die nach der Mittäterschaft beantworten: Er spricht sich für eine Differenzierung nach dem Alter, der in der NS-Hierarchie eingenommenen Position und der Gesamtmenge der verübten verbrecherischen Aktivitäten aus (vgl. ebd.).

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Kater mit seinem Werk die angestrebten Ziele nur teilweise erreicht: Die Intentionen der HJ und ihre Organisationsstrukturen werden ebenso wie die Rolle der HJ im Krieg und die unterschiedlichen Formen des Widerstands deutlich. Der Begriff der „Indoktrination“ dagegen kommt zwar wie auch die Begriffe „Erziehung“ und „Sozialisation“ zur Anwendung, klare Begriffsdefinitionen fehlen jedoch bei Kater, der von einer spezifisch geschichtswissenschaftlichen Warte aus schreibt, ebenso wie eine intensive Auseinandersetzung mit psychologisch wie erziehungswissenschaftlich relevanten Theorien und Forschungsergebnissen zur Identitätsentwicklung im Jugendalter oder zur Entwicklung der moralischen Urteilsfähigkeit von Mädchen wie Jungen.

Dennoch ist Katers Werk sowohl im Sinne eines Kompendiums für den fortgeschrittenen Leser wie auch als Einstiegstext für den Studienanfänger lesenswert, denn ihm gelingt ein von den referierten Inhalten her zwar nicht neuer, aber breit gefächerter, ob der bisweilen saloppen Sprache leicht verständlicher Beitrag zur Erforschung des Aufwachsens unter Hitler, der sich in den seit den 1970er Jahren bestehenden und von Kater auch angesprochenen Trend (vgl. 226) einreiht, sich dem so genannten ‚Dritten Reich’ und der damit verbundenen Schuldfrage über lebensgeschichtliche Erinnerungen zu nähern.
Jeanette Bair (TĂĽbingen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Jeanette Bair: Rezension von: Kater, Michael J.: Hitler-Jugend. Darmstadt: Primus 2005. In: EWR 5 (2006), Nr. 2 (Veröffentlicht am 04.04.2006), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/89678252.html