EWR 5 (2006), Nr. 2 (März/April 2006)

Corinna Kuhr-Korolev
Gezähmte Helden
Die Formierung der Sowjetjugend 1917-1932
Essen: Klartext 2005
(365 S.; ISBN 3-89861-349-6; 39,90 EUR)
Gezähmte Helden Die Dissertation von Corinna Kuhr-Korolev mit dem Titel „Gezähmte Helden“ beschäftigt sich mit der Geschichte der Sowjetjugend in den 1920er Jahren. Damit knüpft die Arbeit an die neuere Forschung zur Geschichte der frühen Sowjetunion an, die nach dem politischen Wandel von 1985 in der Sowjetunion durch die Verfügbarkeit von bislang unzugänglichem oder „verbotenem“ Quellenmaterial angeregt wurde [1]. Dies begründet die Aktualität der Arbeit.

Mit dem Thema „Formierung der Sowjetjugend 1917-1932“ wendet sich die Arbeit zudem einer besonders wichtigen Bevölkerungsgruppe in der Sowjetgesellschaft der 1920er Jahre zu. Für die neuen Machthaber in Sowjetrussland war die Jugend nämlich nicht nur als die „Generation der Zukunft“ von Bedeutung, die es zu gewinnen galt. Die jungen Menschen in der Sowjetunion dieser Zeit machten außerdem einen großen Teil der Gesamtbevölkerung aus. So war zum Beispiel im Jahre 1926 fast die Hälfte der Sowjetbürger unter 30 Jahre alt. Die Klärung der Frage, welche Rolle diese Bevölkerungsgruppe im jungen Sowjetstaat gespielt hat, ist deshalb für das Verständnis der Geschichte der Sowjetunion potentiell von großer Bedeutung.

Die zentrale Fragestellung der Autorin ist, wie es im Zeitraum zwischen Oktoberrevolution (1917) und Frühstalinismus (1932) zu einer „Verständigung“ über das Wesen und die Rolle der sowjetischen Jugend kam. Die Autorin stellt sich die Aufgabe, diesen „Verständigungsprozeß zu rekonstruieren und dabei zu klären, welche Konzepte über Jugend verschiedene politische, gesellschaftliche und wissenschaftliche Kräfte vertraten, wo die geistigen Grundlagen dieser Konzepte zu suchen sind und welche Vorstellungen sich schließlich durchsetzten“ (11).

Um die zentrale Forschungsfrage der Arbeit zu beantworten, wird von der Autorin der „klassische Weg historischer Quellenarbeit beschritten, indem unterschiedlichste Texte (...) darauf befragt werden, welche Vorstellungen und Ideen sich in ihnen zur Jugend finden“ (27). Analysiert werden unter anderem Reden, Sitzungsstenogramme und Verbandsstatuten, wissenschaftliche Abhandlungen sowie Werke aus der Literatur und der bildenden Kunst; der Schwerpunkt bei der Quellenauswahl liegt jedoch auf der sowjetischen Jugendpresse. Insbesondere die Tageszeitung „Komsomol’skaja pravda“ und das Journal „Molodaja gvardija“, in denen in den 1920er Jahren ein Großteil der Debatten über die sowjetische Jugend stattfanden, werden einer genaueren Analyse unterzogen. Durch die Quellenlage bedingt beziehen sich die Aussagen der Autorin über die Sowjetjugend überwiegend auf den Kreis der Mitglieder des Kommunistischen Jugendverbands (Komsomol; gegründet 1918), dem freilich nur eine Minderheit der Jugendlichen in Sowjetrussland angehörte (vgl. 9f.).

Die Arbeit von Corinna Kuhr-Korolev umfasst drei Teile. Im ersten Teil wird das Jugendideal der bolschewistischen Parteiführung in den unterschiedlichen Phasen des Untersuchungszeitraums rekonstruiert und den Vorstellungen der organisierten Jugend von sich selbst gegenüber gestellt. Im umfangreichsten zweiten Teil werden verschiedene Sichtweisen des Jugendalters der sowjetischen Psychologen, Pädologen [2] und Reflexologen der 1920er Jahre referiert, die Debatten über Moral, neue Lebensformen und Sexualität in der Sowjetunion der 1920er Jahre analysiert und die Entwicklung der sowjetischen „Körperkultur“-Bewegung nachgezeichnet. Im abschließenden dritten Teil der Arbeit wird die Rolle der sowjetischen Jugendpresse und Jugendliteratur bei der Entwicklung der staatlichen Jugendkultur beschrieben.

Die Untersuchung von Corinna Kuhr-Korolev enthält eine Vielzahl von interessanten Befunden und Thesen, die Anregungen für weitere Forschungen liefern können:

(1) So stellt die Autorin beispielsweise fest, dass die bolschewistische Partei bei ihrem Machtantritt 1917 noch kein Jugendkonzept entwickelt hatte; das bolschewistische Jugendkonzept bildete sich vielmehr erst in den 1920er Jahren heraus. Dabei – so die Autorin – haben die bolschewistischen Parteiführer ein in Westeuropa verbreitetes, in der Tradition der bürgerlichen Jugendbewegung stehendes Verständnis von „Jugend“ übernommen. Demnach bezeichnet „Jugend“ einen vom Alter unabhängigen Lebensstil und damit einen von der biologischen Dimension abgelösten Begriff. Dieser Jugendbegriff ließ sich nach Kuhr-Korolev besonders gut „als freie Projektionsfläche für gesellschaftliche und politische Hoffnungen und Pläne“ nutzen (8).

(2) In der Vielfalt der in der frühen Sowjetunion entwickelten politischen Vorstellungen über die Sowjetjugend lassen sich zwei zentrale Ansätze unterscheiden: ein an den politischen Aufgaben orientierter, disziplinierender und gegenwartsbezogener Ansatz und ein idealistischer und zukunftsorientierter Ansatz. Der erste Ansatz wurde vor allem von den maßgeblichen Parteiführern wie Lenin, Stalin, Kirov oder Kaganovič vertreten. Diese forderten von der Sowjetjugend Disziplin und Einordnung in die Arbeitshierarchie. Die Anhänger des zweiten Ansatzes, zu denen u.a. Čičerin, Lunačarskij und Trockij (Trotzki) zählten, waren offenbar von der westlichen Jugendbewegung und Philosophie (u.a. von Nietzsche) beeinflusst und nahmen deren Ideen in die eigenen Vorstellungen über die zukünftige Sowjetjugend auf. Die Anhänger dieses zweiten, idealistischen Ansatzes waren allerdings von Anfang an weniger einflussreich und verloren im Verlauf der 1920er Jahre weiter an Bedeutung. Ab 1928 etablierte sich dann im Stalinschen System das Konzept des Jugendlichen als des „Gezähmten Helden“, das auf die Disziplinierung der Jugend, ihre Anpassung und politische Passivität abzielte (330).

(3) Der Kommunistische Jugendverband wurde in den ersten Jahren seines Bestehens nicht von den Anführern der bolschewistischen Partei geprägt, sondern von den jugendlichen Bürgerkriegskämpfern (1918-1921/1922; ehemaligen Soldaten der Roten Armee). Diese betrachteten sich selbst als „Avantgarde der Avantgarde“ und stellten das Machtmonopol der Bolschewiki in Frage. Sofern sich die Führungskräfte des Komsomol überhaupt mit der bolschewistischen Partei identifizierten, dann mit ihren idealistisch und liberal orientierten Vertretern: Trockij zum Beispiel war bis zum Ende der 1920er Jahre unter den Jugendlichen eine beliebte Figur. Mit dem Bekenntnis zu Trockij wurde auf provokante Weise die Unzufriedenheit mit der Partei zum Ausdruck gebracht. Auch in der Jugendpresse der frühen 1920er Jahre, die damals noch nicht unter der Kontrolle der Partei stand, wurde die Politik des neuen Staatsregimes und der bolschewistischen Partei einer deutlichen Kritik unterzogen. Erst im Verlauf der 1920er Jahre gelang es der bolschewistischen Partei allmählich, „die Jugend ‚einzufangen‘ und ihr einen passenden Platz in der Gesellschaft und im neuen sowjetischen Staat zuzuweisen“ (323).

Die Diskrepanz zwischen den Anforderungen der Partei an die Jugend und dem Selbstverständnis der Komsomolzen führte Mitte der 1920er Jahre zur Enttäuschung vieler Jugendlicher und zu Erscheinungen, die vom harten Kern der Partei und des Komsomol als „Pessimismus“ und „Niedergangsstimmung“ kritisiert wurden. Dies wird in der Arbeit u.a. durch Auszüge aus Briefen belegt, die Jugendliche an verschiedene Jugendzeitschriften geschrieben haben. Diese Briefe geben einen sehr anschaulichen Einblick in die Lebenssituation und den Seelenzustand vieler Jugendlicher im Sowjetrussland dieser Zeit.

(4) In den 1920er Jahren wurde in der Sowjetunion eine Reihe von theoretischen Konzepten zur Körperkultur, Literatur und Presse entwickelt, unter anderem mit dem Ziel, die Jugendlichen für die Ideen des Kommunismus zu begeistern. Diese Konzepte erwiesen sich jedoch als wenig praxistauglich. Selbst „politisch aktive Komsomolzen taten sich weder durch sportliche Höchstleistungen hervor, noch pflegten sie einen Lebensstil nach den Regeln der Körperkultur. Im Bereich der Literatur gab es mit der Förderung der Komsomolschriftsteller den engagierten Versuch zur Etablierung einer eigenen Jugendliteratur, der jedoch kläglich scheiterte. Positive Resonanz erfuhren in der Regel nur solche Maßnahmen, die einem Bedürfnis der Jugendlichen entgegenkamen“ (326).

(5) Die Jugend stellte auch ein wichtiges Forschungsobjekt für die sowjetische Wissenschaft der 1920er Jahre dar, und zwar vor allem für die sowjetische Entwicklungspsychologie, Reflexologie und Pädologie. Die sowjetische Entwicklungspsychologie wurde dabei einerseits von der deutsch-österreichischen Jugendforschung innerhalb der Entwicklungspsychologie (Bühler, Ziehen) und Pädagogik (Spranger, Wyneken) beeinflusst, andererseits von der amerikanischen behavioristischen Lernpsychologie (Watson, Hull) und der amerikanischen Entwicklungspsychologie (Hall, Chrisman). Dem westlichen Leser werden – erstmals in ausführlicher Form – u.a. sowohl die eher konservativ und idealisierend wirkenden Ansätze von M. Rubinštejn und V. Smirnov vorgestellt als auch die radikalen Ansätze von A. Zalkind und A. Gastev. Der Großteil der sowjetischen Jugendforscher stand nach Aussage der Autorin in engem Kontakt zum Volkskommissariat für das Bildungswesen. Deshalb sei die Annahme gerechtfertigt, dass die „Ergebnisse der Wissenschaft in den politischen und gesellschaftlichen Jugenddiskurs einfließen konnten“ (91). Vor allem die Pädologen versuchten im Auftrag des sowjetischen Staates, das Jugendalter systematisch zu erforschen. Allerdings konnten sie den neuen Machthabern offenbar keine praxistauglichen Erziehungs- und Zugriffsmittel liefern.

Die pädagogischen Ansätze zur Jugenderziehung in der Sowjetunion der 1920er Jahre werden in der Arbeit leider bewusst ausgeklammert. Als Begründung gibt die Autorin an, diese Ansätze seien bereits gut erforscht und würden sich zudem auf die Institution Schule beziehen, die in der Arbeit nicht berücksichtigt werden solle (vgl. 87). Diese Begründung überzeugt allerdings nicht ganz. Denn: Zum einen werden in der Arbeit andere Themen – wie Sport, Kunst, Jugendpresse und Jugendliteratur – trotz der inzwischen dazu vorliegenden, umfangreichen Sekundärliteratur ausführlich behandelt. Zum anderen enthalten die Werke der führenden Sowjetpädagogen (Krupskaja, Makarenko, Šul’gin) durchaus auch Ansätze zur außerschulischen bzw. nicht-schulbezogenen Kollektiv- und Jugenderziehung. Und schließlich dürften diese auch politisch einflussreichen Sowjetpädagogen wichtige Teilnehmer jenes „Verständigungsprozesses über das Wesen und die Rolle der Sowjetjugend“ gewesen sein, der in der Arbeit rekonstruiert wird.

Eine Erschwernis für die Leserinnen und Leser ist das Fehlen einer expliziten Beschreibung der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für die Entwicklung des sowjetischen Jugendkonzepts. Darin hätte sowohl eine kurze Darstellung der zentralen wirtschaftspolitischen Etappen in der Entwicklung des jungen Sowjetstaates Platz finden können als auch eine Vorstellung der wichtigsten Teilnehmer des erforschten „Verständigungsprozesses“. Dies hätte nicht nur den mit der Geschichte Russlands weniger vertrauten Lesern den Zugang zum Buch erleichtert, sondern auch besser verständlich gemacht, weshalb sich bestimmte politische Vorstellungen von der Rolle der Jugend unter den in der frühen Sowjetunion herrschenden politischen, sozio-ökonomischen und kulturellen Bedingungen, Machtverhältnissen und Interessenslagen durchsetzen konnten, andere dagegen nicht. Leserunfreundlich sind auch die uneinheitliche Zitierweise sowie häufige Fehler bei der Angabe der russischsprachigen Quellen.

Trotz der genannten Kritikpunkte ist das Buch von Corinna Kuhr-Korolev eine lohnenswerte Lektüre für alle Leserinnen und Leser, die sich für die Geschichte des Sowjetstaates interessieren. Es enthält viele interessante Befunde und Thesen, berichtet neue Details zur Geschichte der Sowjetjugend und versucht, die Politikgeschichte mit der Psychologie-, Sport-, Kunst- und Literaturgeschichte zu verbinden. Die Studie leistet damit einen wichtigen Beitrag zu einer differenzierten Betrachtung der Sowjetgeschichte. Auch aus diesem Grund verdient das Buch Beachtung.

[1] Neuere Studien zur Sowjetjugend umfassen u.a. die Arbeiten von N. Lebina, V. Isaev, A. Rožkov, S. Žuravlev, A. Gorsuch, H. Haumann, St. Plaggenborg und M. Wellmann.

[2] Die Pädologie („Wissenschaft vom Kinde“) ist eine Ende des 19., Anfang des 20. Jh. aus der nordamerikanischen und westeuropäischen Entwicklungspsychologie hervorgegangene Fachrichtung im Grenzgebiet zwischen Psychologie und Pädagogik, die in der frühen Sowjetunion bis zu ihrem Verbot (1936) beachtlichen Einfluss erlangen konnte. Ziel der Pädologie ist eine umfassende Erforschung des Kindes auf der Grundlage der Forschungsergebnisse verschiedener Fachdisziplinen. Hauptvertreter der Pädologie in der Sowjetunion der 1920er–1930er Jahre waren u.a. A. Zalkind, I. Arjamov und P. Blonskij.
Irina Mchitarjan (Greifswald)
Zur Zitierweise der Rezension:
Irina Mchitarjan: Rezension von: Kuhr-Korolev, Corinna: Gezähmte Helden, Die Formierung der Sowjetjugend 1917-1932. Essen: Klartext 2005. In: EWR 5 (2006), Nr. 2 (Veröffentlicht am 04.04.2006), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/89861349.html