EWR 5 (2006), Nr. 6 (November/Dezember)

Klaus Lindemann
"Dies Haus, ein Denkmal wahrer BĂŒrgertugend"
Das Gymnasium Essen-Borbeck seit der Kaiserzeit. Geschichte einer Essener Schule im Kontext gesellschaftlichen Wandels
Essen: Klartext-Verlag 2005
(488 S.; ISBN 3-89861-377-1; 22,90 EUR)
"Dies Haus, ein Denkmal wahrer BĂŒrgertugend" Die Auseinandersetzung mit der Geschichte einzelner Schulen spielt sich hĂ€ufig im Rahmen von Festschriften ab, in denen engagierte LehrkrĂ€fte der Schule (selten externe Autoren) sich anlĂ€sslich eines SchuljubilĂ€ums darum bemĂŒhen, die Geschichte der Anstalt fĂŒr das Schulpublikum aufzubereiten. Die daraus hervorgehenden Publikationen fallen sehr heterogen aus: so stehen durchaus ambitionierte, auf wissenschaftlicher Quellenarbeit fußende Werke neben BroschĂŒren, die sich auf Überblicksdarstellungen und den Abdruck von Bildmaterial beschrĂ€nken. Aufgrund der NĂ€he der Autoren zum Untersuchungsgegenstand lĂ€sst sich besonders in Ă€lteren Festschriften nicht selten ein höchst unkritischer Umgang mit schwierigen Phasen der deutschen Geschichte finden, wobei hier vor allem die Zeit des Nationalsozialismus gemeint ist. So wird die gefeierte Schule gerne als weitgehend unanfĂ€llig fĂŒr die nationalsozialistische Ideologie dargestellt, wobei die Untermauerung mit Fakten oft zu wĂŒnschen ĂŒbrig lĂ€sst [1].

Obwohl an keiner Stelle des Textes die Rede davon ist, weist das Werk von Klaus Lindemann ĂŒber das Gymnasium in Essen-Borbeck [2] durchaus den Charakter einer Festschrift auf. Zwar feierte die Schule ihren 100. Geburtstag schon 2001, da das aus einer ‚Rectoratsschule‘ hervorgegangene ‚Progymnasium‘ im Jahre 1901 ein eigenes, „fĂŒr seine gymnasiale Zukunft konzipiertes GebĂ€ude“ bezogen hatte (9). Das vorliegende Buch greift jedoch die Tradition frĂŒherer Festschriften auf, die 1955, 1980 sowie 1995 erschienen und jeweils auf das Jahr 1905 verweisen, als die Anstalt mit der Abnahme der ersten AbiturprĂŒfung als ‚Vollgymnasium‘ anerkannt wurde (ebd.).

Doch nicht nur diese Zahlenspielereien, sondern auch der Aufbau des Buches zeigt ZĂŒge einer JubilĂ€umsschrift. Mit zahlreichen Bildern illustriert wird der Bogen von der GrĂŒndung der Schule bis in die heutige Zeit geschlagen, die Entwicklung von der Rektoratsschule zum Vollgymnasium im Kaiserreich, vom Reformgymnasium zur Doppelanstalt aus Gymnasium und angegliederter Oberrealschule in der Weimarer Republik, vom wiederhergestellten Gymnasium zur Oberschule fĂŒr Jungen im Nationalsozialismus und schließlich zum Gymnasium Essen-Borbeck in der Nachkriegszeit dargestellt.

WĂ€hrend das erste Kapitel (14-68) einen chronologischen und recht detaillierten Abriss der Anstaltsgeschichte bietet, konzentriert sich das zweite Kapitel (70-128) auf die Schulleiter und die Besonderheiten ihrer AmtsfĂŒhrung. Das anschließende Kapitel widmet sich der Lehrerschaft (130-196), das umfangreichste vierte Kapitel schließlich der SchĂŒlerschaft (198-308). In zwei weiteren Kapiteln (330-345 und 348-394) werden mit dem Geschichts- und dem Musikunterricht zwei FĂ€cher in ihren inhaltlichen Wandlungen betrachtet, wobei Horst Kohlmann als Autor des Kapitels zum Geschichtsunterricht genannt wird. Ein umfangreicher Anhang, der u.a. alle Lehrerinnen und Lehrer sowie alle Abiturientinnen und Abiturienten seit der GrĂŒndung auflistet, beschließt das reich bebilderte Buch.

Beim Lesen der einzelnen Kapitel stellt sich bald der Eindruck ein, dass ein zentrales Interesse des Autors auf die Geschichte der Schule in der Zeit des Nationalsozialismus gerichtet ist. Ein von Ernst Schmidt verfasstes eigenes Kapitel ĂŒber die jĂŒdischen SchĂŒler der Anstalt (310-328), in dem zum Teil erschĂŒtternde Biografien je nach Quellenlage in unterschiedlicher LĂ€nge dargestellt werden, unterstreicht diesen Eindruck. So arbeitet Lindemann beispielsweise im zweiten Kapitel ausfĂŒhrlich die Standhaftigkeit von Direktor Wilhelm Vollmann heraus, der die Schule von 1923 bis 1949 leitete. Dieser blieb der NSDAP fern und fand einen recht schnörkellosen Weg, den nationalsozialistischen Angriffen auf katholische Lehrer und SchĂŒler sowie auf ihn selbst als glĂ€ubigen Katholiken mit Entschlossenheit und Geschicklichkeit zu begegnen. Zudem arbeitete er nach Kriegsende tatkrĂ€ftig an der Entnazifizierung der Schule mit (94-101). Diesem mit aussagekrĂ€ftigen Dokumenten belegten Verhalten stand jedoch die Anpassungsbereitschaft eines Teils des Kollegiums an das neue System gegenĂŒber, die Lindemann nicht verschweigt, sondern ebenfalls mit gut gewĂ€hlten Quellen dokumentiert (148-154).

Diese differenzierte Form der Auseinandersetzung mit der Geschichte der Schule im Nationalsozialismus setzt sich bei der Betrachtung der SchĂŒlerschaft fort, in der die ĂŒbliche Begeisterung der Jugend fĂŒr die nationalsozialistische Bewegung durchaus thematisiert wird. Das Aufwachsen in einem katholischen Milieu – 1930 waren 84% der SchĂŒler katholisch – sorgte jedoch dafĂŒr, dass der Organisationsgrad in der Hitler-Jugend lediglich um die 70% lag (237), wĂ€hrend sich der katholische SchĂŒlerbund „Neudeutschland“ bis ins Ende der 1930er Jahre hinein hartnĂ€ckig hielt (ebd.). So lassen sich im Verhalten des Direktors und der SchĂŒlerschaft sowie in den dokumentierten VorgĂ€ngen, die die Lehrerschaft betrafen (mehrere Entlassungen nach den Bestimmungen des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums, Denunziationen von unangepassten Lehrern; 144-148), durchaus Indizien finden, die eine gewisse Distanz der katholisch geprĂ€gten Anstalt gegenĂŒber dem Nationalsozialismus belegen.

In Bezug auf die Darstellung dieser Thematik muss allerdings auch darauf hingewiesen werden, dass die BerĂŒcksichtigung der einschlĂ€gigen Literatur zum Thema „Schule im Nationalsozialismus“ zu wĂŒnschen ĂŒbrig lĂ€sst. Autoren wie Flessau, Eilers, Keim oder Scholtz fehlen im Literaturverzeichnis. Vereinzelte sachliche Fehler – so ist von einer „Zwangsmitgliedschaft im ‚Nationalsozialistischen Deutschen Lehrerbund‘“ die Rede (144), die faktisch so nie bestand – oder MissverstĂ€ndnisse – als AbkĂŒrzung der von den SchĂŒlern zu durchlaufenden ‚Nationalpolitischen LehrgĂ€nge‘ verwendet Lindemann das KĂŒrzel „NAPOLA“ (238f.), das bekanntermaßen fĂŒr ‚Nationalpolitische Erziehungsanstalt‘ steht – hĂ€tten durch deren Wahrnehmung vermieden werden, eine tiefergehende Auseinandersetzung mit bestimmten Themenfeldern (Staatsjugendtag, Feiergestaltung) hĂ€tte stattfinden können.

Trotz dieser Schwerpunktsetzung, die auch in den Kapiteln ĂŒber die UnterrichtsfĂ€cher erkennbar ist – besonders die SkurrilitĂ€ten des Musikunterrichts werden durch die Wiedergabe zahlreicher Liedtexte anschaulich herausgearbeitet (365-380) – kommen die anderen Phasen der Schulgeschichte keineswegs zu kurz. Hervorzuheben sind hier die Betrachtungen der Lehrerkollegien in den unterschiedlichen Zeitepochen. Die Interpretation Lindemanns eines Fotos von 1903 erscheint sehr zutreffend, wenn den sorgfĂ€ltig angeordneten, mit „KaiserbĂ€rte[n], straffe[r] Haltung und kĂŒhne[m] Blick“ sich zeigenden Lehrern eine „gymnasiale Weihe, WĂŒrde und Strenge“ zugesprochen wird (134). Wenn dieser Selbstinszenierung dann ein Revisionsbericht der Schulbehörde gegenĂŒbergestellt wird, der die UnzulĂ€nglichkeiten des Lehrkörpers deutlich ausspricht (134ff.), wird die Macht der Bilder wohltuend gebrochen. In Ă€hnlich ĂŒberzeugender Weise wird den Wirkungen des Zeitgeistes auf die Wahrnehmung und Selbstdarstellung von Jugend in den immer schon beliebten Klassenfotos nachgespĂŒrt (216ff.).

Mit Hilfe von z.T. sehr ausfĂŒhrlich zitierten Quellen und durch den sehr gut lesbaren Schreibstil des Autoren wird das Buch seinem Anspruch, anhand des gewĂ€hlten Beispiels „die VerĂ€nderung der Schulkultur im stĂ€dtischen Umfeld Essens von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft unserer Tage“ (9) aufzuzeigen, durchaus gerecht. Somit liegt eine Festschrift (wider Willen) vor, die wissenschaftlichen AnsprĂŒchen genĂŒgt und mit der sich problemlos wissenschaftlich weiter arbeiten lĂ€sst. Ob diese Publikation beispielgebend fĂŒr zukĂŒnftige Festschriften sein wird, bleibt abzuwarten. Zu wĂŒnschen ist es allemal.

[1] Auf die Nennung von Beispielen soll hier aufgrund der unĂŒberschaubaren Zahl von Festschriften verzichtet werden. Eine systematische Auswertung dieses Materials stellt ein Desiderat der Forschung dar.

[2] Lindemanns BeschĂ€ftigung mit der Geschichte des Gymnasiums Borbeck fand bereits Niederschlag in der Publikation: Deutsch denken, reden, schreiben – Schule, Deutschunterricht und Abitur 1932-1940, dargestellt am Beispiel der Essener Gymnasien Borbeck und Bredeney. Frankfurt: Lang 2003. Vgl. die Rezension unter http://www.klinkhardt.de/ewr/63150961.html
RĂŒdiger Loeffelmeier (Berlin)
Zur Zitierweise der Rezension:
RĂŒdiger Loeffelmeier: Rezension von: Lindemann, Klaus: "Dies Haus, ein Denkmal wahrer BĂŒrgertugend", Das Gymnasium Essen-Borbeck seit der Kaiserzeit. Geschichte einer Essener Schule im Kontext gesellschaftlichen Wandels. Essen: Klartext-Verlag 2005. In: EWR 5 (2006), Nr. 6 (Veröffentlicht am 28.11.2006), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/89861377.html