EWR 4 (2005), Nr. 1 (Januar/Februar 2005)

Gabriele Weigand
Schule der Person
Zur anthropologischen Grundlegung einer Theorie der Schule
WĂĽrzbrg: Ergon Verlag 2004
(430 Seiten; ISBN 3-89913-356-0; 44,00 )
Schule der Person Die sich im letzten Jahrzehnt neu formierenden Forschungen der pädagogischen Anthropologie, die vor allem im Rahmen der gleichnamigen Kommission der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft entstanden sind, haben bislang eine Fülle von anthropologischen Fragestellungen aufgegriffen, die von Evolution, Natur, Generation, Gedächtnis über Zeit, Raum, Institution, Ethik, Religion bis hin zu Aisthesis, Bild, Schrift, Spiel, Liebe und Freundschaft reichen.

Nun verspricht Gabriele Weigand mit ihrer Habilitationsschrift eine anthropologische Grundlegung der Theorie der Schule. Dass man diese im umfassenden Sinne eines Versuches, der alle zentralen anthropologischen Kategorien wie Körperlichkeit, Zeitlichkeit, Liminalität, Sozialität etc. in einer historischen und interkulturellen Perspektive diskutiert, nicht erwarten kann, versteht sich von selbst. Weigands Anthropologie der Schule zeichnet sich daher folgerichtig durch eine dreifache Konzentration aus: Einerseits situiert die Autorin die Anthropologie in der Tradition des antiken-christlich-jüdischen Denkens; zweitens operiert sie dort vor allem mit philosophischen und religiösen Modellen und drittens zentriert sie ihre Schultheorie auf eine Anthropologie der Person um die Momente Freiheit, Sprachlichkeit und Vernünftigkeit. Diese nun trägt eine hohe Beweislast, soll sie doch nicht mehr und weniger als eine konstitutive, kritische, konstruktive und regulative Funktion der Schulpädagogik zur Folge haben.

Die Arbeit umfasst - ohne dass man sich dabei im engeren Sinne an der Kapiteleinteilung orientiert - insgesamt drei Teile. Der erste skizziert als eine Art erweiterter Einleitung im systematischen Blickwinkel den Rahmen des Buches, indem er unter den leitenden Gesichtspunkten Schulpädagogik und Personentheorie grundlegende Ansätze und Theorien derselben diskutiert. Der zweite und bei weitem längste Teil ist der Rekonstruktion von drei historischen Orientierungen bzw. Paradigmen der Schulpädagogik – und gelegentlich auch darüber hinausgehend Bildungs- und Erziehungstheorien, Anthropologien und Gesellschaftsmodelle – gewidmet: Hier bekommt der Leser im Kontext von Schule und Gesellschaft die schulpädagogischen Vorschläge der Sophisten, Karls den Großen, Martin Luthers, Friedrich II. und John Deweys, im Kontext von Schule und Individuum die Konzeptionen von August Hermann Francke, Johann Amos Comenius, Johann Heinrich Pestalozzi und Hugo Gaudig und schließlich im Kontext von Schule, Utopie und Anarchie die Ideengebäude der klassischen Utopisten (Platons, Campanella etc.), der klassischen Anarchisten (Bakunin, Kropotkin etc.) und der Antipädagogik (Braunmühl, v. Schoenebeck etc.) vorgestellt. Der letzte Teil wiederum bündelt und sammelt in systematischer Richtung Argumente und Positionen, die das Personenprinzip als fundamentalen Gesichtspunkt der Schule ausweisen können und entwickelt dementsprechend Perspektiven für eine Theorie und Praxis einer personalen Schule.

Das überaus lesbar geschriebene Buch überzeugt vor allem in den Passagen, in denen die Autorin souverän die je einzelnen schulpädagogischen und personalen Theorien systematisiert, skizziert, Zusammenhänge zwischen ihnen herstellt und diese kritisch reflektiert. Der Leser erhält so eine kompetente historische-systematische Einführung in Theorien der Schule und der Schulpraxis, die sich vor allem der Begründung und Instituierung von Schule widmet und die natürlich – was die Autorin freimütig einräumt – noch ergänzt werden könnte und müsste. Kritisch ist allerdings der enorme Anspruch zu sehen, der mit dem Personenkonzept verbunden ist. Hierzu nun einige Überlegungen, die die Grundintention von Weigand teilen, aber gerade deshalb auf einige vor ihr nur knapp skizzierte Aspekte des Buches aufmerksam machen wollen. Zu klären wäre im einzelnen, welche personale Anthropologie und welcher ihr inhärente Schwerpunkt von Freiheit, Vernünftigkeit und Sprachlichkeit der höchst unterschiedlichen Ansätze und Theorien einer Schule der Person zugrundegelegt werden sollte, welche Methodik und Didaktik sich aus der Idee der Person als unverfügbares Wesen ergeben, wie die – an die antike Begründungslehre der vier causae erinnernden – Funktionen (konstitutive, kritische, konstruktive, regulative) inhaltlich und deren latent tautologischer bzw. paradoxaler Zusammenhang zu verstehen sind; des weiteren, inwiefern das Personenkonzept, das zwar als notwendiges, aber nicht hinreichendes Basiskriterium einer solchen Schulkonzept darstellt wird, ergänzt werden müsste um einen demokratischen (politischen) Rahmen, eine konkrete (rechtliche und soziale) Institutionalisierung, um strukturale Bildungsprinzipien etc. und ob eine solche Schule die bislang als quasi natürlich geltenden schulischen Konservierungen des ökonomischen, sozialen und kulturellen Kapitals zu kompensieren in der Lage ist. Und obwohl die Skepsis der Autorin nachvollziehbar erscheint, aufgrund der latenten Gefahren von Dogmatisierung, Verengungen und Verallgemeinerungen keine konkrete Schule der Person vorzustellen, so hätte man doch gerne gewusst, wie sich diese Schule zu einer für diese Institution so zentralen Prozedur, nämlich der Prüfung und den mit ihr verbundenen Selektionsmechanismen, verhält.

Was bleibt und was als höchst plausibel vorgeführt wird, ist die mit einem verminderten Geltungsanspruch vertretene Idee, Personalität als zentralen Orientierungsrahmen, Beurteilungsgesichtspunkt und Maßstab von Schultheorie und Schulpraxis zu verstehen. Insofern bildet diese Schrift eine wichtige Markierung, als sie uns daran erinnert, dass es in der Schule zentral um die Entfaltung von Begabungen und Möglichkeiten von Menschen gehen sollte sowie darum, Selbstachtung und Würde des Einzelnen und die Unterstützung des Individuums in den Mittelpunkt zu stellen. Die Grundintention des Buches ist ein rekonstruktiver Appell, von dem zu hoffen ist, dass er in den Post-PISA-Zeiten nicht untergeht: Die Schule als einen Ort zu verstehen, an dem es nicht (nur) um Schüler, sondern vor allem um Personen geht.
Jörg Zirfas (Erlangen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Jörg Zirfas: Rezension von: Weigand, Gabriele: Schule der Person, Zur anthropologischen Grundlegung einer Theorie der Schule, WĂĽrzbrg: Ergon Verlag 2004. In: EWR 4 (2005), Nr. 1 (Veröffentlicht am 31.01.2005), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/89913356.html