EWR 8 (2009), Nr. 2 (März/April)

Christiane Thompson / Gabriele Weiss (Hrsg.)
Bildende Widerstände – widerständige Bildung
Blickwechsel zwischen Pädagogik und Philosophie
Bielefeld: transcript 2008
(228 S.; ISBN 978-89942-859-9; 26,80 EUR)
Bildende Widerstände – widerständige Bildung Etwas verbindet die meisten Aufsätze dieses Bandes. Ein gemeinsames Thema ist es nicht. Zwar haben alle Aufsätze, zum Teil mehr, zum Teil weniger, etwas mit Bildung und mit Widerständen zu tun, es sind aber keineswegs unterschiedliche Zugangsweisen zu ein und demselben Problem. Eine gemeinsame theoretische Grundlage ist es auch nicht. Es ist wohl eher die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Wissenschaftskultur – und im Hinblick auf die Autorenauswahl kann man auch sagen: zu einer bestimmten Wissenschaftlergeneration –, die sich hier zeigt: Es sind Ähnlichkeiten in der Sprache, in der Problemstellung und in der Art, Probleme anzugehen. Das ist nichts Schlechtes, im Gegenteil; vielleicht ist es ein Zeichen für eine wachsende disziplinäre Bindung, bestimmt ist es aber ein Zeichen für eine lebendige Diskussionskultur. Dieses lässt den Band bei aller inhaltlichen Heterogenität rund wirken.

Das ändert nichts daran, dass man die Aufsätze einzeln betrachten muss. Den Auftakt macht ein Aufsatz von Elisabeth Sattler, den man als eine Art Überblick lesen kann. Vorgestellt werden aktuelle theoretische Positionen, denen das Anliegen gemein ist, sich von Vorstellungen souveräner Subjektivität zu lösen. Dass solch ein Denken riskant sei, ist nachvollziehbar. Dass man vieles jedoch nur so ungefähr nachvollziehen kann, mag an Formulierungen liegen, die selbst oft im Ungefähren bleiben.

Während Widerstand in der kritischen Tradition der Bildungstheorie von Seiten des Individuums gedacht wird, das sich gegenüber gesellschaftlichen Vorgaben widerständig zeigt, gehen Christiane Thompson und James Thompson in dem Aufsatz „Self-Confrontations: ‚Socrates’, Wittgenstein and the Reference to What Cannot be Known“ umgekehrt vor: Ihnen geht es um solche, für Bildungsprozesse notwendigen Widerstände, an denen ein Individuum scheitern muss, wenn es auf sie trifft. Sie stellen die Grenze des Wissbaren als einen solchen Widerstand heraus und distanzieren sich dankenswerter Weise umgehend von einem inzwischen geläufigen Missverständnis, dass die Erfahrung dieses Widerstandes entschärft: Dass es nämlich allein darauf ankäme, zu wissen, dass man etwas nicht weiß. Sie zeigen überzeugend, dass es vielmehr die Art des Umgangs mit dem Nicht-Wissen ist, auf die es ankommt und die Erfahrung des Scheiterns selbst – welche ja gerade die Bemühung zum Wissen voraussetzt. An den Sokratischen Dialogen und an Wittgensteins Traktatus zeigen sie paradigmatisch, auf welche Weise solche Widerstände überhaupt erst erfahrbar gemacht werden können.

Mit dem Hinweis, dass die Ironie eine Pflanze sei, „die bei uns noch immer so wenig gedeihen will, als die Theestaude in Schweden“, bat einst Martin Christoph Wieland einen Leser um Verzeihung, dass er ihm dessen Borniertheit etwas deutlicher machen musste – stammte dieser doch aus Deutschland, wo man Intellektuellen nicht nur nicht zuhöre, sondern überhaupt die Vorstellung fernliege, „daß etwas zur Fruchtbarkeit des Landes beitragen kann, das nicht sogleich in der Gestalt als Mist erscheint“ [1]. Wieland konnte nicht ahnen, dass einige Generationen später eine Form der Ironie um sich gegriffen haben würde, die selbst in der Gestalt von Mist daherkommt und als überraschungsfreies Schema auch noch vom Dümmsten verstanden wird. Diese Form der Ironie, bei der das Gesagte nichts anderes meint als sein Gegenteil und von einer überdeutlichen Mimik und einem entsprechenden Tonfall begleitet wird und auf nichts anderes zielt als auf augenzwinkernde Komplizenschaft, scheint mir das zu sein, was Oliver Krüger vor Augen hat, wenn er von Ironie als „tatsächlicher Verstellung“ (68) spricht. Diese grenzt er von einer zweiten Form ab, die in einem uneindeutigen Verhältnis zum Inhalt des Gesagten bleibt und bei der selbst noch die Frage offen bleibt, wie ironisch denn nun gemeint war, was gesagt wurde, weshalb er sie „Ironie als mögliche Nicht-Ironie“ (71) nennt. Dieser Form gilt offensichtlich Krügers Sympathie. Aufgrund ihres uneindeutigen Charakters sieht Krüger unter anderem Bezüge zum „Ungewisswerden des Wissens“ sowie zur Ungewissheit über den Erfolg pädagogischer Kommunikation (73f).

Nicht gerade spannend ist es, anderen beim Üben zuzuschauen. Auch die Lektüre von Ignatius von Loyola würden wohl die wenigsten als packend bezeichnen. Malte Brinkmann gelingt es aber nicht nur, den Begriffen der Übung und des Übens über eine Lektüre von Loyola Glanz zu verleihen, indem er sie mit den sehr viel glanzvolleren Begriffen der Macht und der Gouvernementalität zusammenbringt, sondern viel allgemeiner den Leser von der zentralen pädagogischen Bedeutung dieser Begriffe zu überzeugen und zu zeigen, welche theoretischen Herausforderungen diese mit sich bringen. Ausgang seiner Analyse und pädagogischen Anschlussüberlegungen ist die Übung, verstanden als „erzieherische und didaktische Inszenierung des Übens“ (100) und das Üben, verstanden als die Seite des individuell Übenden, die sich durch ein prekäres Verhältnis zur Macht auszeichnen: Einerseits als gouvernementales Arrangement fremdgeführter Selbstführung, andererseits als Ermöglichungsbedingung und Generator von Widerstand und Freiheits-Spielräumen.

Roswitha Lehmann-Rommel widmet sich einem ebenso vielversprechenden wie immer noch unterschätzten Begriff gegenwärtiger Theoriebildung: Dem des Experiments, bzw. des Experimentierens. Ihr Beitrag ist vor allem eine rekonstruktive Arbeit: Sie geht dem Experimentellen bei Kant und bei Dewey nach und beschränkt sich dabei nicht auf das semantisch Offensichtliche, sondern stellt vor allem die Bedeutung des Experimentellen bei Kant und Dewey in den jeweiligen denkerischen Kontext. Trotzdem liegt der Wert dieses Beitrags weniger in der Kant-, bzw. Dewey-Interpretation, sondern vielmehr in dem Anstoß, sich bei der theoretischen Auseinandersetzung mit Lern- und Bildungsprozessen nicht mehr vom Repräsentationsproblem lähmen zu lassen, sondern sich des Experiment-Begriffs zu bedienen, um neue theoretische Möglichkeiten in den Blick zu bekommen. Unnötig ist lediglich die Selbstverständlichkeit, mit der sie Deweys Unterscheidung eines technischen und eines philosophischen Experimentierens übernimmt.

Von dieser Unterscheidung lässt Gabriele Weiß sich – zumindest in der Wahl ihrer Bezugsautoren – nicht einschränken; neben Wilhelm von Humboldt beschäftigt sie sich nämlich auch mit dem Wissenschaftsforscher Ludwik Fleck. Zwar ist es nicht der Begriff des Experiments, den sie ins Zentrum ihres Aufsatzes stellt, sehr wohl sind es aber die Probleme, auf die dieser eine Antwort zu geben verspricht: Wie anders sprechen, als man spricht? Wie anders sehen, als man sieht? Zwei Foki leiten die erhellende Lektüre ihrer Bezugsautoren, die man vielleicht paraphrasieren kann als das Widerständige des Ermöglichenden und das Begrenzende des Weltaufschließenden.

Wer das wütende Manifest des Autorenkollektivs Tiqqun gegen die Vorherrschaft kybernetischen Denkens in der Gegenwart gelesen hat, wird den Wunsch nach einer soliden historischen Analyse als Lektüreergänzung nachvollziehen können. Sebastian Manharts Projekt, der „Entstehung der Bildungssemantik um 1800 zwischen Selbstorganisation, Leben, Mensch und Markt“ nachzugehen, weist in genau die richtige Richtung und ist zudem auf den bildungstheoretisch interessierten Leser ausgerichtet. Doch das Versprechen, über die Zusammenhänge der Titel-Begriffe aufzuklären, vermag der Text kaum einzulösen: Zu knapp der Platz, zu groß das Vorhaben. So wird Vieles nur angedeutet und bleibt unverbunden nebeneinander stehen.

Caroline Sommerfeld-Lethen beweist am Genie, speziell am Wunderkind Christian Heinrich Heineken, dass es oft lohnender ist, sich populären Figuren der pädagogischen Geschichte nicht als Forschungsobjekt zu widmen, sondern sie im Hinblick auf ihre Funktion für den pädagogischen Diskurs zu betrachten. So bleibt ihr Fokus trotz größerer Zeiträume scharf genug, wandeln sich die Probleme doch nicht so schnell wie die Bewältigungsstrategien. Wunderkinder, das legt Sommerfeld-Lethen nachvollziehbar dar, helfen dem theoretisierenden Pädagogen mit der Intransparenz des Kindes klarzukommen. Insofern Kinder auch heute noch erzogen werden und sie sich immer noch nicht in die Köpfe schauen lassen, ist es kein Wunder, dass der kleine Christian, der schon Kant bei der Entwicklung des Geniebegriffs beflügelt hat, auch noch die Redakteure von Geo Wissen zu betören vermag.

Schwer hat es dagegen Gilles Deleuze, in die Herzen der Pädagogen vorzudringen. Und Olaf Sanders bearbeitet einmal mehr den Widerstand des Lesers, sich mit ihm zu beschäftigen. Dabei wird deutlich, dass die pädagogisch interessierte Lektüre von Deleuze keiner Umwege bedarf: Hier wechselt die Philosophie mit der Pädagogik nicht nur Blicke und muss auch nicht mit dem Politischen erst verbunden werden. Gerade die Pädagogik des Begriffs, die Deleuze zusammen mit Guattari in „Was ist Philosophie?“ entwickelt und der sich Sanders in diesem Aufsatz widmet, sei als politischer Einsatz zu verstehen und zwar gegen die Bedrohungen des Denkens durch die Vorherrschaft der Kybernetik.

Ein kursorischer Überblick wie dieser kann den zum Teil sehr genauen Analysen in diesem Sammelband natürlich nicht gerecht werden. Es lohnt sich, dieser verkürzten Darstellung mit einer eigenen Lektüre zu begegnen.


[1] Wieland, Christoph Martin: Sämmtliche Werke. Neun und vierzigster Band, Miscellaneen, herausgegeben von J.G. Gruber, Leipzig 1826: Georg Joachim Göschen, S. 312.
Sönke Ahrens (Hamburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Sönke Ahrens: Rezension von: Thompson, Christiane / Weiss, Gabriele (Hg.): Bildende Widerstände – widerständige Bildung, Blickwechsel zwischen Pädagogik und Philosophie. Bielefeld: transcript 2008. In: EWR 8 (2009), Nr. 2 (Veröffentlicht am 27.03.2009), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/89942859.html