EWR 2 (2003), Nr. 4 (Juli/August 2003)

Heinz-Werner Wollersheim / Hans-Martin Moderow / Cathrin Friedrich (Hrsg.)
Die Rolle von Schulbüchern für Identifikationsprozesse in historischer Perspektive
Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2002
(311 Seiten; ISBN 3-935693-35-4; 44,00 EUR)
Die Rolle von Schulbüchern für Identifikationsprozesse in historischer Perspektive Die "Regionenbezogene Identifikation" als "Loyalitätsbeziehung zwischen Menschen im Horizont einer räumlich bezogenen Sinnordnung" steht im Zentrum des Erkenntnisinteresses des an der Universität Leipzig angesiedelten interdisziplinären Sonderforschungsbereiches "Regionenbezogene Identifikationsprozesse. Das Beispiel Sachsen" [1]. Im Gegensatz zu einem "substantialistischen Regionbegriff" erfolgt hier eine Konzentration auf "regionbezogene Identifikationsprozesse" (Hervorheb. C.H.), die auf eine "kollektive Imagination von ‚Region’" zielen [2]. Insofern sollen die "subjektiv(e) Bedeutsamkeit des Raumes", die "Herkunft der Elemente dieser spezifischen Sinnordnung" und diejenigen "Prozesse, die zum Aufbau dieser Sinnordnung beitragen", untersucht werden [3].

Mit dem hier zu besprechenden Band richten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Sonderforschungsbereiches ihr Interesse nun auf das Schulbuch und versuchen der Frage nachzugehen, welche Bedeutung die Schulbücher für "regionenenbezogene Identifikationsprozesse" haben. Mit dieser Thematik wird vor dem Hintergrund des sich derzeitig verändernden Verhältnisses zwischen regionalen, nationalstaatlichen und transnationalen Identifikationsprozessen eine – wenn auch unter historischer Perspektive betriebene – aktuelle Fragestellung verfolgt.

Die Ergebnisse des Bandes werden von den Herausgebern "eher" als "versuchsweise Annäherung denn als systematische Exploration", die vorgelegten Texte als "Arbeitstexte, die Anregung geben", verstanden (17f.). Die Annäherung an die Thematik erfolgt auf drei Ebenen: Im ersten Teil des Bandes werden unter der Rubrik "Produktionsstrukturen" die "politischen, wirtschaftlichen und fachwissenschaftlichen Rahmenbedingungen der Schulbuchproduktion" untersucht (fünf Beiträge); die "qualitativen und quantitativen Bezüg(e) von Schulbuch-Texten auf die Region" bilden den Schwerpunkt des mit "Inhalte" überschriebenen zweiten Teils (zehn Beiträge) und der dritte – mit einem Aufsatz auch der kürzeste – Teil ist der "individuellen bzw. gesellschaftlichen Rezeption von Schulbüchern" gewidmet (15f.).

Mit der dreidimensionalen Herangehensweise an die Thematik gehen die Herausgeber über eine eindimensionale rein inhaltsanalytische Betrachtung des Schulbuches hinaus. Der Schwerpunkt des Bandes liegt dabei insbesondere bei der Untersuchung der Schulbuchinhalte, die explizit auf die Region verweisen.

Bei der Rekonstruktion der Produktionsstrukturen und in den Schulbüchern selbst werden von den Autoren eine Vielzahl an regionbezogenen Verweisen festgestellt; deren Bedeutung für die Anregung von "regionenspezifischen Identifikationsprozessen" wird allerdings als eher gering eingeschätzt.

Im Bereich der staatlichen Schulbuchkontrolle in Sachsen im 19. Jahrhundert konnte Hans-Martin Moderow – bis auf die staatliche Förderung eines Geschichtsbuches – keine systematische regionenspezifische Vorgehensweise feststellen (vgl. 2ff.). Die Ursachen sind u.a. in der von Volker Titel überzeugend nachgewiesenen überregionalen Orientierung der Schulbuchverlage und des Schulbuchhandels zu finden, der auch eine regionalstaatliche Zulassungskompetenz – bis auf Einzelfallentscheidungen – nicht entgegen stand (vgl. 85).

Ulrike Sommer arbeitete bei ihrer Analyse der "Darstellung der Vorgeschichte in sächsischen Geschichtsbüchern des 19. Jahrhunderts" heraus, dass sich in den Schulbüchern eine sonst zu den grundlegenden Bestandteilen kollektiver Identität gehörende "Ursprungslegende" im Fall von Sachsen nicht herausgebildet hat. Sie stellt die These auf, dass vielmehr von einer Rückprojektion selbstzugeschriebener Eigenschaften auszugehen sei (vgl. 153f.). Cathrin Friedrich, Matthias Middell und Ulrike Sommer konnten in ihrer Untersuchung zu Geschichtsbildern in sächsischen Schulbüchern eine "sächsische Meistererzählung im Sinne einer insgesamt konsequent durchkonstruierten sachsenbezogenen identitätsstabilisierenden Konstruktion" nicht nachweisen (213). In den hessischen Lesebüchern der Volksschule im 19. Jahrhundert fand Klaus Schlupp "lokale und regionale Bezüge" "eher selten" (269).

Bei der überwiegenden Mehrzahl der inhaltsorientierten Beiträge fällt in diesem Zusammenhang auf, dass der Nachweis "regionenspezifischer Identität" zunächst auf den Nachweis entsprechender auf die Region bezogener Inhalte zielt. Damit wird das Schulbuch vorerst auf der Ebene des "Informatoriums" analysiert [4] . Zwei weitere wichtige Dimensionen finden im ersten Zugang weniger Beachtung: Das Schulbuch als "Politicum" und "Paedagogicum". So werden die Ergebnisse überwiegend vor dem Hintergrund des fachwissenschaftlichen Diskurses bewertet, ein Bezug auf gesellschaftliche, allgemeinpädagogische und fachdidaktische Diskurse findet sich selten.

Möglichkeiten zur Anregung "regionspezifischer Identifikationsprozesse" werden u.a. von Solveig Jobst, Hans-Peter Hasse und Hans-Martin Moderow aufgezeigt.

Einen mehrdimensionalen Ansatz der Schulbuchanalyse führt Jobst in ihrer Untersuchung zum "Raum Sachsen in sächsischen Heimatkundeschulbüchern" durch. Ausgehend von einem Kästner-Zitat ("Mißtraut gelegentlich Euren Schulbüchern!") verweist sie implizit auf die politische, pädagogische und informierende Bedeutung des Schulbuches (243f.). Auf der Grundlage der politischen Vorgaben im Lehrplan stellt sie zwei Dimensionen in den Vordergrund ihrer Untersuchung: 1. die "Präsentation von regionbezogenem Wissen" im Schulbuch und 2. die "Steuerung der Wissensaneignung" durch das Schulbuch (245). Sie fragt also unter pädagogischer Perspektive auch nach den Möglichkeiten der Vermittlung regionbezogenen Wissens. Mit diesem methodischen Ansatz gelingt es ihr Prozesse zu kennzeichnen, die im Sinne des "entdeckenden Lernens" zum Aufbau einer gemeinsamen "Sinnordnung" beitragen können.

Mit der Einordnung des "Wittenberger Katechismus" in den theologischen Diskurs der Zeit kann Hasse die enge Verzahnung von Konfessions- und Regionalbewusstsein im 16. Jahrhundert aufzeigen. Ferner verdeutlicht dieser Beitrag unter Berücksichtigung der politischen Dimension des Schulbuches, wie mit Maßnahmen der Bücherzensur versucht wurde, eine "Stabilisierung und Profilierung des Konfessions- und Regionalbewusstseins" zu erreichen (vgl. 116).

Moderow untersucht in sächsischen Lesebüchern für die Volksschule im 19. Jahrhundert insbesondere das Verhältnis des Regionalen zur Nation und kann so die sinnstiftenden Prozesse über die Analyse des Kontextes, in dem die regionspezifischen Inhalte im Schulbuch präsentiert werden, erarbeiten. Bei weiterführenden Untersuchungen wäre es interessant, die für die Unterrichtspraxis maßgeblichen "Präparationen" für die Hand des Lehrers in die Untersuchung einzubeziehen.

Mit diesem Band zur Rolle von Schulbüchern für Identifikationsprozesse bietet die Forschergruppe einen ersten Einstieg in die komplexe Fragestellung der Vermittlung regionenspezifischer Identität durch das Schulbuch. Mit der Vielzahl an präsentierten Einzelergebnissen werden vielfältige Anregungen für eine regionorientierte Schulbuchforschung gegeben.

[1] Fach, Wolfgang / Köhnke, Karl-Christian / Middell, Matthias / Mühler, Kurt / Siegrist, Hannes / Tzschaschel, Sabine / Wollersheim, Heinz-Werner: Regionenbezogene Identifikationsprozesse. Das Beispiel "Sachsen" – Konturen eines Forschungsprogramms. In: Wollersheim, Heinz-Werner / Tzschaschel Sabine / Middell, Matthias (Hrsg.): Region und Identifikation. Leipzig 1998, 4.
[2] Ebd., 3f.
[3] Ebd., 3.
[4] Stein, Gerd: Das Schulbuch – Politicum/Informatorium/Paedagogicum oder: von der Unzulänglichkeit eindimensionaler Schulbuchforschung. In: Ders.: Schulbuchwissen, Politik und Pädagogik. Untersuchungen zu einer praxisbezogenen und theoriegeleiteten Schulbuchforschung. Kastellaun 1977, 231-241.
Carsten Heinze (Augsburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Carsten Heinze: Rezension von: Wollersheim, Heinz-Werner / Moderow, Hans-Martin / Friedrich, Cathrin (Hg.): Die Rolle von Schulbüchern für Identifikationsprozesse in historischer Perspektive, Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2002. In: EWR 2 (2003), Nr. 4 (Veröffentlicht am 01.08.2003), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/93569335.html