EWR 21 (2022), Nr. 4 (Oktober)

Sabine Lee / Heide Glaesmer / Barbara Stelzl-Marx (Hrsg.)
Children Born of War
Past, Present and Future
London, New York: Routledge 2022
(359 S.; ISBN 978-0-367-19013-2; 120,00 GBP)
Children Born of War Die Bezeichnung ‚Children born of War‘ (CBOW) wurde 2006 auf einem internationalen Expert*innentreffen als Bezeichnung fĂŒr Kinder eingefĂŒhrt, fĂŒr die zuvor eine Reihe von abwertenden Begriffen existierte. Im deutschsprachigen Forschungskontext wurden diese Kinder, die nach dem Zweiten Weltkrieg aus sexuellen Kontakten zwischen einheimischen Frauen und Angehörigen der alliierten StreitkrĂ€fte hervorgingen, ‚Besatzungskinder‘ genannt. Nicht alle Kinder entstammen einer einvernehmlichen sexuellen Begegnung oder einer Liebesbeziehung. In den letzten Kriegsmonaten und der unmittelbaren Nachkriegszeit ĂŒberwogen FĂ€lle von (Massen-)Vergewaltigungen, aber auch der Austausch von Sex gegen Ware oder Geld war in Zeiten von Wohnungslosigkeit und Hungersnot keine Seltenheit. Beziehungen zwischen Besatzungssoldaten und einheimischen Frauen wurden von den MilitĂ€rregierungen – trotz anfĂ€nglich erlassener Fraternisierungsverbote in der britischen und amerikanischen Zone – oft toleriert. Mit dem Bekanntwerden einer Schwangerschaft wurden die Soldaten jedoch meist versetzt und durch die bestehende Rechtslage konnten sie nicht zu Alimentationen herangezogen werden.

In und nach ‚jedem‘ Krieg haben Besatzungssoldaten mit einheimischen Frauen Kinder gezeugt, auch deutsche Soldaten in den von der Wehrmacht besetzten Gebieten. Wissenschaftler*innen der norwegischen UniversitĂ€t Bergen erforschten ab Mitte der 1990er Jahre als erste die gesellschaftlichen und staatlich legitimierten Ausgrenzungsprozesse dieser Kinder [1]. Mit dieser historischen Genese des Themas wird bereits ein grundlegendes Problem des vorliegenden Sammelbandes benannt, der Ergebnisse eines vom ‚European Union’s Horizon 2020 Forschungs- und Innovationsprogramm‘ geförderten Projektes (CHIBOW) prĂ€sentiert [2]. In ihrem Beitrag ĂŒber ‚Children born of war: a critical appraisal of the terminology‘ verschweigen die Herausgeberinnen Sabine Lee und Heide Glaesmer die AnfĂ€nge der in Norwegen entstandenen Forschung ĂŒber CBOW und fĂŒhren sie stattdessen zurĂŒck auf R. Charli Carpenters Studie ĂŒber Kinder, die im Krieg als Folge von sexueller Gewalt zur Welt kamen [3]. Auf der Suche nach einer nichtdiskriminierenden Bezeichnung fĂŒr die weltweit in Kriegen gezeugten Kinder wurde auf dem o.g. Expert*innentreffen zwar auf Carpenters Buchtitel „Born of War“ Bezug genommen, aber der Vorschlag CBOW kam von Ingvill C. Mochmann, die an der Erhebung und Auswertung der norwegischen Daten mitgearbeitet hatte [4]. Ausgangspunkt der Forschung war somit nicht das Thema sexuelle Gewalt an Frauen im Krieg, da Sexualkontakte zwischen Norwegerinnen und deutschen Soldaten aus ‚rassisch‘-ideologischen GrĂŒnden durchaus erwĂŒnscht waren und die Kinder mehrheitlich einvernehmlichen Sexualkontakten oder Liebesbeziehungen entstammen. Einige der nachfolgenden BeitrĂ€ge im Band ĂŒbernehmen die von Lee und Glaesmer vorgegebene einseitige Definition von CBOW, wobei andere wiederum das gesamte Spektrum möglicher sexueller Begegnungen zwischen einheimischen Frauen und ‚fremden‘ Soldaten in den Blick nehmen. Auch die auf aktuelle Kriege bezogene Begriffserweiterung, die zwischen vier Kategorien von CBOW differenziert (14), geht auf Mochmann zurĂŒck [5]. Verwiesen wird allerdings auf einen erst 2017 erschienenen Artikel der Autorin [6], was ihre Urheber*innenschaft verschleiert.

Die weiteren BeitrĂ€ge des Bandes offerieren ein breites Spektrum an geschichtswissenschaftlichen und psychologischen Qualifizierungsarbeiten, wobei die Anordnung der einzelnen Artikel im Band keine erkennbar chronologische oder systematische Gliederung erkennen lĂ€sst. Drei BeitrĂ€ge thematisieren ethische Herausforderungen in ‚Oral History‘-Projekten bzw. bei partizipativer Forschung mit Betroffenen [5]. Schon lĂ€nger mit Ethikfragen befasste Forscher*innen erfahren nichts grundlegend Neues, aber die BeitrĂ€ge arbeiten gut heraus, welche Herausforderung die Umsetzung von EU-Vorgaben in Staaten bedeutet, deren UniversitĂ€ten noch keine Ethikkommissionen implementiert haben. Hier hat das CHIBOW-Projekt zweifelsohne Institutionalisierungsprozesse in Gang gesetzt. Fragen von Datenschutz und Datenmanagement werden angesprochen, was fehlt, sind Empfehlungen zur Archivierung, Bereitstellung und Nachnutzung von Forschungsdaten. Einige Gruppen von CBOW, wie bspw. die Nachkommen ehemaliger Kindersoldatinnen in Uganda, gelten schon jetzt als â€šĂŒberforscht‘, d.h. dieselben Kinder wurden wiederholt interviewt und/oder beobachtet, was sie aus ethischer Sicht nicht zu rechtfertigendem Stress aussetzte [7]. Um die zu untersuchenden Kinder möglichst wenig zu belasten, hat Boniface Ojok in einer Schule AufsĂ€tze schreiben lassen. In den Schreibprozess wurden nicht nur die CBOW, sondern alle Kinder einer Klasse einbezogen, und es wurde deutlich kommuniziert, dass nur der Forscher, nicht aber die LehrkrĂ€fte, die AufsĂ€tze lesen wĂŒrde (91ff.).

Saskia Mitreuter bezieht sich in ‚Questions of identity in German occupation children born after Word War II: approaching a complex phenonomen with mixed-methods analyses‘ auf Daten, die dem quantitativ-empirisch angelegten Projekt ‘Besatzungskinder: Die Kinder des Zweiten Weltkrieges in Deutschland: Psychosoziale Konsequenzen, Stigmatisierung und IdentitĂ€tsentwicklung‘ [8] entstammen, und reproduziert damit einiges, was methodisch hinterfragbar ist. FragwĂŒrdig erscheint bspw. der Vergleich der ‚Gruppe‘ der ‚Besatzungskinder‘ mit einer reprĂ€sentativen Stichprobe der allgemeinen deutschen Bevölkerung (154), demzufolge ‚Besatzungskinder‘ signifikant hĂ€ufiger als die allgemeine Bevölkerung unter posttraumatischen Belastungsstörungen, Depressionen und körperlichen Beschwerden leiden. Eine reprĂ€sentative Stichprobe kann man nur aus einer bekannten Grundeinheit ziehen, was bei ‚Besatzungskindern‘ aber nicht möglich ist. FĂŒr die BRD exisitieren keine belastbaren, fĂŒr die DDR gar keine Zahlen. Welcher Aussagewert kommt damit dem Vergleich einer reprĂ€sentativen mit einer nichtreprĂ€sentativen Gruppe zu? Auch der Begriff ‚Gruppe‘ könnte aus sozialpsychologischer Sicht hinterfragt werden: Allenfalls könnte er fĂŒr die in Betroffenennetzwerken organisierten Personen gelten, die aber unter den auf 200.000 bis 300.000 geschĂ€tzten ‚Besatzungskindern‘ eine kleine Minderheit darstellen. Die Ausweitung der Bezeichnung ‚Besatzungskinder‘ auf nach 1955 geborene Kinder (157) macht politikhistorisch wenig Sinn. Zumindest die BRD war ab 1955 kein besetztes Land mehr, sondern VerbĂŒndete im Kalten Krieg. Sollte mit der Ausweitung ins Jahr 1966 ein grĂ¶ĂŸeres Sample erreicht werden, um den Vergleich mit der allgemeinen Bevölkerung legitimer erscheinen zu lassen?

Mitreuter und weitere Autor*innen geben an, dass sie neben quantitativen auch qualitative Verfahren verwendet hĂ€tten. Im Band ist viel ĂŒber InterviewfĂŒhrung und Bildung von Fokusgruppen zu lesen, aber fast nichts ĂŒber Auswertungsmethoden. In diesem Zusammenhang verwundert es doch sehr, dass Publikationen aus dem von der DFG geförderten Projekt ‚Besatzungskinder in Nachkriegsdeutschland – Bildungs- und Differenzerfahrungen‘ nicht stĂ€rker berĂŒcksichtigt wurden [9]. Rezipiert wurden einige Überblicksartikel, nicht aber Publikationen, in denen narrativ-biografische Interviews in Form von case studies ausgewertet wurden. Von dieser Methodenkompetenz hĂ€tten etliche der vorliegenden BeitrĂ€ge profitieren können, da der methodische Umgang mit lebensgeschichtlichen ErzĂ€hlungen deutlich unterkomplex ausfĂ€llt. Unter qualitativen ZugĂ€ngen scheint lediglich verstanden zu werden, den Stimmen von Betroffenen Gehör zu verschaffen (164). Über dieses Stadium ist die Methodendiskussion in der Oral History-Forschung aber lĂ€ngst hinaus. Das Pathos, mit dem abschließend CBOW in Deutschland zu „bridge builders in a society in transition“ verklĂ€rt werden (164), weil sie die Akzeptanz von Differenzen befördert hĂ€tten, scheint eher die Bedeutung der eigenen Forschungsleistung hervorheben zu wollen, weil man der gesellschaftlichen, politischen und wissenschaftlichen Relevanz, die dem Thema gerade angesichts aktueller Kriege zweifelsohne zukommt, nicht traut.

[1] Mochmann, I. C., & Larsen, S. U. (2008). ‘Children Born of War’: The Life Course of Children Fathered by German Soldiers in Norway and Denmark during WWII — Some Empirical Results. Historical Social Research/Historische Sozialforschung 33(1), 347–363.
[2] Da der Verlag fĂŒr die Rezension kein Printexemplar zur VerfĂŒgung stellte, werden die Seitenzahlen entsprechend der E-Book-Ausgabe angegeben.
[3] Carpenter R. C. (2007). Born of war: protecting children of sexual violence survivors in conflict zones. Kumarian Press.
[4] Mochmann, I. C. (2006). Consolidating the Evidence Base of Children Born of War. ZA-Information, 198-199.
[5] Differenziert wird zwischen Kindern 1) feindlicher Soldaten, 2) von Besatzungssoldaten, 3) von Kindersoldatinnen und 4) von Angehörigen internationaler Friedenstruppen. Vgl. Mochmann, I. C. (2008). Children Born of War. In OBETS – Revista de Ciencias Sociales, 2, 53-61.
[6] Mochmann, I. C.(2017). Children Born of War - A Decade of International and Interdisciplinary Research. Historical Social Research 42(1), 320-346.
[7] Mukasa, N., & /Mochmann, I. C. (2022, 1. September). Doing or not doing harm? Ethical issues in researching Children Born of War. https://blog.gesis.org/doing-or-not-doing-harm-ethical-issues-in-researching-children-born-of-war/amp/
[8] Kaiser, M., Glaesmer, H.,Kuwert, P .(2022, 22. August). ’Besatzungskinder’: Die Kinder des Zweiten Weltkrieges in Deutschland: Psychosoziale Konsequenzen, Stigmatisierung und IdentitĂ€tsentwicklung. https://www.uniklinikum-leipzig.de/einrichtungen/medizinische-psychologie/Seiten/psychotraumatologie-besatzungskinder-deutschland.aspx
[9] Kleinau, E. (2018). ‘Besatzungskinder’ in Nachkriegsdeutschland: Bildungs- und Differenzerfahrungen. https://gepris.dfg.de/gepris/projekt/279094103/ergebnisse?context=projekt&task=showDetail&id=279094103&selectedSubTab=2&
Elke Kleinau (Köln)
Zur Zitierweise der Rezension:
Elke Kleinau: Rezension von: Lee, Sabine / Glaesmer, Heide / Stelzl-Marx, Barbara (Hg.): Children Born of War, Past, Present and Future. London, New York: Routledge 2022. In: EWR 21 (2022), Nr. 4 (Veröffentlicht am 11.11.2022), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978036719013.html