EWR 14 (2015), Nr. 1 (Januar/Februar)

Kirsten Meyer (Hrsg.)
Education, Justice and the Human Good
Fairness and equality in the education system
Oxford, New York: Routledge 2014
(166 S.; ISBN 978-0-4157-1480-8; 111,95 EUR)
Education, Justice and the Human Good Der von Kirsten Meyer bei Routledge herausgegebene Band „Education, Justice and the Human Good. Fairness and equality in the education system” versammelt BeitrĂ€ge, die sich mit Fragen der Bildungsgerechtigkeit beschĂ€ftigen. Einige der BeitrĂ€ge sind bereits an anderer Stelle erschienen bzw. fĂŒr den Sammelband erweitert und ĂŒberarbeitet worden. Der systematische Schwerpunkt des in acht Kapitel gegliederten Bandes liegt auf zentralen Problemen der Debatte zwischen egalitĂ€r und non-egalitĂ€r justierten AnsĂ€tzen der Bildungsgerechtigkeit und hiermit verschrĂ€nkten Fragestellungen nach dem guten Leben und dem Wert von Bildung.

Dieses ambitionierte theoretische Unternehmen, fĂŒr das einige der maßgeblichen Autoren aus der internationalen erziehungs-, politik- und moralphilosophischen Debatte gewonnen werden konnten (z. B. Brighouse / Swift, Satz, Gosepath), wird von der Herausgeberin in der Einleitung wie folgt skizziert: „Reflections on justice in education need to deal with questions about the value of education, regardless of whether one takes over an egalitarian or non-egalitarian perspective. It might even turn out that some of the rifts between the different approaches to educational justice are rooted in different accentuations of the value of education and different aspects of the good life that are connected to it” (6). Die quer zu den klassischen Fragen (Why equality? Equality of what? Equality among whom?) liegende Aufgabe einer theoretischen KlĂ€rung von Fragen nach dem guten Leben und dem Wert von Bildung in Theorien der Bildungsgerechtigkeit umfasst einen komplexen und vielschichtigen Problemnexus. Welche systematische BegrĂŒndungsfunktion kommt z. B. Konzeptionen des guten Lebens in Theorien der Bildungsgerechtigkeit zu? In welchem VerhĂ€ltnis stehen unterschiedliche Konzeptionen der Bildung zu unterschiedlichen Konzeptionen des guten Lebens (z. B. eher subjektivistische vs. eher objektivistische / perfektionistische AnsĂ€tze)? Wie ist das VerhĂ€ltnis zwischen unterschiedlichen Konzeptionen der Bildung, der Autonomie und der Chancengleichheit einzuschĂ€tzen?

Den Anfang machen Brighouse und Swift (Kapitel eins), die ausgehend von der Annahme, dass Bildung in modernen Gesellschaften auch, aber nicht nur, ein positionales Gut darstellt, drei egalitĂ€re Prinzipien diskutieren, die jeweils erlauben, unterschiedliche Quellen der Bildungsungleichheit als (il-)legitim zu qualifizieren (z. B. soziale Herkunft). EgalitĂ€re Prinzipien mĂŒssen jedoch, so Brighouse und Swift, auch im Rahmen einer egalitĂ€r orientierten Konzeption der Bildungsgerechtigkeit gegen andere Prinzipien und Werte abgewogen und diesen im Konfliktfall ggf. untergeordnet werden (z. B. Werte, die mit der sozialen Institution der Familie in Verbindung gebracht werden). Der in der Auseinandersetzung mit StandardeinwĂ€nden gegen egalitĂ€re Konzeptionen (EinschrĂ€nkung elterlicher Freiheiten; lĂ€ngerfristige SchĂ€digungen der schlechter Gestellten durch ausbleibende „trickle-down“-Effekte auf Grund von ProduktivitĂ€tseinbußen) zur Diskussion gestellte pluralistische Egalitarismus ist entsprechend recht inklusiv angelegt und kann auch suffizienzorientierte ErwĂ€gungen als einen Aspekt einer Theorie der Bildungsgerechtigkeit integrieren. Auch Gosepath geht in seinem Beitrag (Kapitel sechs) davon aus, dass eine Theorie der Bildungsgerechtigkeit, die der KomplexitĂ€t moderner Gerechtigkeitskulturen gerecht werden soll, nicht prinzipienmonistisch angelegt sein darf. Er unterscheidet drei Ebenen von Bildung, die er drei Zielen und Funktionen des Schulsystems zuordnet, in denen jeweils unterschiedliche Gleichheitsprinzipien Anwendung finden sollen. Im Unterschied zu den Konzeptionen von Gosepath und Brighouse / Swift geht Satz (Kapitel zwei) in ihrem Beitrag zunĂ€chst von einer suffizienzorientierten Konzeption der Bildungsgerechtigkeit aus, in die jedoch in Form eines Ideals der gleichen StaatsbĂŒrgerschaft („equal citizenship“) komparativ-egalitĂ€re Dimensionen eingehen. Sie nutzt die Auseinandersetzung mit einigen einschlĂ€gigen Kritiken an Rawls Prinzip der fairen Chancengleichheit („fair equality of opportunity“) um ihre eigene non-egalitĂ€r/egalitĂ€re Mischposition schĂ€rfer zu konturieren und zugleich eine modifizierte Version des Rawls‘schen Prinzips unter der Schirmherrschaft des Ideals der gleichen StaatsbĂŒrgerschaft in ihren Ansatz einzugemeinden (vgl. hierzu die kritische Diskussion in dem sehr lesenswerten Beitrag von Stroop: Kapitel sieben). Sie rĂŒckt dabei vor allem die Frage nach der evaluativ-normativen BegrĂŒndung der GĂŒter und Gelegenheiten in den Fokus, deren ZugĂ€nglichkeit durch Prinzipien der Chancengleichheit reguliert werden sollen.

Curren versucht in seinem Beitrag (Kapitel fĂŒnf) auf Basis einer Kombination aus Neoaristotelismus, kantischer Ethik und Rawls politischer Philosophie eine suffizienzorientierte Konzeption der Bildungsgerechtigkeit zu begrĂŒnden. Dabei bleibt jedoch eher fraglich, ob sich diese eher disparaten Theorieelemente auch tatsĂ€chlich ohne weiteres miteinander harmonisieren und im Rahmen von politisch liberalen RechtfertigungsbeschrĂ€nkungen vereinigen lassen. Giesinger geht in seinem Beitrag (Kapitel vier) davon aus, dass sich Fragen der Bildungsgerechtigkeit nicht trennen lassen von Fragen der evaluativen BegrĂŒndung des Werts von Bildung und der politischen Rechtfertigung von Erziehungszielen in liberalen Demokratien. Nach einer kritischen Analyse des meritokratischen Prinzips von Brighouse / Swift sowie von Versuchen einer perfektionistischen Rechtfertigung von Bildung (Cuypers), verteidigt er im Anschluss an die Konzeption der gleichen StaatsbĂŒrgerschaft von Satz eine politisch liberale Rechtfertigung (sensu Rawls) von Bildungszielen, die dann als Grundlage einer suffizienzorientierten Konzeption der Bildungsgerechtigkeit dient. Ob die in Abgrenzung von Rawls und Nussbaum vorgeschlagene Integration einer, wenn auch eher bescheidenen, Konzeption personaler Autonomie als ein Aspekt gleicher StaatsbĂŒrgerschaft in eine politisch liberale Rechtfertigungsordnung gelingen kann und ob der Versuch einer Rechtfertigung von BildungsgĂŒtern wie Kunst oder Literatur nicht vielleicht doch ĂŒber die mit einer „civic conception of education“ gesetzten Grenzen hinausgeht, wĂ€re zu diskutieren. Schramme (Kapitel drei) nimmt Feinbergs Unterscheidung zwischen komparativen und non-komparativen Konzeptionen der Gerechtigkeit zum Ausgangspunkt und setzt diese im Kontext der Debatte ĂŒber einen gerechten Zugang zu universitĂ€rer Bildung in Beziehung zur etablierten Unterscheidung zwischen „training“ (Ausbildung) und „education“ (im Sinne eines Humboldt‘schen Bildungsideals). Im Rahmen der Diskussion von BegrĂŒndungen des Werts von universitĂ€rer Ausbildung und / oder Bildung (als instrumentelle und / oder intrinsische Werte bzw. kompetitive oder nichtkompetitive GĂŒter) argumentiert er fĂŒr eine non-komparative Lesart des Prinzips der Chancengleichheit. Abgerundet wird der Band mit einem Beitrag von Meyer (Kapitel acht), in dem die Nutzung der Kategorie der „Begabung“ in Debatten ĂŒber Bildungsgerechtigkeit einer kritischen Analyse unterzogen wird.

Dieses recht breit angelegte Problemspektrum, das auch solche Fragestellungen einbezieht, die in der deutschsprachigen Erziehungsphilosophie und -wissenschaft aufgrund von Forderungen nach „ethisch-epistemischer Abstinenz“ [1] und ĂŒbergeneralisierter NormativitĂ€tsskepsis hĂ€ufig eher vernachlĂ€ssigt werden, ist begrĂŒĂŸenswert. Die theoretische Analyse der spezifischen ZusammenhĂ€nge zwischen Fragen des guten Lebens, des Werts von Bildung und der Bildungsgerechtigkeit eröffnet neue Perspektiven auf die Debatte zwischen suffizienzorientierten und egalitaristischen TheorieansĂ€tzen, in der in mancher Hinsicht eine wechselseitige AnnĂ€herung, wenn nicht sogar Angleichung, beider Positionen zu verzeichnen ist (z. B. Abkehr vom Prinzipienmonismus und Zuwendung zum Prinzipienpluralismus; das zunehmende Auftreten von egalitĂ€r / non-egalitĂ€ren Mischpositionen; partielle Äquivalenz der normativen Zielvorgaben bei Differenz der BegrĂŒndungsmodi). Diese AnnĂ€herung fĂŒhrt zwar manchmal zu eher schwer durchschaubaren Prinzipienmixturen (z. B. der Ansatz von Satz, der gewisse exegetische FreirĂ€ume offenlĂ€sst), kann aber grundsĂ€tzlich als gesteigertes Problembewusstsein in einer differenziert gefĂŒhrten Debatte gewertet werden. Insgesamt bleibt festzuhalten, dass Meyer einen theoretisch anspruchsvollen und empfehlenswerten Band zusammengestellt hat, der fĂŒr jeden, der sich fĂŒr erziehungs-, politik- und moralphilosophische Fragestellungen zur Bildungsgerechtigkeit interessiert, eine Bereicherung darstellen wird.

[1] Jaeggi, R.: Kritik von Lebensformen. Berlin: Suhrkamp 2013, 31.
Johannes Drerup (MĂŒnster)
Zur Zitierweise der Rezension:
Johannes Drerup: Rezension von: Meyer, Kirsten (Hg.): Education, Justice and the Human Good, Fairness and equality in the education system. Oxford, New York: Routledge 2014. In: EWR 14 (2015), Nr. 1 (Veröffentlicht am 06.02.2015), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978041571480.html