EWR 21 (2022), Nr. 4 (Oktober)

Emile Bojesen
Forms of Education
Rethinking Educational Experience Against and Outside the Humanist Legacy
Abingdon: Routledge 2020
(141 S.; ISBN 978-1-0320-8319-3; 36,00 EUR)
Forms of Education Emile Bojesen erforscht in seinem 2020 erschienenen Buch “Forms of Education: Rethinking Educational Experience Against and Outside the Humanist Legacy” Möglichkeiten, der einflussreichen Tradition des Humanismus zu entkommen. Dessen Spuren entdeckt er auch in den pädagogischen Entwürfen solcher Autor*innen, die gemeinhin nicht unter diesem Etikett verhandelt werden, sondern etwa dem Anarchismus, dem Pragmatismus oder Poststrukturalismus zugerechnet werden.

Bojesens Spurensuche gliedert sich in zwei Teile, die den Titel des Buchs aufgreifen: „Against“ und „Outside“. Der erste Teil arbeitet sich in dekonstruktiver Absicht an humanistischen Motiven im Bildungsdenken ab; der zweite versucht, Alternativen dazu zu erkunden. Zu diesen beiden Zwecken verfasst Bojesen jeweils fünf Essays zu Stichworten, die sich sowohl einzeln lesen lassen als auch aufeinander aufbauen und Bezüge zueinander herstellen: „Legacy“, „Disharmony“, „Domestication“, „Expenditure“ und „Legitimacy“ im ersten Teil, „Psyche“, „Waves“, „Narcissus“, „Space“ und „Conversation“ im zweiten.

Das meines Erachtens zentrale systematische Anliegen des Buchs besteht darin, den Begriff der „education“ auszuweiten: gegen moralistische Verengungen (nur gute Bildung oder Bildung zum Guten sei Bildung), gegen technokratische Vorstellungen „erfolgreicher“ Bildung und gegen einseitige Verengung auf institutionalisierte Bildung, die eine Intentionalität oder zumindest ein interpersonales Verhältnis impliziert. Demgegenüber begreift Bojesen „education as the (de)formation of the non-stable subject“ (130). Diese Definition hat zur Folge, dass beispielsweise auch Räume, insofern sie zur Subjekt(de)formation beitragen, Agenten der Education werden. So schreibt Bojesen: „An educational space is not just a space where education happens; it is a space which educates“ (106). Aus dieser Perspektive betont Bojesen stark die passive Seite der Bildung, deren Subjekte keine Kontrolle über ihre eigene Bildungserfahrung haben und die daher auch nicht analytisch vorherbestimmt werden kann: Erziehung „can be experienced without resorting to qualifying that experience with any particular content, process, or outcome“ (3).
Während viele der Motive einer in diesem Sinne nicht-humanistischen Fassung von Bildung in den deutschen Diskussionen spätestens seit der breit rezipierten „Theorie transformatorischer Bildungsprozesse“ [1] bekannt sein dürften, scheinen mir insbesondere die Wahl der zumindest aus deutscher Perspektive ungewöhnlichen Bezugstheoretiker*innen sowie die Nutzung psychoanalytischer Konzepte besondere Anregungspotentiale entfalten zu können.

Für Bojesen wichtige Autor*innen sind neben Jacques Derrida auch Maurice Blanchot, Pleshette DeArmitt, Sigmund Freud und Virginia Woolf. Diese liest er als Gewährsleute für die Möglichkeit, Bildung nicht-humanistisch zu denken. Demgegenüber macht er humanistische Restbestände auch in Theoretiker*innen wie etwa John Dewey, Jacques Rancière, Michail Bakunin oder Pyotr Kropotkin aus. Diese Namenreihen zeigen bereits, wie breit aufgestellt Bojesens Referenzen sind und wie wenig das Buch davor zurückschreckt, nicht weiter zwischen theoretischen, literarischen und politischen Schriften zu unterscheiden. Diese Mischung wird meiner Wahrnehmung nach zwar auch in deutschen Diskussionen angemahnt, jedoch selten so konsequent wie in Bojesens Buch vollzogen.

Die Nutzung psychoanalytischer Konzepte aus dekonstruktiver Perspektive mag überraschen – wird doch gerade auch in den Diskussionen um „transformatorische Bildung“ vor der Annahme eines (zu) „starken Subjekts“ zurückgeschreckt. Bojesen beruft sich jedoch auf Derrida selbst, der „Freuds Maschinerie“ gerade als mögliche Waffe gegen ein solches begreift: „the large Freudian machines (including the concept and the word ‘unconscious’!) – are in my opinion only provisional weapons, or even rhetorical tools cobbled together to be used against a philosophy of consciousness, of transparent and fully responsible intentionality“ (Derrida nach Bojesen 71). Insofern Bojesen das „only provisional“ unter den Tisch fallen lässt und Freud zwar nicht als Theoretiker einer „underlying and somewhat universal human nature“ liest, aber immer noch als eine bedeutsame „psychic anthropology of his own society, itself a symptom of the repressions it intended to analyse“ (77), bleibt das Subjekt – for better or worse – der zentrale Bezugspunkt seiner Ausführungen. Dies wird darüber hinaus in dem titelgebenden Begriff der (bildenden) Erfahrung deutlich. So schreibt Bojesen, er halte es für notwendig „to not simply re-launch […] radical critique of education, but to supplement it with an attempt to articulate a much broader conception of educational experience“ (124).

Insgesamt wirkt Bojesens Auseinandersetzung mit dem Humanismus aus deutscher Perspektive mitunter gewöhnungsbedürftig, beispielsweise hinsichtlich der historischen Einordnung: „The humanist legacy of educational thought and practice has withstood 50 years of technological advancement, as well as multiple attempts to confront its elitisms, compulsions, repressions, exclusions, and hierarchies“ (124). Auch für die deutsche Diskussion zentrale Bezüge fehlen – Humboldt etwa kommt im ganzen Buch nicht vor –, umgekehrt kommen ganz neue Referenzpunkte hinzu. Dies ist bisweilen irritierend, aber insofern auch potentiell anregend.

Bojesens Bemühungen, Bildung von Derrida inspiriert als nicht-humanistisch zu denken, ist nicht neu. Für Leser*innen, die insbesondere mit den deutschsprachigen Diskussionen vertraut sind, mag vor allem die Wahl der Bezugstheoretiker*innen sowie die Nutzung psychoanalytischer Konzepte anregend und die Lektüre mithin gewinnbringend sein. Insofern Bojesens „Forms of Education“ den (zumindest: meinen) Eindruck verwischen konnte, die herausragende Stellung des Humanismus im Bildungsdenken sei eine besonders deutsche Angelegenheit, ist die Lektüre womöglich sogar selbst horizonterweiternd.

[1] Koller, H.-C. (2011). Bildung Anders Denken: Einführung in die Theorie Transformatorischer Bildungsprozesse. 2., überarb. Aufl. Kohlhammer.
Kai Wortmann (Tübingen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Kai Wortmann: Rezension von: Bojesen, Emile: Forms of Education, Rethinking Educational Experience Against and Outside the Humanist Legacy. Abingdon: Routledge 2020. In: EWR 21 (2022), Nr. 4 (Veröffentlicht am 11.11.2022), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978103208319.html