EWR 11 (2012), Nr. 4 (Juli/August)

Norm Friesen
The Place of the Classroom and the Space of the Screen
Relational Pedagogy and Internet Technology
New York, Bern etc.: Lang 2011
(183 S.; ISBN 978-1-4331-0959-1; 27,90 EUR)
The Place of the Classroom and the Space of the Screen Seit dem Internet-Boom der Jahrtausendwende scheinen die Hoch-Zeiten emphatischer Visionen zum digitalen Lehren und Lernen sowie die entsprechenden Reaktionen in Form von Verfalls- und Untergangsprognosen vorĂŒber zu sein. Auf allzu optimistische PlĂ€doyers fĂŒr die Einrichtung von „Cyber-Akademien“, die Abschaffung der Schule und des professionellen Lehrberufs, wie sie kĂŒrzlich wieder der „Internetphilosoph“ David Gelernter kundgetan hat, antwortet die MedienpĂ€dagogik mittlerweile mit aufgeklĂ€rter Skepsis. Gleichwohl sind differenzierte Analysen zu den Möglichkeiten und Grenzen des Online-Lernens rar. Norm Friesen gelingt es mit seiner Studie, diese LĂŒcke zu schließen. Der Inhaber des Forschungslehrstuhls fĂŒr E-Learning Practices in Kamloops/Canada vergleicht systematisch die zeitlichen, rĂ€umlichen und leiblichen Lernerfahrungen in Online-Settings wie Moodle und Blackboard mit denen im konventionellen „offline-modus“ des Klassenraums. Er kommt zu dem Schluss, dass insbesondere die „interkorporal“-leibliche und „relational“-intersubjektive Dimension des Lernens im Online-Lernen stark vernachlĂ€ssigt wird. Die nuancierten, „ambiguosen“ und differenzierten Möglichkeiten sprachlicher, leiblicher und intersubjektiver Kommunikation im Antwortgeschehen lebensweltlicher Begegnungen können im Online-Modus nicht eingeholt werden.

Friesens Studie ist allerdings weit mehr als eine genuin medienpĂ€dagogische Untersuchung. Sie bewegt sich vielmehr im Feld der Philosophy of Education. Das methodische und epistemologische Instrumentarium Friesens stammt aus der PhĂ€nomenologie. Friesen gibt erstens einen Einblick in die empirische Verfahrensweise der PhĂ€nomenologischen Deskription der van Manen-Schule, die im englischsprachigen Raum deutlich bekannter ist als in Europa. Die hermeneutisch-phĂ€nomenologische Methodologie der „Anekdote“, des „hermeneutischen Interviews“ und des „indwelling“ werden von Friesen beispielhaft vorgefĂŒhrt und zu ihren Wurzeln in der Utrechter Schule (Langeveld, Buytendijk) verfolgt.

DarĂŒber hinaus wird schon in der Einleitung deutlich, dass Friesen mit der Orientierung an der PhĂ€nomenologie der Lebenswelt des spĂ€ten Husserl, der Technikkritik des spĂ€ten Heidegger, der LeibphĂ€nomenologie Merleau-Pontys und der Hermeneutik Gadamers sowie der ethischen PhĂ€nomeno-Philosophie LĂ©vinas’ eine erziehungsphilosophische Perspektive eröffnet. Diese konkretisiert Friesen in den letzten Kapiteln, indem er einen Ausblick auf eine leibphĂ€nomenologisch justierte „Philosophie der Stille“ und schließlich auf eine relationale PĂ€dagogik entwirft. Friesens Entwurf stemmt sich gegen die aktuelle empiristische „Neue Sprache des Lernens“ (G. Biesta, 57) und die damit verbundene Technologisierung, Funktionalisierung und EntpĂ€dagogisierung der Erziehung, nicht nur im Online-Lernen.

Das Buch gliedert sich in vier Teile und acht Kapitel. Teil 1 und 4 sind grundlagentheoretischen, methodologischen und erziehungsphilosophischen Fragen gewidmet. Das Ziel des Buches, die unterschiedlichen Lernerfahrungen online und offline deskriptiv zu erfassen, wird erziehungs- und bildungsphilosophisch gerahmt. Dazu fĂŒhrt Friesen zunĂ€chst eine Kritik des informationstheoretischen Kommunikationsmodells mit den Mitteln der hermeneutischen Sprachphilosophie Gadamers und der Technikkritik Heideggers (Stichwort: „Gestell“) vor (Kap. 1). Das Untersuchungsfeld wird dann phĂ€nomenologisch justiert, indem der Fokus erstens auf die intersubjektiven und interkorporalen (Merleau-Ponty) und zweitens auf die lebensweltlichen Erfahrungen (Husserl, van Manen) scharfgestellt wird (Kap.2). Erfahrung wird als ein ereignishafter Prozess gefasst, der sich einem informatorischen, generalisierenden und kalkulierenden Zugriff entzieht (28). Die lebensweltlich-leibliche Analysekategorie des Ortes wird von dem abstrakt-geometrisierenden Begriff des Raumes strikt unterschieden („Space versus Place“, 30ff). In einer Sprachanalyse der leitenden Begriffe des Internet- und E-Learning-Diskurses zeigt Friesen ihren metaphorischen Gehalt auf, der BrĂŒche und Differenzen zwischen Technologie und Erziehung einschleift. Die generalisierende und spezialisierende Sprache des Empirismus entstamme der behavioristischen und kognitivistischen Tradition. Friesen stellt dieser eine hermeneutisch-phĂ€nomenologische Betrachtung der Sprache gegenĂŒber, die die relationale Beziehung zwischen den Beteiligten und ihre Erfahrungen in den Mittelpunkt rĂŒckt. Sprache wird damit als Sinn- und ÜberschussphĂ€nomen in Relationen („phenomenological ‚surplus‘ in language“, 68f), nicht als Informations- oder Kommunikationsmedium bedeutsam (Kap. 3).

In Teil 2 und 3 finden sich die empirischen Untersuchungen zur Differenzierung der Lehr-Lernerfahrung online und offline. Friesen zeigt im vierten Kapitel „Screen and Classroom: Time, Space, and Body“, dass sowohl physische als auch virtuelle bzw. fiktionale Erfahrungen im Lernen online wie offline gemacht werden. Eine simple Opposition der Lernerfahrungen verbietet sich daher. Allerdings zeigt die interkorporale face-to-face Situation im Klassenraum eine deutlich höhere AmbiguitĂ€t und FlexibilitĂ€t als es das statische und funktionale Design im Onlineraum zulĂ€sst. Im fĂŒnften Kapitel untersucht Friesen die interkorporalen Erfahrungen in der Lehr-Lernsituation am Beispiel des im US-amerikanischen Biologieunterricht verankerten und vielfach kontrovers diskutierten Themas der „Frog-Dissection“ (Sezieren eines toten Frosches) und seines virtuellen Pendants in Form eines Onlinekurses dazu. Im gemeinsamen Sezieren des Frosches in der Klasse werden durchaus ambivalente Erfahrungen gemacht: Unannehmlichkeit, Belastung und Unterbrechung („inconvenience, encumbrance, disruption“, 107). Es zeigt sich jene AmbiguitĂ€t, die nach Friesen einen „important, constitutive part of the shared, intersubjective life-world“ (95) darstellt. Im entsprechenden Online-Kurs zur Frog-Dissection, den Friesen in Form einer Selbsterfahrung vorfĂŒhrt, fehlen solche Erfahrungsmodi. Mit den Techniken der „De-Humanisierung und De-Animalisierung“ (96) werden lebensweltliche „Objekte“ in hyperreale Objekte verwandelt und damit in eine leibliche, sinnliche und handwerkliche Distanz gerĂŒckt. Friesen zufolge aber stellt fĂŒr eine relationale PĂ€dagogik gerade der „ambiguous mode of existing“ (125) die entscheidende QualitĂ€t dar: „The expressive power of the body is much more variable, direct, potent, and at the same time ambiguous, than the more explicit and sometimes pre-set indications about identity and selfhood permitted online” (125).

Friesen entfaltet im 7. und 8. Kapitel das Konzept der relationalen PĂ€dagogik anhand der Kategorien „style“ (Stil), „tone“ (Ton, Takt) und „gender“. Diese fĂŒhren ihn zu einer Philosophie der Stille und des Schweigens („philosophy of silence“) und einer pĂ€dagogischen Praxis der Stille und des Schweigens („praxis of silence“), in der Schweigen als ein ambivalentes, sinnhaftes und Sinn konstituierendes Antwortgeschehen am Maßstab leiblicher, interpersonaler Beziehung entfaltet wird. Deutlich wird, dass im Online-Modus Schweigen allenfalls als Nicht-Kommunikation wahrgenommen werden kann, alle anderen Bedeutungsmodi, etwa das „bedeutsame Schweigen“ in seiner interpersonalen Ambivalenz, fallen weg. Interessant in diesem Zusammenhang sind Friesens Bemerkungen zur negativen Erfahrung im Lernen („negative capability“ [Dewey)] 146), die sich gerade in ambiguosen Situationen der ReversibilitĂ€t und RelationalitĂ€t offenbarten. Aus der Aufmerksamkeit fĂŒr PassivitĂ€t gewinnt Friesens Analyse der Stille und des Schweigens ihre Überzeugungskraft.

Trotz dieser interessanten Differenzierung bleibt in Friesens PhĂ€nomenologie der Leiblichkeit und RelationalitĂ€t der Begriff der Erfahrung und der der Lebenswelt merkwĂŒrdig blass und unausgefĂŒhrt. Es bleibt offen, wie sich zeitliche, körperliche, rĂ€umliche und intersubjektive Erfahrungen unterscheiden, in welchem systematischen und praktischen VerhĂ€ltnis sie zum Lernen stehen und – vor allem – wie sich diese einmal erworbenen Erfahrungen pĂ€dagogisch verĂ€ndern lassen. Diese Desiderate erscheinen umso merkwĂŒrdiger, als dass sich mit Heidegger, Gadamer und Dewey fĂŒr Friesen ein Zugang zur Analyse der Erfahrung im Lernen eröffnet hĂ€tte (Stichwort: NegativitĂ€t). Aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive gesehen ist es darĂŒber hinaus problematisch, schulische Erfahrungen mit lebensweltlichen Erfahrungen gleichzusetzen, basiert doch schulisches Lernen gerade darauf, das lebensweltliche Wissen und Können zu transformieren, also das zu ĂŒberschreiten, was lebensweltlich erfahren werden kann. Überhaupt fehlt dem deskriptiv-verstehenden Zugang Friesens die erziehungstheoretische Dimension im engeren Sinne. Antworten auf Fragen danach, welche UmstĂ€nde, Arrangements oder Handlungsformen eine ambiguose und responsive Lehr-Lerninteraktion begĂŒnstigen, werden nicht gegeben. So bleibt schließlich unklar, welche pĂ€dagogische Bedeutung jene von Friesen so sensibel analysierte „Stille“ im Unterricht hat und welche handlungstheoretischen Konsequenzen daraus gezogen werden könnten.

Das mag auch daran liegen, dass Friesen Erfahrung normativ an den leiblichen und personalen Vollzug bindet. Aus grundlagentheoretischer Perspektive gesehen, gerĂ€t Friesen so in die Gefahr einer Ontologisierung lebensweltlicher und Hypostasierung leiblicher Erfahrung, die als normatives Residuum der UrsprĂŒnglichkeit, AuthentizitĂ€t und PrĂ€senz die gesamte Studie durchzieht. Das fĂŒhrt erstens zu einem binĂ€ren Oppositionsschema im Dual von Lebenswelt vs. Technik, QualitĂ€t vs. QuantitĂ€t, AmbiguitĂ€t vs. Funktionalismus. Überschneidungen und Ambivalenzen zwischen den technologischen, bildungsphilosophischen und lerntheoretischen Diskursen, also Ambivalenzen, fĂŒr die Friesen sonst große Aufmerksamkeit entwickelt, können so nicht erfasst werden. Friesen gerĂ€t damit zweitens in das Fahrwasser der traditionellen Anthropologie. Denn trotz Betonung von AmbiguitĂ€t und Differenz bleibt Friesens Erfahrungsanalyse am Maßstab der Einheit und Einheitlichkeit orientiert und reproduziert ein personales Menschenbild. Differenzielle anthropologische Konzepte, die in der phĂ€nomenologischen Erziehungswissenschaft und in aktuellen Bildungs- und Erziehungstheorien stark vertreten sind, bleiben ausgespart. Schließlich fĂŒhrt der Primat der ontologischen, leiblichen Erfahrung zu einem methodologischen Problem, da Friesen mit der Maßgabe, die „shared experiences and meanings to explicit and reflective attention“ (34) zu bringen, davon ausgeht, dass alles, was erfahrbar auch verstehbar, und alles, was verstehbar auch sagbar ist. Das „Implizite“ in der Erfahrung sowie das Nicht-Sagbare gerade im Nicht-Wissen und Nicht-Können der „negative capability“ kann so gar nicht gesehen werden. Friesen lĂ€uft Gefahr, retrospektiv erhobene und ex post rationalisierte Daten im Interview oder im Internet-Chat als ursprĂŒngliche und authentische Erfahrungen zu hypostasieren. Eine konsequent angewendete phĂ€nomenologische Reduktion im Sinne einer skeptischen Einklammerung der eigenen ontologischen und methodologischen Vorannahmen (vgl. 41) hĂ€tte vielleicht dazu beitragen können, diese normativen Implikationen abzuschwĂ€chen.

Friesens Buch kann trotz dieser EinwĂ€nde fĂŒr PĂ€dagogen, Medien- und Erziehungswissenschaftler von großem Interesse sein. Friesen differenziert das Thema Online- und E-Learning auf bisher ungekannte Weise. Er gibt wichtige Impulse fĂŒr eine kritische Neubetrachtung von Erfahrungen im E-Learning. Das Buch ist darĂŒber hinaus ein wichtiger Beitrag zur empirischen PhĂ€nomenologischen Erziehungswissenschaft. Friesen fĂŒhrt exemplarisch die hermeneutisch-phĂ€nomenologische Methodologie der van Manen-Schule vor. Schließlich kann er mit dem Konzept der relationalen und responsiven PĂ€dagogik weit ĂŒber sein Untersuchungsgebiet ausgreifen und Impulse fĂŒr eine international orientierte Bildungs- und Erziehungsphilosophie „zwischen den Kontinenten“ setzen.
Malte Brinkmann (Ludwigsburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Malte Brinkmann: Rezension von: Friesen, Norm: The Place of the Classroom and the Space of the Screen, Relational Pedagogy and Internet Technology. New York, Bern etc.: Lang 2011. In: EWR 11 (2012), Nr. 4 (Veröffentlicht am 02.08.2012), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978143310959.html