EWR 10 (2011), Nr. 3 (Mai/Juni)

Charles Bingham / Gert Biesta
Jacques Rancière: Education, Truth, Emancipation
With a New Essay by Jacques Rancière
London: Continuum 2010
(170 S.; ISBN 978-1-4411-9095-6; 29,99 EUR)
Jacques Rancière: Education, Truth, Emancipation Mit „Jacques Rancière: Education, Truth, Emancipation“ legen Charles Bingham und Gert Biesta eine Sammlung von Aufsätzen vor, die sich mit der erziehungsphilosophischen Bedeutung des politischen Denkers Jacques Rancière befassen. Das Buch lässt sich als Problematisierung soziologischer und psychologischer Theoretisierungen des pädagogischen Verhältnisses lesen. In der politischen Bestimmung der Emanzipation liegt ein verändertes pädagogisches Verhältnis begründet und damit auch ein verändertes Verständnis der „Lernenden“ und von „Schule“. Das Buch enthält neben sechs Aufsatzbeiträgen (die zum Teil bereits in Zeitschriften publiziert worden sind) einen Essay von Rancière in der englischen Übersetzung von Bingham sowie ein kurzes Schlusskapitel.

Das Buch wird eröffnet mit dem Essay von Rancière: Hier werden verschiedene Motive des provokativen wie anregenden Buches „Der unwissende Lehrmeister“ aufgegriffen und vertieft. Rancière stellt im „unwissenden Lehrmeister“ den historischen Fall des J. Jacotot vor, der das lehrte, worin er selbst unwissend war. Im Zentrum des vorliegenden Essays steht ebenfalls die „Emanzipation“ – in kritischer Entgegensetzung zur Verdummung der Lernenden durch Erklärungen, da diese implizierten, dass die Lernenden nicht selbst in der Lage seien zu verstehen. Als soziale Logik betrifft die Verdummung nach Rancière nicht nur pädagogische Praxen im engeren Sinn. Sie betrifft beispielsweise auch die Sozialtheorie und -forschung, die uns zu erklären beabsichtigt, was der Fall ist – wie Rancière kritisch unter Rekurs auf Bourdieus „Reproduktionslogik sozialer Ungleichheit“ erläutert. Diese erkläre mit dem Reproduktionsmechanismus sich selbst im Verhältnis zu dieser Reproduktion und weist den Hörenden ihren Ort zu, z.B. den entsprechend ausgebildeten Lehrern ihren Platz als Sozialforscher, Lehrer und aufgeklärte Bürger. Der unwissende Lehrmeister beginnt – so Rancière – das Lehren nicht aus der Überlegenheit der Erklärung des Stoffes oder der pädagogischen Situation, sondern mit dem Postulat der Gleichheit aller Intelligenzen. Die folgenden Beiträge von Bingham und Biesta machen es sich nun zur Aufgabe, diese These zu erschließen und ihre pädagogische Reichweite zu prüfen.

Der Beitrag „A New Logic of Emancipation“ (Kap. 2) befasst sich mit eben jenem Abhängigkeitsverhältnis, das Emanzipationspraxen inhärent ist. Ausgehend von einer Rekonstruktion des pädagogischen Emanzipationsdenkens der abendländischen Tradition arbeiten die Autoren historisch-systematisch deren „Logik“ heraus: Die Emanzipation stelle eine Intervention von außen dar, die dem zu Emanzipierenden widerfahre und die daher zuletzt auf seiner Unfähigkeit bzw. Ungleichheit beruhe. Mit Rancière entwickeln die Autoren eine demokratietheoretische Alternative. Diese bestimme Emanzipation als einen ereignishaften Prozess, in dem Ordnungszusammenhänge im Sozialen (die „Aufteilung des Sinnlichen“) überschritten würden, etwas sichtbar würde, was zuvor nicht gesehen oder gehört werden konnte.

Im Beitrag „The Figure of the Child in Jacques Rancière and Paulo Freire“ (Kap. 3) wird das Lernen der Muttersprache als zentrale Referenz für diese andere Logik der Emanzipation eingeführt. Den Autoren geht es dabei nicht um eine Naturalisierung bzw. Psychologisierung des Lernens. Vielmehr zielen die Ausführungen darauf ab, den Spracherwerb als einen „politischen Prozess“ zu deuten, da das Kind in diesem „seine Stimme gewinne“. Dieser Gesichtspunkt wird durch eine vergleichende Bezugnahme auf die „Pädagogik der Unterdrückten“ nach Paulo Freire, deren Ziel die Befreiung der Subjekte in einem psychologischen Sinne ist, weiter ausgeführt. Entscheidend sei im Befreiungsmodell Freires, dass die Räume des Sprechens – Befreiung oder Unterdrückung – bereits vermessen seien. Dem Sprechen des Kindes eigne eine Beliebigkeit und Unverfügbarkeit, die eine Differenz zur gelebten Ordnung impliziere.

Mit der Frage nach der Inklusion und ihrer Bedeutung für demokratische Prozesse werfen die Autoren im Folgebeitrag „Inclusion in question“ (Kap. 4) eine wichtige Frage auf, da der Anspruch der „Inklusion“ seit einigen Jahren im Zusammenhang einer Anerkennung der Pluralität bzw. Vielfalt breit in der Erziehungswissenschaft diskutiert wird. In ihrem Beitrag analysieren die Autoren, auf welche Weise Inklusion als etwas Realisierbares gedacht wird. Die beiden hier diskutierten Antwortoptionen – zum einen der Rang der Interessen bzw. Bedürfnisse und zum anderen die Nachvollziehbarkeit und Verhältnismäßigkeit der Ansprüche (nach Young) – führen die Autoren zu der Feststellung, dass der Anspruch der Inklusion in der demokratischen Erziehung von Voraussetzungen abhängig ist, die einen ausschließenden Charakter entfalten. Die Forderung der Inklusion bedarf daher einer kritischen Reflexion dieses Ausschlusses ebenso wie der Reflexion der Unterscheidung von „Innen“ und „Außen“, die im Sprechen über Inklusion wie selbstverständlich geführt wird. Mit Rancière wird hier ein Denken erprobt, das die Demokratie nicht als „Normalsituation“ inauguriert, sondern als ein Projekt begreift, das die Differenz in die existierende Ordnung einträgt: „For a child to vote, it will not suffice to simply add the child’s name to the number of those who can vote. The political predicates ‚child’ and ‚voter’ must themselves become open to dispute. The point of politics, after all, is about the reconfiguration of the space‚ where parties, parts, or lack of parts have been identified“ (83, Hervorh. i.O.).

Dass im darauffolgenden Beitrag „Recognition’s Pedagogy“ (Kap. 5) gegenwärtige Theorien der Anerkennung (Fraser vs. Honneth) eine kritische Sichtung erfahren, lässt sich als konsequente Fortführung des vierten Kapitels begreifen. Die in beide Richtungen (Fraser und Honneth) formulierte Kritik bezieht sich auf das Verständnis der Anerkennung mit ihren normativen Ansprüchen. Gegen diese suchen die Autoren Bezug nehmend auf das politische Denken Rancières geltend zu machen, dass sie auf einer theoretischen Schließung beruhen – durch die Art und Weise, wie die Ansprüche der Anerkennung durch eine Moralpsychologie oder durch den Verweis auf gegebene soziale Konflikte als einholbar erscheinen. Die Anerkennung erhält, so argumentieren Bingham / Biesta, einen definiten Ort bezogen auf den sozialen Raum. Das sei auch daran erkennbar, dass die genannten Theorien selbst als politische Einsätze gedacht werden müssen, da mit ihnen eine „Lehre“ der Anerkennung verbunden sei: „Political philosophy in the form of the debate over recognition is itself a form of pedagogy, a part of the project of education and the intervention of the sciences of the individual and collective soul“ (101). Diese grundsätzlichen Überlegungen zur „Pädagogisierung der Gesellschaft“ münden zum einen in ein verändertes Selbstverständnis sozialer bzw. politischer Theorie und zum anderen in die (auch für die eigene Unternehmung paradoxe) Frage, ob und wie eine „Anerkennung“ ohne eine „Lehre“ möglich ist.

Der Beitrag „Truth in Education, Truth in Emancipation“ (Kap. 6) analysiert die verschiedenen Wahrheitsbegriffe pädagogischer Ansätze. Traditionsbezogene Ansätze („traditional education“) stellten die Wahrheit als etwas Gemeinsames dar, das die Lernenden erreichen müssten, während die Wahrheit in der progressiven Erziehung („progressive education“) als etwas von allen zu Teilendes gelte, das der Erfahrung der Einzelnen entsprechen können müsse (111). Im kritischen Modell sei demgegenüber die Wahrheit im Auffinden der gesellschaftlichen Ungleichheitsverhältnisse verortet. Bingham / Biesta wollen mit ihrer Bezugnahme auf Rancière den Zusammenhang von Wahrheitsbegriff und Lehr-/Lernpraktiken weiter verfolgen. Auch hier läuft die Argumentation darauf zu, „Sprechen“ bzw. „Sprache“ in ihrem Differenzverhältnis zur Wahrheit zu entwickeln: „This quintessential sentense, ‚Do you understand‘?, is altogether common in educational situations, that is, in explanatory situations. Yet, it is altogether mistaken as it presents truth as given to us, as something that needs only to be understood throught explanation“ (123). Ausgehend von diesen Überlegungen entwickeln Bingham / Biesta zum Ende des Kapitels Rancières Kritik an den soziologischen Beschreibungen der Schule von Bourdieu / Passeron, deren Wahrheitsanspruch ein totaler ist.

Die Reflexionen des Wahrheitsproblems im sechsten Kapitel stoßen die Leser und Leserinnen auf die unvermeidlichen Fragen, auf welche Weise die pädagogische Wirklichkeit gefasst werden kann und wer die Beteiligten in dieser sind. Im Beitrag „Learner, Student, Speaker“ (Kap. 7) wird diese Frage reflexiv gewendet, erneut ohne die dahinter stehende Problematik aufzulösen, wie explanatorisch dargelegt werden könne, was der Fall ist. Der Einsatzpunkt dieses Beitrages ist die Frage, wie die „Subjekte“ der Erziehung genannt werden sollen. Von einem Lerner zu sprechen, impliziere ein Defizit („lack“, 134), an dessen Stelle in Jacotots Lehrexperiment ein „Studierender“ trete, der sich keiner anderen Intelligenz, sondern nur dem Willen des Lehrmeisters unterwerfe (137ff). Bingham / Biesta gehen noch einen Schritt weiter zum „Sprechenden“, an dem nochmals die Figur der Subjektivierung als Deidentifizierung entwickelt wird.

Im Schlusskapitel werfen Bingham / Biesta die Bedeutung Rancières für das Erziehungsdenken auf und pointieren die Kritik der Methodisierung und Instrumentalisierung, wie sie Rancière in „Der unwissende Lehrmeister“ entwickelt hat. „The point here is quite simply that Rancière’s educational work is not a recipe for any kind of pedagogy“ (152). An Rancière sei weder mit einem neuen Ansatz kritischer Pädagogik noch mit einer dezidierten Schulkritik anzuschließen, da es ihm um eine allgemeine soziale Logik gehe (153). Der Grundsätzlichkeit der Argumentation entspricht mithin keine Lehre bzw. starke Position bezüglich der Erziehungstheorie, der Schule oder dem pädagogischen Verhältnis. Am Ende steht nach Bingham / Biesta vielmehr eine kritisch-reflexive Öffnung dessen, was „Schule“ heißen kann.

Das Buch von Charles Bingham und Gert Biesta macht Rancières Emanzipationsdenken einer breiteren (englischsprachigen) Leserschaft zugänglich. Der Vorzug des Buches liegt darin, eine verständliche erziehungsphilosophische Argumentation zu entwickeln, die in ihrem „Erklären“ zugleich verbindlich und reflexiv ist. Gerade dadurch gelingt es den beiden Autoren, nicht nur den anderen Zugang zum pädagogischen Gegenstand, sondern auch zu dessen Theoretisierung einzuholen. In dieser doppelten Bedeutung der Reflexion pädagogischer Gegenstandskonstitution dürfte das Buch für den deutschsprachigen Diskurs der Erziehungs- und Bildungsphilosophie von besonderem Interesse sein.

Es gibt auch Kritisches anzumerken. Da sind erstens die Polarisierungen und Generalisierungen, welche die Autoren einsetzen, um ihr Projekt zur Geltung zu bringen. So lässt sich das weite Feld der Emanzipationsdiskurse sicherlich nicht mit der Gegenüberstellung von traditioneller und neuer Logik der Emanzipation fassen. In diesem Sinne ist auch zu fragen: Warum wird gerade auf Freire Bezug genommen, um die Differenz zu Rancières Emanzipationsdenken heraus zu arbeiten? Und: Wie wird Freires Ansatz als emanzipatorischer Ansatz von den Autoren dargelegt? Zweitens: Dass sich das Buch in der Beschreibung des Einsatzes von Rancière durchgängig der Semantik des Neuen, Anderen, Anregenden etc. bedient, ist vor allem dort hinderlich bzw. befremdlich, wo es bereits mannigfache Diskussionsbezüge zum Besprochenen gibt. Beispielsweise liefert Foucault mit der „Desubjektivierung“ eine ähnliche Kategorie der Reflexion der Differenz von Subjekt und Macht. Oder: Wieso werden nicht Theorien der Anerkennung berücksichtigt, welche die Machtförmigkeit dieses Prozesses herausstellen? Die andere Seite dieses Kritikpunktes ist, dass die Kritik an Autoren wie Honneth und Bourdieu nicht hinreichend durch eine Lektüre dieser Autoren gestützt wird, was gemessen an der Bedeutung dieser Autoren (zumindest für die deutschsprachige Pädagogik und Erziehungswissenschaft) erforderlich wäre.

Bingham und Biesta sind sich der Reichweite ihrer Überlegungen durchaus bewusst. Dass sie am Ende den eigenen theoretischen Einsatz reflexiv ausweisen und die Leser auffordern zu sprechen, befördert das Interesse, eben dieses zu tun.
Christiane Thompson (Halle / Saale)
Zur Zitierweise der Rezension:
Christiane Thompson: Rezension von: Bingham, Charles / Biesta, Gert: Jacques Rancière: Education, Truth, Emancipation, With a New Essay by Jacques Rancière. London: Continuum 2010. In: EWR 10 (2011), Nr. 3 (Veröffentlicht am 22.06.2011), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978144119095.html