EWR 8 (2009), Nr. 2 (März/April)

Schlüsselwerke der Pädagogik

Klaus Prange
Schlüsselwerke der Pädagogik
Band 1: Von Plato bis Hegel
(Grundriss der Pädagogik/Erziehungswissenschaft Bd. 25)
Stuttgart: Kohlhammer 2008
(256 S.; ISBN 978-3-17-019605-6; 18,00 EUR)
Klaus Prange
Schlüsselwerke der Pädagogik
Band 2: Von Fröbel bis Luhmann
(Grundriss der Pädagogik/Erziehungswissenschaft Bd. 26)
Stuttgart: Kohlhammer 2008
(264 S.; ISBN 978-3-17-019607-0)
Schlüsselwerke der Pädagogik Schlüsselwerke der Pädagogik Eine überzeugende Idee: die Klassiker lesen, die andernorts in Sammlungen von Heiligenlegenden vorgestellt werden. So ganz neu ist sie nicht, im Gegenteil: Zur Zeit des Studiums von Autor und Rezensenten war das die thematische Mitte von deren Studium der Erziehungswissenschaft: ein historisch-systematisches Studium nannte man das damals. Sokrates, Platon, Cicero, Pestalozzi, Schiller, Dewey sind mir seit den Seminaren bei Josef Derbolav gute, alte Bekannte (Cicero mag Prange nicht, „das bleibende Vorbild der Redekunst“ lamentiert ihm zu viel; Quintilian ist es, den er uns an seiner Stelle vorstellt, weil der die politisch funktionslos gewordene Rhetorik pädagogisiert hat). Und, um das zu ergänzen: die Lektüre auf Schlüsselwerke konzentriert, nicht readerweise in Häppchen von Auszügen aus allerlei Texten, die die besagten Heiligen hinterlassen haben, wie das dem heutigen Geschmack eher entspräche.

Über die alten Bekannten hinaus stellt Prange uns auch weniger bekannte Leute vor: z.B. Benedikt von Nursia, Thomas von Aquin, Ignatius von Loyola, Johann Michael Sailer, dazu Thomas Elyot und Roger Asham – Steckenpferde des anglophilen Anglisten im 1. Band. Im 2. Band ist das etwas anders, denn da treffen Vertreter meiner Generation auf ihre Lehrer. Das ist nicht verwunderlich, ist doch Herbart, einer der Ersten in diesem Band, als „Gründervater der Erziehungswissenschaft“ anzusehen, der es unternommen hat, „das Erziehungsdenken und die Erziehungserfahrung zu systematisieren“ (II 27).

Über die Auswahl brauchen wir nicht zu streiten, de gustibus non est disputandum: Die ‚Hauptwerke’ sollen – systematisch gesehen – „etwas Wesentliches über Erziehung und Lernen“ enthalten, das „Verständnis einer bestimmten Form und Absicht des Erziehens“ erschließen und eine „geschichtliche und traditionsbildende Wirkung“ gehabt haben. Dazu kommen „Präferenzen und Vorlieben des Verfassers sowie auch Wünsche des Auditoriums“ (I 10) – die Studien gehen nämlich auf einen Zyklus von Vorlesungen zurück; schon hier sei gesagt, dass man das ihnen auch auf Schritt und Tritt anmerkt.

Der Zweck der Lektüre? „[W]ir wollen wissen, ob das, was sie [die Alten] sagen, vertretbar ist oder nicht, ob sie recht haben oder nicht“ (I 12). Halt: Wenn das so ist, müssen wir Leser nicht nur lesen, sondern auch entscheiden können, was richtig ist. Andererseits sollen die „Werkportraits“ „dazu beitragen, dass eine Reihe jener pädagogischen Reflexionen nicht auf der Strecke bleibt, die uns die Sprache der Erziehung gelehrt und einen Schlüssel zu ihrem besseren Verständnis gegeben haben“ (I 13). Das scheint ein Widerspruch zu sein, ein Widerspruch in sich, eine contradictio in adiecto. Ist es nicht, denn wir haben hier nur den hermeneutischen Zirkel vor uns, in dem jede Auslegung eines Texts befangen ist.

Allerdings muss man wohl unterscheiden: Der Autor als Autor, nicht seinerseits als Leser, hat einen Begriff von Erziehung, der zum Beispiel seine Auswahl leitet und der ihn eben auch Recht und Unrecht unterscheiden lässt. Er muss wissen, was Sache ist, andernfalls hätte er das Recht zu unserer Belehrung nicht. Bei uns, den Lesern, ist das anders: Uns will er die Sache allererst vermitteln. Damit das klappt, muss er an das anknüpfen, was ein gedachter, durchschnittlich kenntnisreicher Leser schon weiß, was dann im gemeinsamen Gang der Gedanken verbessert werden mag. „Wer anderen etwas beibringen, sie belehren, oder moralisch aufbessern, kurz: sie erziehen will, hat sich auf deren Fassungskraft und Lernfähigkeit einzustellen“, heißt es gleich zu Beginn (I 14). Da haben wir den Begriff von Erziehung, den man zu Beginn erwartet. Prange definiert ihn zwar nicht ausdrücklich, und das ist nicht nett, denn „für ein vernünftiges Gespräch braucht man Definitionen“ (I 23). Aber man kann ihn leicht aus dem eben Zitierten erschließen. Wie man da sieht und aus vielen seiner Schriften weiß, hat Prange den denkbar weitesten: „Handeln wird oder ist dadurch pädagogisch resp. erzieherisch, dass es sich auf Lernen bezieht und es zu bestimmen sucht.“ [1] Darauf will ich mich einlassen, wenn es mir auch schwer fällt, und zum Inhalt übergehen.

Dazu muss ich doch noch einmal auf die Auswahl zurückkommen, nicht der Autoren, sondern der Texte. Da stehen Pestalozzis Stanser Brief und Benners Allgemeine Pädagogik einander gegenüber; da findet man die Ordensregeln des heiligen Benedikt (auf 2 Seiten die Überschriften aller 73 Regeln, danach auf einer Seite gut verständlich zusammengefasst; I 56ff.) ebenso wie Mollenhauers Theorien zum Erziehungsprozess und Harm Paschens Logik der Erziehungswissenschaft. Proseminar und Oberseminar, wenn man so will – und die Schlüsseltexte selbst nimmt. Pranges Interpretationen hingegen vermitteln mir eher das Gefühl, dass man überall etwa gleich gut oder auch nicht so gut mitkommt, Mittelseminar also. Wie macht er das? Zunächst einmal dadurch, dass er, entgegen den Erwartungen, die der Titel weckt, nur etwa zur Hälfte seiner Interpretationen auf die Schlüsselwerke selbst eingeht. Im Übrigen zieht er recht ausführlich Textstellen aus anderen, einschlägigen Werken der Autoren, gelehrtes Wissen heran, über das er in überwältigend reichem Maße verfügt. Zudem scheut er sich auch nicht, ausgiebig von alltäglich Verfügbarem Gebrauch zu machen: Redensarten oder Analogien heran zu ziehen, Beispiele zu geben und Vergleiche anzustellen, was immer sich so anzubieten scheint. Prange-Leser kennen diesen sehr eigenen Stil.

Eine weitere Erleichterung des Verständnisses sehe ich darin, dass gar zu widerspenstige Stellen schon mal unberücksichtigt bleiben: die Dialektik bei der Frage nach der Tugend im Menon zum Beispiel ebenso wie dieselbe als grundlegende Methode bei Schleiermacher. Bei Rousseau lässt Prange den Emile und den Gesellschaftsvertrag, Menschen und Bürger, am Ende unvermittelt als Widerspruch neben einander stehen und verzichtet auf das 5. Buch, in dem Rousseau eine – dialektische! – Vermittlung versucht. Das düstere Fragment einer Fortsetzung des Romans, des Scheiterns von Rousseaus Gedankenexperiment, übergehen allerdings nicht nur er, sondern die meisten Interpreten. Aber warum sollte er auch nicht?

Natürlich kann man nicht in einem Absatz oder gar Satz die Quintessenz von Kommentaren zu 39 Schlüsseltexten fassen. Aber einen roten Faden gibt es schon, dem man folgen kann: In den Texten finde „sich etwas von dem Weg, den das Thema der Erziehung in den letzten zwei Jahrhunderten genommen hat. Die Fragen der unmittelbaren Erziehung [die im 1. Band im Vordergrund stehen; P.M.] sind Zug um Zug hinter allgemeineren Gesichtspunkten zurückgetreten und das Bewusstsein für die disziplinspezifischen Probleme hat zugenommen.“ (II 11f.) Darüber hinaus sieht man, auch ohne dass Prange das irgendwo zusammenfassend sagte, wie sich für ihn das Thema darstellt, ich jedenfalls lese ihn so: Der zentrale Begriff scheint mir der der Ordnung zu sein, die Ordnung der Dinge wie der Gedanken und der menschlichen Einrichtungen – von der Ordnung des Kosmos bis zu der im Klassenzimmer. Gestiftet wird sie von der Vernunft, auf keinen Fall jedenfalls von einer nur dem Glauben zugänglichen Offenbarung. So kann er mit Schleiermacher, dem „Kompromisskopf“ (II 64; ein auf subtile Weise ziemlich böses Prädikat, nicht einmal Google kennt es; so einer ist übrigens auch Asham, „immer in der Mitte schwimmend, Einseitigkeiten meidend“, I 89), kann er mit dem am Ende nichts Rechtes anfangen. So wie „das Denken die Tiefe der [sc. göttlichen; P. M.] Botschaft nie ganz ausschöpfen“ kann, so ist die vorgängige Erziehungspraxis mit der ihr von Schleiermacher und dann den ganzen geisteswissenschaftlichen Pädagogen zugesprochenen Dignität dem theoretischen Zugriff nur begrenzt zugänglich. Anders gesagt: Die „faktisch existierenden Lebensformen“ können „kein Maß ihrer selbst“ sein (II 66).

Das Kapitel, in dem ich die Wertschätzung von Ordnung als einer grundlegenden Kategorie am eindrücklichsten dargestellt finde, ist das über Durkheim – Ordnung und Disziplin, genauer gesagt. Und da reklamiert Prange wiederum das Lernen, das dem Erziehen entspreche. Und er zieht den „Schluss […], dass weder Soziologie [so Durkheim; P. M.] noch Psychologie [sc. so die einseitigen Lerntheoretiker; P. M.] ein zureichendes Fundament für die Pädagogik darstellen“ (II 130). Man brauche beide, aber wie ihr Stellenwert für die Pädagogik zu bestimmen sei – da belässt Prange es bei einem leider nichts Weiteres sagenden Verweis auf die Systematische Pädagogik.

Man mag fragen, was ihm an den katholischen Autoren so gefällt, dass er sie bedeutend wohlwollender vorstellt als deren evangelische Stiefbrüder in Christo: von Benedikt über Thomas, Ignatius, ja, auch Sailer bis zu Willmann. Abgesehen von ihrer allerdings theologisch begründeten Wertschätzung der Ordnung geben die der Vernunft ihr Recht, wenn es auch klar begrenzt ist: Im ausdrücklichen Rückblick auf Thomas und Ignatius spricht er Sailer zwar – in wohlwollender Diktion – „die tiefe Überzeugung zu, dass Natur, menschliche Vernunft und Kultur nicht gott- und geistverlassen sind, sondern durchzogen von den verdeckten und verschütteten Spuren der Transzendenz, die es aufzudecken und freizulegen gilt“ (I 209) – nicht aber gehe für ihn die Vernunft in der Transzendenz auf, sie hat ihre eigene Dignität.

Prange sagt nicht, für welche Leser er schreibt: angehende Profis, von denen er in der Einleitung zum 2. Band schreibt? Ja, wahrscheinlich, und zwar die in ihrer Ausbildung wie die Studenten in seinen Vorlesungen. Im Blick auf diese Adressaten bin ich etwas unglücklich. Lesen sie etwa Prange-Pestalozzi, so könnten sie auf den irrigen Gedanken kommen, sie hätten den Pestalozzi nun. Lesen sie daraufhin dessen Stanser Brief, so könnte es sein, dass ihnen Pranges ausführliche Erörterung des „Ethos der Liebe“ und die nachhaltige Kritik daran (I 193-196) einen einigermaßen unvoreingenommenen Zugang verbaut haben. Ich will nicht ausschließen, dass das bei den meisten anderen Texten so ähnlich ablaufen könnte. Das war, um auf den Anfang zurück zu kommen, jedenfalls in meinen Studium seinerzeit noch anders: mit dem Finger am Text des Originals entlang, und das auch im Oberseminar.

Aber vielleicht denkt Prange eher doch an Unsereinen? Jedenfalls geht er mit uns nicht eben zimperlich um. Bei Schiller konnte ich mir noch auf die Schulter klopfen: „Wer diese [Kants] drei Kritiken nicht liest, hat nicht studiert“ (I 164) – habe ich, wenn es auch schon lange her und nicht mehr viel davon übrig ist. Aber anlässlich des berühmten Zitats aus Fichtes Einleitung in die Wissenschaftslehre – „Was für eine Philosophie man wähle, hängt davon ab, was für ein Mensch man ist“ – zieht er so vom Leder, dass auch ich mich wegducken muss: „Der Leser möge […] seine Auffassungen und Gedanken, die ihm wesentlich sind, daraufhin prüfen“– gut, das mag ja noch angehen, aber „nein, er prüfe lieber die Auffassungen seiner Bekannten und meinetwegen auch seiner Lehrer und Dozenten, dann lässt sich ermitteln, was für Menschen das sind“ – meinetwegen auch dies, können wir’s denn anders ermitteln? Aber nun kommt’s: „welchen Charakter sie haben, ja ob sie überhaupt einen haben und nicht bloß gelehrten Luxus schätzen und in Eitelkeit gekrümmte Charaktere sind, ängstliche Datensammler des Positivismus oder noch ängstlichere Studenten der Quellenandacht und hermeneutischer Exerzitien, oder ob sie rebellionsbereite Agenten der kritischen Vernunft und bekenntnisfreudige Verteidiger der aufgeklärten Vernunft sind“ (I 231 f.). Nur selten wird es so heftig, aber Seitenhiebe von dieser Art gibt es immer wieder. Ich bin nicht sicher, ob sie etwas zur Sache beitragen.

Wie auch immer: Was geben uns die beiden Bände? Ich meine, es ist zuerst und vor allem das Ergebnis eines Bildungsganges, an dem der Autor uns teilhaben lässt. Er führt uns an seinen Bücherschrank, nimmt die Bände und Bändchen in die Hand, die ihm besonders am Herzen liegen, und erzählt dazu – nicht immer konzentriert, aber allemal belehrend und anregend. Man muss ja nicht immer seiner Meinung sein.

[1] Prange, Klaus /Strobel Eisele, Gabriele (2006): Die Formen des pädagogischen Handelns. Eine Einführung. Stuttgart: Kohlhammer. S. 13.
Peter Menck (Siegen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Peter Menck: Rezension von: Prange, Klaus: Schlüsselwerke der Pädagogik, Band 1: Von Plato bis Hegel (Grundriss der Pädagogik/Erziehungswissenschaft Bd. 25). Stuttgart: Kohlhammer 2008. In: EWR 8 (2009), Nr. 2 (Veröffentlicht am 27.03.2009), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978317019605.html