EWR 10 (2011), Nr. 1 (Januar/Februar)

Sieglind Luise Ellger-Rüttgardt / Grit Wachtel (Hrsg.)
Pädagogische Professionalität und Behinderung
Herausforderungen aus historischer, nationaler und internationaler Perspektive
Stuttgart: Kohlhammer 2010
(233 S.; ISBN 978-3-1702-1295-4; 29,00 EUR)
Pädagogische Professionalität und Behinderung Der Titel des vorliegenden Sammelbandes weckt Erwartungen. Erwartungen, welche mit den intendierten oder nicht-intendierten Assoziationen mit dem viel beachteten erziehungswissenschaftlichen Reader über Pädagogische Professionalität von Arno Combe und Werner Helsper aus dem Jahre 1996 zusammenhängen. Folgt nun der auf Behinderung sensibilisierte Erweiterungsband? Eine weitere Serie von Untersuchungen zum Typus pädagogischen Handelns, jetzt aber unter Einbezug der sozial- und kulturwissenschaftlichen Schlüsselkategorie der Behinderung? Leider nein – und obwohl es damals, folgt man Ulrich Oevermann, ziemlich gut aussah für die Sonderpädagogik: „Es ist [...] nicht verwunderlich, wenn tatsächlich Tendenzen zur Professionalisierung pädagogischer Praxis am ehesten im Bereich der Sonder- und Heilpädagogik zu beobachten sind“. Oevermann meinte damit, dass sich pädagogische Berufe – im Zentrum seiner Ausführungen steht der Lehrberuf – nur dann vollständig professionalisieren ließen, wenn neben den beiden Funktionen der Wissens- und Normvermittlung die therapeutische Dimension als Sorge um die psychosoziale Integrität von Schülerinnen und Schülern im langen Übergang von diffusen zu distinkten öffentlichen Sozialbeziehungen in ihr Recht gesetzt würde. Er sagt mit Blick auf das Verhältnis von Pädagogik und Sonderpädagogik: „Weil nämlich tatsächlich das Selbstverständnis der Normalpädagogik sich auf die Funktion der Wissens- und Normvermittlung beschränkt und die therapeutische Dimension ihrer Praxis ausblendet, kommt es zur bezeichnenden Differenzierung von Normal- und Sonderpädagogik“.

Der vorliegende Sammelband schließt nicht an diese Diskussion an, der Aufsatz von Oevermann wird in keinem Beitrag diskutiert und insofern stellt er auch keiner für das Autor-innen-kollektiv bedeutsame Referenz dar. Das ist ein Mangel, behauptet der Rezensent, und der Mangel eröffnet eine günstige Perspektive, um die (allzu) beschränkte Reichweite des Sammelbandes sichtbar zu machen. Entstanden ist der Sammelband im Nachgang zum internationalen Kongress „Pädagogische Professionalität und sonderpädagogische Kompetenz vor neuen Herausforderungen“, der aus Anlass von 60 Jahren akademischer Lehrerinnen- und Lehrerbildung für Sonderpädagoginnen und Sonderpädagogen vom 15.-17. November 2007 an der Humboldt-Universität zu Berlin stattfand. Der Band gliedert sich in vier Teile, die der vierfachen Zielsetzung des Kongresses entsprechen. Die Herausgeberinnen formulieren wie folgt: „Er wollte zum ersten die Anschlussfähigkeit der gegenwärtigen Professionalisierungsdebatte thematisieren, indem er die historische Dimension beleuchtet, um daran anschließend sich der gegenwärtigen Debatte um (sonder)pädagogischer Professionalität zuzuwenden. Das dritte Anliegen bezieht sich auf die Einbeziehung der internationalen Perspektive, die schließlich viertens durch einen Ausblick auf zukünftige Herausforderungen pädagogischer Professionen erweitert wird“ (8).

Im historischen Teil datiert Heinz-Elmar Tenorth den Ursprung der Sonderpädagogik – oder wie auch immer diese Referenz zu nennen sei (16) – auf die Entdeckung der Bildsamkeit auch unter erschwerten Bedingungen im 18. Jahrhundert zurück. Er fragt, warum ganz offensichtlich „aus der produktiven Idee des Ursprungs nicht eine stetige und sich selbst strukturierende Geschichte geworden ist“ (23). Und er sieht die Ursache hauptsächlich in mangelnder Theoretisierung und Reflexivität. Sieglind Luise Ellger-Rüttgardt thematisiert in ihrem ebenfalls historischen Beitrag die Dynamik zwischen Professionellen und ihrer Klientel. Es handle sich um ein Verhältnis, so sei zu vermuten, „das immer aufs Neue auszuhandeln und nie konfliktfrei verlaufen wird, denn die universelle Gültigkeit von Bildsamkeit ist nur durch Prozesse der Partikularisierung zu erreichen und dazu gehört auch die Existenz einer sonderpädagogischen Profession“ (37). Was damit gemeint sein könnte, wenn es so ist, lässt sich am Beitrag von Andrea Erdély und Katalin Radvány spiegeln. Sie berichten aus der Geschichte der ungarischen Heilpädagogik, deren Kennzeichen als Wissenschaft die bis heute vertretene Konzeption einer „ganzheitlichen, eigenständigen Disziplin“ (41) sei. Im Unterschied dazu nehmen sie die Situation der deutschsprachigen Sonderpädagogik als, wie sie apostrophieren, „‚Appendix’ der Erziehungswissenschaften“ (44) kritisch wahr. Der schweizerisch-ungarische Beitrag von Ursula Hoyningen-Süess und Csilla Schiffer geht in eine ähnliche Richtung und spricht mit Blick auf werkgeschichtliche Verwandtschaften zwischen Texten der Autoren Heinrich Hanselmann, Theodor Heller und Zoltán Tóth von einer „schweizerisch-ungarische(n) Ausrichtung der sonderpädagogischen Theoriebildung“ (62), die sie gegen „(reform)pädagogische Grundlegungen“ (62) in Stellung bringen. Die Beiträge von Christian Stöger zur Erziehungsanstalt Levana 1856-1858 und jener von Thomas Barow über Ausbildung von Sonderpädagoginnen und Sonderpädagogen in Schweden 1911-1959 schließen den historischen Teil mit zwei Detailstudien zur Institutionalisierung von Sonderpädagogik ab.

Die ersten beiden Beiträge des zweiten Teils, der eine von Ewald Terhart, der andere von Vera Moser, referieren zwei Diskurszusammenhänge, die für die geweckten Erwartungen von grundlegender Bedeutung sind. Zum einen geht es um die Professionalität von Lehrpersonen im Kontext von Heterogenität. Terhart erschließt die relevanten konzeptionellen Unterscheidungen und empirischen Studien der neueren Professionsforschung und formuliert damit Herausforderungen für eine Diskussion, die sich unbeschränkter Heterogenität annimmt. Zum anderen geht es um eine zeitgeschichtliche Sichtweise auf bildungspolitische und –systemische Praktiken im Kontext einer langen Chancengerechtigkeits- und Integrationsdiskussion. Moser fragt nach der Verortung sonderpädagogischer Professionalität und sonderpädagogischer Handlungsstrategien angesichts von systemischen Widersprüchen im Kontext von Förderung und Selektion.

Die nachfolgenden Beiträge im zweiten Teil sowie jene im dritten und vierten Teil des Sammelbandes fokussieren Spezialfragen, die sich mitunter eher zufällig im Rahmen der im Titel des Sammelbandes angekündigten Professionalitätsdiskussion bewegen. Die Beiträge über Ausbildungsinhalte und –strukturen sind dabei besonders hervorzuheben, erschließen sie doch Kategorien der Gestaltung von Professionalität.

Die Publikation weckt, aber erfüllt nicht die ihn sie gesetzten Erwartungen. Der Band bleibt, eventuell als Folge des Anlasses, zu dispers, zu wenig schreiben sich die Beiträge „transdisziplinierenden“ Optionen der Problembearbeitung ein, nur schon die erziehungswissenschaftliche Diskussion, wie sie in den Beiträgen von Moser und Terhart repräsentiert wird, ist nicht ausgeschöpft. Besonders kritisch zu vermerken sind die historiographischen Konstruktionen von Sonderpädagogik, wie sie sich – namentlich bezogen auf Ungarn – finden. Vielleicht täuscht der Subtext, aber der Rezensent wird den Eindruck nicht ganz los, dass Wissenschaftsvorstellungen, die bereits in den 1950er Jahren nicht mehr funktionierten, besser: diskreditiert waren, proto-perspektivisch angeboten werden.

Die nicht erfüllten Erwartungen leisten aber mehr als nur Kritik, die man als Artefakt falscher Erwartungen darstellen und in der Folge auch negieren könnte. Der Mangel ist – im Sinne von Jacques Lacan – zugleich eine Quelle des Begehrens, eine strukturelle Voraussetzung wissenschaftlicher Kreativität. Der im Sammelband verhandelte Gegenstand – Pädagogische Professionalität und Behinderung – ist als Projekt noch zu haben. Und es wäre nötig, sich ihm zu widmen, sollte die Sorge der Vetragsstaaten der UN-Behindertenrechtskonvention darüber, „dass sich Menschen mit Behinderungen [...] in allen Teilen der Welt nach wie vor Hindernissen für ihre Teilhabe als gleichberechtigte Mitglieder der Gesellschaft sowie Verletzungen ihrer Menschenrechte gegenübersehen“ (UN-Behindertenrechtskonvention, zitiert aus der Schattenübersetzung Netzwerk Artikel 3.e.V.) in der Sonderpädagogik analytische und empirische Folgen haben sollen.
Jan Weisser (Basel)
Zur Zitierweise der Rezension:
Jan Weisser: Rezension von: Ellger-Rüttgardt, Sieglind Luise / Wachtel, Grit (Hg.): Pädagogische Professionalität und Behinderung, Herausforderungen aus historischer, nationaler und internationaler Perspektive. Stuttgart: Kohlhammer 2010. In: EWR 10 (2011), Nr. 1 (Veröffentlicht am 16.02.2011), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978317021295.html